# taz.de -- Zwangsbehandlung in der Psychiatrie: Das Dilemma der Ärzte | |
> Eine UN-Konvention und Gerichtsurteile haben die Rechte psychisch Kranker | |
> gestärkt. Ärzte sind verunsichert, was sie jetzt noch dürfen. | |
Bild: Für Spritzen wird heute niemand mehr festgehalten | |
BERLIN taz | Die berufstätige Akademikerin hatte ihren Mann in die | |
Genitalien getreten und den Schreibtisch ihres Chefs umgeworfen. | |
Schließlich landete sie in der psychiatrischen Universitätsklinik München. | |
Medikamente lehnt sie in ihrem hocherregten Zustand ab. Vor 25 Jahren | |
hätten wahrscheinlich zwei Pfleger die Frau auf einem Stuhl festgehalten, | |
ein Arzt hätte eine Spritze gesetzt. Doch die Zeiten haben sich geändert. | |
„Solche Behandlungen wie früher gibt es heute nicht mehr“, sagt Peter | |
Falkai, der den Fall schildert. Falkai ist Chef der psychiatrischen | |
Universitätsklinik in München und Präsident der deutschen | |
Psychiatergesellschaft DGPPN. Die hat am Donnerstag ein Memorandum | |
vorgelegt, in dem sie „neue gesetzliche Regelungen“ fordert zur Frage, wie | |
man denn nun medizinisch mit PatientInnen umgehen soll, die aufgrund von | |
Wahnideen in eine Klinik gebracht wurden, sich selbst aber nicht als | |
behandlungsbedürftig erachten. | |
Die Rechtsunsicherheit ist größer geworden, nachdem die | |
UN-Behindertenrechtskonvention und Gerichtsurteile die | |
Selbstbestimmungsrechte Behinderter gestärkt haben. Ein Urteil des | |
Bundesgerichtshofes im Juni verbot Zwangsbehandlungen psychisch Erkrankter, | |
die unter Betreuung stehen. Das Psychisch-Kranken-Gesetz (PsychKG), das | |
sich je nach Bundesland unterscheidet, gestattet Zwangsbehandlungen etwa in | |
Nordrhein-Westfalen nur bei akuter Gefahr für das Leben und die Gesundheit | |
der Eingewiesenen oder dritter Personen, und das auch nur kurzzeitig. | |
Falkai schilderte den Fall einer 52-jährigen Krankenschwester, die wegen | |
einer akuten Psychose mit ausgeprägtem Verfolgungswahn in die Klinik kam. | |
Die Patientin stimmte zwar dem Krankenhausaufenthalt zu, lehnte aber | |
Neuroleptika wegen ihrer Vergiftungsängste ab. Schließlich wurde sie in ein | |
Pflegeheim verlegt. Oftmals werden unbehandelte Patienten auch entlassen. | |
Nicht selten landeten sie nach kurzer Zeit wieder in der Klinik, sagte | |
Falkai. | |
Medikamente wie Neuroleptika haben allerdings starke Nebenwirkungen. Und | |
auch wenn regelrechte Zwangsbehandlungen selten geworden sind, empfinden | |
Patientenvertreter dennoch hohen Druck, die Medikamente zu akzeptieren. Ina | |
Weber, Sprecherin des Bundesverbandes der Psychiatrie-Erfahrenen (BPE) und | |
selbst ehemalige Klinikpatientin, erklärte im Gespräch mit der taz, oft | |
würden eingewiesene PatientInnen auf den psychiatrischen Stationen | |
„erpresst“, damit sie die Medikamente akzeptierten. „Mir schildern Anrufer | |
Fälle, wo man den Leuten gesagt hat: Wenn ihr die Medikamente nicht nehmt, | |
dann kriegt ihr keinen Ausgang, keine Gruppentherapie, keinen Sport oder | |
könnt nicht bei der Musiktherapie mitmachen.“ | |
## Körperverletzung oder Hilfeleistung? | |
Der Patientenverband lehnt Zwangsbehandlungen aller Art ab. Weber verwies | |
auf die Möglichkeit, eine Patientenverfügung zu erstellen, an die sich | |
Psychiater im Ernstfall halten müssten. In dieser Verfügung könne man | |
festlegen, dass man im Krisenfall bestimmte Medikamente nicht oder nur in | |
einer bestimmten Dosierung wolle. | |
In Patientenforen, etwa dem „bipolar-forum“, sind die Meinungen allerdings | |
geteilt. Dort tobt über die „Zwangsbehandlung“ ein Streit. Nicht wenige | |
Patienten finden eine erzwungene Behandlung richtig, um etwa eine wahnhafte | |
Phase medikamentös zu durchbrechen. | |
Falkai erklärte, die Ärzte befänden sich inzwischen in einem „Dilemma | |
zwischen einer als Körperverletzung gewerteten Zwangsbehandlung und | |
unterlassener Hilfeleistung“. Er forderte Gesetze für einen | |
Maßnahmekatalog, mit dem man uneinsichtigen Patienten begegnen könne. | |
„Dieser Katalog kann eine bestimmte Zahl von Gesprächen beinhalten, die | |
Teilnahme an einer psychoedukativen Gruppe, dann kann man in einem zweiten | |
Schritt die Gabe eines Schlafmittels vorschlagen und dann in einem dritten | |
Schritt die Verabreichung von Neuroleptika“, meint der DGPPN-Präsident. | |
Laut Statistik kommen etwa 10 Prozent der jährlich über 1,2 Millionen | |
Patienten in psychiatrischen Kliniken nicht freiwillig, sondern werden | |
zwangseingewiesen. Von diesen Patienten, deren Unterbringung von einem | |
Richter genehmigt worden sein muss, käme es bei 10 Prozent zu | |
Zwangsbehandlungen, so der Psychiater. | |
19 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
Barbara Dribbusch | |
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