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# taz.de -- Essay zu den Sozialprotesten in Europa: Für einen europäischen Fr…
> In Europa beschneiden Eliten die Rechte von Arbeitern, Rentnern,
> arbeitslosen Jugendlichen und der Mittelschicht. Der neue Klassenkonflikt
> spaltet den Kontinent.
Bild: Gespalten: Telefonica-Angestellte protestieren, Manager schauen zu.
„Wir sind auf der Straße, um gegen das Gesetz zu protestieren, das die
Finanzmittel für die öffentlichen Schulen zusammenstreicht. Wie kann es
weitergehen für uns, wenn wir nicht einmal genügend Schreibbänke in unserer
Schule haben?“, rechtfertigt ein Schüler in Turin seine Beteiligung an den
europaweiten Streiks der vergangenen Woche.
Und Susanna Camusso, die Generalsekretärin von CGIL, Italiens größter
Handelsgewerkschaft, argumentiert: „Was im letzten Jahr von der Regierung
getan wurde, bürdet die Lasten den Arbeitern auf, trifft die Schwächsten,
die immer ärmer werden, am härtesten. Arbeit und Sozialpolitik bezahlen den
höchsten Preis für die Handlungen der Regierung.“
Natürlich haben wir in den vergangenen zwei, drei Jahren erlebt, wie junge
Leute in Madrid, Tottenham oder Athen gegen die Auswirkungen der
neoliberalen Sparpolitik protestierten und auf ihr Schicksal als verlorene
Generation aufmerksam machten. Aber diese Demonstrationen waren noch dem
Dogma des Nationalstaats verhaftet. Die Menschen wehrten sich in einzelnen
Ländern gegen eine deutsch-europäische Sparpolitik, die von ihren
Regierungen umgesetzt wird. Doch was in der letzten Woche geschah, ist neu:
40 Gewerkschaften in 23 europäischen Ländern riefen gemeinsam zum „Tag der
Aktion und Solidarität“ auf.
Die stärksten Proteste fanden auf der Iberischen Halbinsel statt.
Portugiesische und spanische Arbeiter schlossen Schulen, brachten den
öffentlichen Verkehr zum Erliegen und unterbrachen den Flugverkehr in
diesem ersten europäisch koordinierten Generalstreik. Zwar sprach der
spanische Innenminister von „isolierten Protesten“ – aber allein in Madrid
wurden 82 Personen verhaftet und 34 verletzt, 18 davon waren Polizisten.
Die europaweiten Proteste brachen gerade zu dem Zeitpunkt hervor, als viele
glaubten, Europa hätte endlich eine Patentlösung für die Eurokrise
gefunden: Die Europäische Zentralbank beruhigt mit ihrem Versprechen, im
Zweifelsfall die Bonds der verschuldeten Staaten aufzukaufen, die Märkte.
Was den Schuldnerländern „nur“ noch zu tun übrig bleibt, so die Verheißu…
ist, noch mehr und noch tiefer greifende Sparauflagen zu erfüllen – die
Voraussetzung für die Gewährung von Krediten der Zentralbank –, dann werde
alles gut.
Aber die technokratischen Propheten dieser „Lösung“ vergaßen, dass es um
Menschen geht. Diese erleben die Sparpolitik, mit der Europa derzeit auf
die von den Banken ausgelöste Finanzkrise reagiert, als ungeheuerliche
Ungerechtigkeit. Für den Leichtsinn, mit dem Banker unvorstellbare Summen
verpulvert haben, sollen nun Mittelklasse, Arbeiter, Rentner und vor allem
junge Menschen in der baren Münze ihrer Existenz bezahlen.
## Beispiellose Umverteilung
Der transnationale Umverteilungsprozess von oben nach unten ist
beispiellos. Und der daraus entstehende Migrationsdruck wird in Deutschland
auch noch zynisch gefeiert: „Motivierte Spanier lernen Deutsch für einen
Arbeitsplatz – Integrationswille pur“, meldet stolz die Frankfurter
Allgemeine Zeitung.
Dass Spanien, Griechenland, Portugal, aber auch Italien und Frankreich von
europaweit gewerkschaftlich organisierten Streiks erschüttert werden, ist
kein Votum gegen Europa. Die Bilder von Wut und Verzweiflung besagen
vielmehr: Es ist höchste Zeit, den Spieß umzudrehen! Wir brauchen nicht
länger Bail-outs für Banken, sondern einen sozialen Rettungsschirm für das
Europa der Arbeiter, der Mittelklasse, der Rentner, vor allem aber der
nachwachsenden Generation, die an den verschlossenen Toren des
Arbeitsmarkts rüttelt. Ein solches solidarisches Europa würde in den Augen
der Bürger nicht länger deren eigene Werte verraten. Sollen Arbeiter,
Rentner und Jugendliche Europa als etwas erleben, was für sie Sinn ergibt,
muss die Devise lauten: Mehr soziale Sicherheit durch ein anderes Europa!
Wir befinden uns in einem schwierigen historischen Augenblick, in dem wir
uns noch einmal die treffende Definition des Begriffs „Krise“ des
italienischen marxistischen Philosophen Antonio Gramsci vor Augen führen
sollten. Demnach ist die Krise der Moment, in dem die alte Weltordnung
abstirbt und eine neue gegen Widerstände und Widersprüche erkämpft werden
muss. Genau das erleben wir heute: Eine Gleichzeitigkeit von Zusammen- und
Aufbruch, eine Kollision gegensätzlicher Zukunftsbilder von einem Europa,
in dem wir leben wollen – oder eben gerade nicht.
Den EU-Staaten Südeuropas droht der kollektive Abstieg in der
Welt(markt)hierarchie, der Verlust von Souveränität und die
Institutionalisierung von Kontrollen, die von den Bevölkerungen als
nationale Demütigung empfunden werden. Im Zuge der Sparpolitik wurde ein
Überwachungssystem geschaffen, mit dem die Normen der „guten“
Haushaltsführung auf nationaler und kommunaler Ebene durchgesetzt werden.
Das Sparregime sieht bindende Entscheidungen gegen den Widerstand von
Einzelstaaten vor.
Entsprechend wird ein Policy Mix propagiert, wonach niedrige Inflation,
ausgeglichene Haushalte, Abbau von Handelshemmnissen und Devisenkontrollen,
maximale Freiheit für das Kapital, minimale Arbeitsmarktregulierung und der
Abbau wohlfahrtsstaatlicher Rechte auf Ausbildung, Renten oder
Krankenversorgung durchgesetzt werden sollen, die zumindest in Europa lange
Zeit als unantastbar galten.
Gleichzeitig erzeugt das Dogma der Sparpolitik – der US-Ökonom Paul Krugman
spricht von „Europe’s austerity madness“ – bislang das Gegenteil dessen,
was es verspricht: Es schafft keine Stabilität, sondern verschärft und
verallgemeinert Instabilitäten. Die Annahme, dass der Euro zusammenbricht,
wird zur Normalität. Statt Arbeitsplätzen entsteht Arbeitslosigkeit. Das
„Prekariat“, das heißt fragile, unsichere Beschäftigung, wird allgemein.
Große Armut und großer Reichtum entstehen innerhalb und zwischen
Gesellschaften. Die gewalttätigen Unruhen auf den Straßen der Hauptstädte
Europas sind ein Zeichen: Halt!
Die sozialen „Kollateralschäden“ der rigiden Sparpolitik haben die Grenze
des Zumutbaren überschritten: mit Arbeitslosenzahlen, die das Ausmaß der
Großen Depression erreicht haben, und symbolisiert durch Arbeiter, die der
Mittelklasse angehören, aber im Müll nach Essbarem suchen müssen. Ein
neuartiger, grenzübergreifender Klassenkonflikt spaltet Europa: Die Eliten
in Politik und Wirtschaft setzen die Sparpolitik durch – koste es, was es
wolle, und gegen den Widerstand der Arbeiter, Rentner und arbeitslosen
Jugendlichen. Dabei wird der wohlfahrtsstaatliche Konsens demontiert.
Unantastbare Rechte werden angetastet, ausgehöhlt und abgebaut. Und die
sich selbst überlassene Mittelklasse wird der globalen Konkurrenz
ausgesetzt.
## Vorrevolutionäre Situation
Wir wissen aus der Vergangenheit: Wenn die Menschen das Gefühl haben, sie
hätten nichts mehr zu verlieren, dann bricht die Hölle aus. Anders gesagt:
Der Taifun der Finanz- und Eurokrise fegt über den Kontinent hinweg – und
delegitimiert das System des Risikokapitalismus, das die Werte Freiheit und
Gleichheit verficht, in Wirklichkeit aber Ungleichheit und Ungerechtigkeit
hervorbringt. Das kommt, in der alten Sprache, einer vorrevolutionären
Situation nahe – mit offenem Ausgang.
Die soziale Frage ist zur europäischen Frage geworden, auf die es keine
nationale Antwort mehr gibt. Entscheidend für die Zukunft wird sein, ob
sich diese Einsicht durchsetzt. In der Tat entstünde eine neue Lage, würden
die Streikenden und Protestbewegungen den „kosmopolitischen Imperativ“
beherzigen, also durch die Grenzen hindurch europaweit kooperieren – und
sich gemeinsam nicht für weniger Europa, sondern für ein anderes Europa
einsetzen. Dieses Europa müsste mit Blick auf eine sozialpolitische
Architektur umgebaut und demokratisch neu von unten begründet werden.
Aus der Perspektive der Individuen besteht das Defizit der bisherigen
Europa-Architektur darin, dass bei Wahlen zum Europaparlament nicht
wirklich über die Geschicke Europas entschieden wird. Und selbst wenn über
Politik entschieden würde – es wäre immer noch unklar, mit welchen
finanziellen Mitteln diese dann umgesetzt werden soll. Schließlich ist
Europa – genau das zeigt die Schuldenkrise – auf Geld aus den
Mitgliedsstaaten angewiesen. Insofern brauchte das demokratische, soziale
Europa einen „eigenen Topf“.
Nun kann man sich leicht vorstellen, wie die Bürger reagieren würden,
müssten sie einen Teil ihres Einkommens im Sinne eines solchen
„europäischen Solidarzuschlags“ abgeben. An diesem Punkt könnte nun die
viel diskutierte Finanztransaktionssteuer, eine Bankensteuer oder eine
EU-weite Abgabe auf Unternehmensgewinne ins Spiel kommen. So könnte man
einerseits den entfesselten Risikokapitalismus zähmen und die Verursacher
der Krise für die Folgen haftbar machen. Andererseits würde das soziale
Europa endlich greifbar und handlungsfähig.
Woraus könnte die Macht einer solchen neuen Europabewegung von unten
entstehen? Nötig wäre ein Bündnis der sozialen Bewegungen: der europäischen
Generation Arbeitslos und der Gewerkschaften einerseits – und der
Europa-Architekten in der Europäischen Zentralbank, den politischen
Parteien, nationalen Regierungen und im Europäischen Parlament
andererseits. Damit entstünde eine neue, machtvolle Bewegung, die etwa eine
Finanztransaktionssteuer auch gegen den Widerstand der Wirtschaft und die
Borniertheit der Nationalstaatsorthodoxen durchsetzen könnte.
Diese Bewegung könnte zwei weitere Verbündete für ein anderes Europa
gewinnen: erstens und paradoxerweise die Akteure der globalen Finanzmärkte,
die angesichts eines klaren Bekenntnisses zum sozialen Europa neues
Vertrauen fassen und wieder investieren könnten. Und zweitens die ins
Nationale und Fremdenfeindliche triftenden Bevölkerungen in den
Schuldnerstaaten, die sich im wohlverstandenen Eigeninteresse für das
Projekt eines sozialen und demokratischen Europa engagieren könnten. Für
einen Europäischen Frühling.
23 Nov 2012
## AUTOREN
Ulrich Beck
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