| # taz.de -- Öffentliche Schulen in Spanien: Opfer der Privatisierungspolitik | |
| > Wo die Konservativen an der Macht waren oder sind, boomen private | |
| > Lehranstalten. Öffentliche Schulen hingegen verwahrlosen. | |
| Bild: Demonstration in Madrid gegen die Bildungspolitik (Archivbild von 2013) | |
| Ihr Kampf ist verloren, ihr Protest sinnlos. Dennoch demonstrieren sie | |
| wieder vor ihrer Schule, die letzten übrig gebliebenen Lehrer und Schüler | |
| von La Cañada. Einst zählte die Oberschule in Coslada vor den Toren Madrids | |
| 800 Schüler. Heute sind es nur mehr 72. Dass sie Opfer einer Schulpolitik | |
| sind, die auf Privatisierung setzt und das öffentliche System gezielt | |
| vernachlässigt, wissen sie nur zu gut. Nur wahrhaben wollen sie es noch | |
| nicht. | |
| „Vor drei Jahren hat die Landesregierung uns verboten, neue Schüler | |
| einzuschreiben“, sagt Alberto Sánchez. Der Gewerkschafter fehlt bei keiner | |
| Protestaktion. Auch heute ist er in den großen Pause gekommen, um die | |
| KollegInnen zu unterstützen. Doch viel wird er nicht mehr ausrichten | |
| können. Das Schicksal der Schule ist besiegelt. „Wir sind die letzten zwei | |
| Jahrgänge“, sagt Schülersprecher Jesús Paloma. „Im kommenden Jahr ist es | |
| nur noch die Abiturklasse, und dann ist es ganz aus.“ | |
| Der kleine Haufen ist sich einig. „Das kostenlose öffentliche System soll | |
| nach und nach abgeschafft werden. Es garantiert Bildung für alle, und das | |
| ist nicht im Sinne der konservativen Landesregierung“, sagt Sánchez von der | |
| Gewerkschaft CCOO. Die Umstehenden nicken zustimmend. | |
| Spanien ist nach Belgien das Land mit dem am meisten vernachlässigten | |
| öffentlichen Schulsystem. Rund ein Drittel der SchülerInnen gehen auf | |
| Privatschulen. Entweder auf staatlich finanzierte, an denen die Eltern nur | |
| einen kleinen Beitrag leisten – oder solche, die von den Eltern vollständig | |
| bezahlt werden müssen. Spanien liegt beim Anteil der Privatschüler mit 22 | |
| Prozent weit über dem europäischen Durchschnitt. In Madrid oder im Raum | |
| Valencia gehen sogar fast die Hälfte aller SchülerInnen auf Privatschulen. | |
| Die Oberschule Cañada ist nicht etwa veraltet. Das Zentrum feierte gerade | |
| sein 25-jähriges Bestehen, verfügt über einen Informatiksaal, eine gute | |
| Bibliothek, ein Theater und hatte, als die Schule noch komplett belegt war, | |
| diverse Sport-AGs. | |
| ## Lange Schulwege | |
| Doch dann kam die Krise und mit der Krise die Kürzungen im öffentlichen | |
| Schulsystem. Laut der Gewerkschaft CCOO gingen zwischen 2009 und 2013 | |
| Investitionen im Schulbereich landesweit um 16 Prozent zurück. Schulen | |
| wurden geschlossen, Klassen zusammengelegt oder direkt an Privatschulen | |
| vermittelt. Wer weiter auf eine öffentliche Schule will, muss in Madrid | |
| immer längere Anfahrtswege in Kauf nehmen; und die Klassen sind völlig | |
| überfüllt. Schülerzahlen von 35 und mehr sind keine Seltenheit mehr. Die | |
| staatlich bezuschussten Privatschulen hingegen können die Klassenstärke bei | |
| 20 deckeln – und werden somit für Eltern attraktiver. | |
| Der Boom der Privatschulen hat auch stark mit der Stadtplanung zu tun. Die | |
| Landesregierung stellte ihnen bei der Erschließung neuer Stadtteile | |
| kostenlos Baugrund zur Verfügung. In diesen Gegenden gibt es heute deshalb | |
| meist nur staatlich bezuschusste Privatschulen. Öffentliche Schulen | |
| hingegen werden keine gebaut, auch wenn sich das die Anwohner wünschen. Die | |
| Lizenzen für die meisten Privatschulen gehen an befreundete Unternehmer, an | |
| religiöse Einrichtungen und ultrakatholische Orden. So manche Schule trennt | |
| gar Mädchen und Jungen. | |
| Über die genaue Entwicklung im Land Madrid liegen keine Zahlen vor. Die | |
| Landesregierung veröffentlicht keine entsprechenden Statistiken. Doch ein | |
| Blick auf das Land Valencia – bis zu den letzten Wahlen vor einem Jahr wie | |
| Madrid eine Hochburg der Partido Popular (PP) – zeigt die Folgen der | |
| konservativen Bildungspolitik. Die neue Regierung, aus sozialistischer | |
| Partei und der linksalternativen „Compromis“, die mit der Unterstützung der | |
| Antiausteritätspartei „Podemos“ rechnen darf, veröffentlichte Statistiken, | |
| denen zufolge unter den Konservativen im öffentlichen Schulsystem 834 | |
| Klassen geschlossen wurden, während in den Privatschulen 95 neue Klassen | |
| aufmachten. | |
| ## Schülerstreik in Valencia | |
| Auch hier sind völlig überfüllte Klassenzimmer in den öffentlichen Schulen | |
| die Folge. 2012 kam es deshalb zu einem großen Schülerstreik in Valencia. | |
| Die neue Landesregierung fördert jetzt das öffentliche Schulsystem. Die | |
| Konservativen machen dagegen mobil und organisieren Protestaktionen der | |
| Eltern der Privatschulen. | |
| Dabei waren es nicht die Konservativen, die das heutige Schulsystem | |
| erfanden. Es waren die Sozialisten unter Felipe González, die in den 1980er | |
| Jahren – statt wie ihre Gesinnungsgenossen im restlichen Europa auf den | |
| Ausbau des öffentlichen Schulsystems zu setzen – gezielt Lizenzen für | |
| Privatschulen vergaben. Weitgehend finanziert vom Staat. So sollte der | |
| zunehmende Schulbedarf der Babyboomer gestillt – und gleichzeitig die | |
| katholische Kirche befriedet werden, die ihren Einfluss als | |
| Bildungseinrichtung schwinden sah. | |
| Die Konservativen machten sich daran, die religiösen Schulen und Internate | |
| zu verteidigen und zu fördern. Als die Schulbildung in den 1990er Jahren | |
| dann Ländersache wurde, propagierten sie – dort wo sie regierten – gezielt | |
| die sogenannte Wahlfreiheit der Schule. Schwer integrierbare | |
| Bevölkerungsgruppen und Behinderte wurden jedoch in den Privatschulen nicht | |
| genommen. Dadurch entstand der Mythos der „guten“ privaten und der | |
| „schlechten“ öffentlichen Schulen. Und das obwohl die verbeamteten Lehrer | |
| im Gegensatz zu Privatschullehrern im öffentlichen System streng geprüft | |
| werden. | |
| ## Auf andere Stadtteile ausweichen | |
| Auch in Madrid herrscht diese Wahlfreiheit. Jeder kann sein Kind im ganzen | |
| Stadtgebiet anmelden, früher war dies nach Stadtteilen geregelt. Die Folge: | |
| In Stadtteilen mit einem großen Ausländeranteil werden die staatlichen | |
| Schulen zum Ghetto. Viele spanische Eltern weichen auf andere Stadtteile | |
| aus. | |
| „Die Segregation nach Bildung und Kultur ist ein klassischer Effekt solcher | |
| Schulsysteme“, analysiert in der Tageszeitung El País Antonio Olmedo, | |
| Professor für Bildungspolitik an der Universität Roehampton in London . | |
| „Normalerweise erzielen die segregierten Schulsysteme schlechtere | |
| Ergebnisse. Ein Teil der Bevölkerung schneidet besser ab, doch die | |
| Allgemeinheit nicht.“ So auch in Spanien: Knapp ein Viertel aller | |
| SchülerInnen brechen die Schule vorzeitig ab. Das Land ist damit | |
| Spitzenreiter in der EU. Im konservativen Bildungslabor Valencia verlassen | |
| sogar mehr als ein Drittel die Schule ohne Hauptschulabschluss. | |
| Dass es auch anders geht, zeigt das Nachbarland Portugal. Dort geht die | |
| neue Linksregierung einen anderen Weg. Sie entzieht den Privatschulen dort | |
| gezielt die Finanzierung, wenn es in der Nähe eine öffentliche Alternative | |
| gibt. Im Bildungsministerium in Lissabon forsten sie derzeit die Landkarten | |
| durch. In Portugal sind die Privatschulen die Opfer der staatlichen | |
| Schulpolitik. | |
| 12 Aug 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Reiner Wandler | |
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