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# taz.de -- Mehrsprachigkeit in spanischen Schulen: Kollektiv gegen den Trend
> In Madrid boomen zweisprachige Schulen. Wer nicht in das Programm
> aufgenommen wird, verliert Schüler – oder macht alles anders.
Bild: Auf dem Schulweg in Madrid
Madrid taz | „Wir sind so etwas wie ein gallisches Dorf mitten im
konservativen Schulsystem“, sagt Ana Recover stolz. Die 56-Jährige ist
Lehrerin an einer außergewöhnlichen Schule. Denn die Grundschule Palomeras
Bajas im Madrider Arbeiterstadtteil Vallecas hat weder einen berufenen
Direktor noch wird hier strikt nach den Vorgaben der Bildungsbehörde
unterrichtet.
Stattdessen erlauben sich die Lehrer hier ihre eigenen Unterrichtsmethoden
– und wechseln sich ab als Schulleiter. Wer gerade das Amt ausübt, stellt
seinen Gehaltszuschlag für gemeinsame Aktivitäten zur Verfügung. Was die
Schule noch von vielen anderen Madrider Schulen unterscheidet: An ihr wird
nach wie vor überwiegend auf Spanisch unterrichtet.
Die Zweisprachigkeit boomt in der Hauptstadt – und die konservative
Landesregierung fördert sie massiv, indem sie die Schulen auswählt, die an
dem Programm teilnehmen dürfen. Und das sind allen voran öffentliche
Schulen mit den Konservativen wohlgesinnten Schulleitern und staatlich
subventionierte – meist katholische – Privatschulen. Nachdem Madrider
Eltern ihre Kinder nicht auf die Schule im Stadtteil schicken müssen,
sondern eine in der gesamten Region – zehnmal so groß wie Berlin –
auswählen können, entsteht ein starker Wettbewerb zwischen den Schulen.
Mittlerweile ist jede zweite Schule in Madrid zweisprachig. Künftig sollen
gar die Vorschulen ins Programm eingegliedert werden. Die Grundschule
Palomeras Bajas ist eine der Schulen, die den Druck noch nicht so stark
spüren wie andere „einsprachige“ Schulen. Und das liegt an ihrem Profil.
## Astronauten per Skype
„Wir gehören zu einem Netzwerk von 15 Schulen in der Region Madrid, die
anders arbeiten“, erklärt Ana Recover, die seit 39 Jahren am Palomeras
Bajas unterrichtet. „Innovación educativa“ – „Neuerung der Bildung“ …
die Bewegung, die bereits in den letzten Jahren der spanischen Diktatur,
die 1975 mit dem Tod von General Franco endete, eingeführt wurde. Und das
funktioniert, erklären Recover und ihre Kollegen, durch Basisdemokratie.
Alle Klassen halten regelmäßig Versammlungen ab, auf denen Probleme
besprochen werden. Einmal die Woche treffen sich die Vertreter aller
Klassen, um über Schulorganisation zu sprechen. Jeder kommt mal dran. Die
Lehrer wiederum entscheiden in Vollversammlung über Unterrichtsmethoden.
Wenn er über seinen Unterricht spricht, gerät Recovers Kollege Oscar Aljama
ins Schwärmen: „Die Schüler bekommen einen Arbeitsplan mit Inhalten aus
allen Fachbereichen. Die Kleinen täglich, die Größeren alle zwei Wochen.“
Jeder beschließt selbst, wie er allein oder mit anderen den Plan
abarbeitet. Der Lehrer, ergänzt Recover, ist eher eine helfende
Begleitperson als ein Dozent an der Tafel: „Je weniger ein Lehrer spricht,
um so besser“, zitiert die Lehrerin ihren Lieblingspädagogen, den Franzosen
Célestin Freinet.
Per Skype interviewten die Kinder den ersten spanischen Astronauten. Der
Großvater einer Romaschülerin – Patriarch seine Clans – kam an die Schule
und stand dort Rede und Antwort zu Sitten und Gebräuchen der Minderheit.
„In Sport fragten die Kinder ihre Großeltern, mit was sie einst ihre Zeit
verbrachten“, erzählt Aljama. Die Kinder spielten anschließend Seilspringen
im Unterricht.
„Es ist unglaublich, wie zufrieden meine beiden Kinder nach Hause kommen“,
berichtet Eva Bajo. „Sie lernen mit Begeisterung und berichten, was sie
‚entdeckt‘ haben.“ Die 42-Jährige ist selbst vom Fach. Sie ist
Technologielehrerin an einer Oberschule nur wenige Straßenzüge von der
Palomeras Bajas entfernt. In ihrer Freizeit betreibt sie an der
Kollektivschule die Bibliothek, gehört der „Kommission für Außenkontakte“
an.
„Die älteste Tochter haben wir zuerst in eine der zweisprachigen Schulen
geschickt“, erzählt Bajo. So wie die meisten Eltern achteten Bajo und ihr
Mann auf einen guten Englischunterricht. Alles andere war zweitrangig.
„Fremdsprachen sind ein großes Problem in Spanien, die zweisprachigen
Schulen versprechen, dieses Manko endlich zu lösen“, sagt Bajo. Das jedoch
hat einen Preis. Nach einem Jahr wechselte die Tochter auf die Palomeras
Bajas. „Kann sein, dass sie mehr Englisch gelernt hat als an einer
nichtzweisprachigen Schule“, sagt Bajo. „Aber die Inhalte in den Fächern,
die auf Englisch unterrichtet wurden, kamen zu kurz.“ Statt experimentellem
Lernen wurde in Naturwissenschaften, Geschichte und Erdkunde stur gepaukt.
Lückentexte ausfüllen, auswendig lernen: Für mehr reichen die
Sprachkenntnisse in den ersten Jahren der Grundschule einfach nicht.
„Die Zweisprachigkeit ist sehr attraktiv für die Eltern, aber das System
funktioniert nicht“, ist sich auch Rodrigo J. García sicher. Der Pädagoge
war einst Schuldirektor, arbeitet jetzt in der Schulbehörde und unterhält
einen viel gelesenen Blog auf der Web der Tageszeitung El País. „Fächer auf
Englisch zu unterrichten, ist erst einmal keine schlechte Idee, aber nicht
in den ersten Jahren der Grundschule. Es fehlt den Kindern an Kompetenz
nicht nur in Englisch, sondern oft auch in der Muttersprache“, glaubt
García. Das führe zu Verwirrung und Verständnisproblemen. Oft hätten die
Lehrer selbst nicht die nötigen Englischkenntnisse, um abstrakte Konzepte
gut erklären zu können. Zudem seien Klassenlehrer angehalten, mit den
Kindern ausschließlich auf Englisch zu reden. Es entstehe so eine Art
„Überlebensenglisch“, urteilt García. Aber keine Sprache, mit der die
Kinder etwas anfangen können.
## Andrang trotz Kritik
Schlimmer noch: Das System segregiere die Schüler. „Wer nicht mitkommt,
wird isoliert“, beobachtet García. Es würden „Schulen innerhalb der
Schulen“ entstehen – „die sogenannten Gruppen der Dummen“. Vor allem Ki…
aus einfachen Familien, wo niemand Englisch kann und kein Geld für
Nachhilfe und Sprachakademien da ist, fallen aus dem System. Laut
Elternverbände schmeißen rund ein Drittel der Schüler, die mit sechs Jahren
zweisprachig eingeschult werden, den Füller vorzeitig hin und wechseln an
eine normale Schule. Von offizieller Stelle wird in Madrid gerne auf die
Pisa-Studie verwiesen. Dort schneiden die zweisprachigen Schüler besser ab
als die der anderen Schulen. Jedoch liegt die Vermutung nahe, dass dies mit
der von García beschrieben Segregation zu tun hat.
Und eine Untersuchung der Madrider Universität Carlos III beobachtet gar
Defizite an den zweisprachigen Schulen und spricht von „negativen
Auswirkungen auf den Kenntnisstand der Fächer, die auf Englisch
unterrichtet wurden“. Trotz aller Kritik wollen immer mehr Schulen in das
Programm aufgenommen werden. Das Instituto San Isidro – die älteste
Oberschule Spaniens, an der viele bekannte Literaten und Wissenschaftler
ihr Abitur gemacht haben – ist seit diesem Jahr dabei.
„Die Schüler, die aus der zweisprachigen Grundschule zu uns kommen,
verstehen Befehle, können sich im Schulalltag ausdrücken und einfache
Fachtexte lesen. Früher war das nicht so“, erklärt Direktorin Isabel Piñar
die Entscheidung. „Es gibt viel Kritik am zweisprachigen System, aber die
Plätze an den Schulen gehen weg wie nichts. Dieses Jahr haben sich hier so
viele Schüler versucht anzumelden wie nie zuvor“, fügt sie hinzu.
Das prestigereiche San Isidro ist für ihre gegen die Austeritätspolitik
aktive Lehrerschaft bekannt und passte damit lange nicht ins Raster. „Wären
wir nicht ins Programm aufgenommen worden, hätten wir nur noch die Schüler,
die keiner will“, gesteht Direktorin Piñar am Ende ein.
Auch im Palomeras Bajas wissen sie das. Dort ist der Druck nur
aufgeschoben. An der benachbarten Oberschule, an die die meisten Kinder mit
zwölf Jahren wechseln, wird die Einführung des zweisprachigen Programms
Jahr um Jahr erwogen. „Wenn es dazu kommt, werden die Eltern uns Druck
machen, da sie Angst haben werden, dass wir ihre Kinder nicht ordentlich
vorbereiten“, befürchtet Lehrerin Recover.
Es könnte das Ende dessen sein, was die Palomeras Bajas auszeichnet: eines
Unterrichtskonzepts, das sich an den Schülern orientiert.
25 May 2017
## AUTOREN
Reiner Wandler
## TAGS
Madrid
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Schule
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