# taz.de -- Debatte Agenda 2010 und 2020: Die Mythen um Hartz IV | |
> Der Erfolg der deutschen Wirtschaft hat mit den Reformen nichts zu tun. | |
> Er verdankt sich dem Export deutscher Autos nach China und Indien. | |
Bild: Der deutsche Erfolg hat nichts mit Gerhard Schröder zu tun. | |
Liest man die Kommentare zum zehnjährigen Jubiläum der Agenda 2010, könnte | |
man leicht denken, mit Schröders Regierungserklärung vom 14. März 2003 sei | |
die deutsche Wirtschaft neu erfunden worden. Nach Jahren der Stagnation und | |
der Massenarbeitslosigkeit habe sich Deutschland durch die | |
Hartz-IV-Reformen wie Phönix aus der Asche erhoben und sei nun das Vorbild | |
für alle Länder, die unter Problemen der Wettbewerbsfähigkeit leiden. | |
Unstrittig dürfte sein, dass die Stärke der deutschen Wirtschaft in erster | |
Linie auf seine Industrie und deren hohe Wettbewerbsfähigkeit | |
zurückzuführen ist. Mit seinen Premium-Automobilen und einem technologisch | |
weltweit führenden Maschinenbau war Deutschland optimal positioniert, um | |
der Nachfrage von Ländern wie China oder Indien zu befriedigen. | |
Aber was haben diese Exporterfolge mit Hartz IV zu tun? Kann man ernsthaft | |
behaupten, BMW sei deshalb so stark auf dem chinesischen Markt, weil der | |
Konzern im Zuge der Arbeitsmarktreformen in größerer Zahl Mitarbeiter | |
eingestellt habe, die vor Hartz IV als Langzeitarbeitslose Arbeitslosengeld | |
II beziehen konnten? | |
## Schröder war’s? Nein, China! | |
Nein, der Erfolg der deutschen Wirtschaft hat nichts mit Gerhard Schröder | |
zu tun, sondern vor allem mit der Tatsache, dass Deutschland mit seinen | |
kleinen und mittelständischen Unternehmen wie auch mit vielen | |
Großunternehmen, die sich im Familien- oder Stiftungsbesitz befinden, über | |
eine von Nachhaltigkeit gekennzeichnete Unternehmenslandschaft verfügt. | |
Durch ihre weitgehende Unabhängigkeit vom Kapitalmarkt können es sich viele | |
unserer Unternehmen erlauben, eine langfristig ausgerichtete | |
Unternehmenspolitik zu verfolgen. Dies war und ist ein entscheidender | |
Vorteil gegenüber Unternehmen, die von am kurzfristigen Gewinn | |
interessierten Investoren abhängig sind. | |
So gesehen waren die düsteren Einschätzungen, die man in den Jahren 2003 | |
und 2004 zur Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen vernehmen | |
konnte (vor allem Hans-Werner Sinns „Ist Deutschland noch zu retten?“) | |
klare Fehldiagnosen, die ich schon damals in meinem Buch „Wir sind besser, | |
als wir glauben“ (2005) kritisiert habe. Da unsere Wirtschaft schon vor der | |
Agenda nicht fundamental krank gewesen war, gab es auch nichts | |
Fundamentales zu therapieren. | |
Nun ließe sich argumentieren, man dürfe die Agenda 2010 ja nicht nur im | |
engen Sinne der Arbeitsmarktreformen verstehen. Vielmehr habe sie – nicht | |
zuletzt durch die Liberalisierung der Leiharbeit – zu einer Politik der | |
Lohnzurückhaltung geführt, die wesentlich zu den deutschen Exporterfolgen | |
beigetragen habe. Aber auch dieser Zusammenhang ist alles andere als | |
eindeutig. Bei einem Personalaufwand, der rund 20 Prozent des | |
Gesamtaufwands eines Industrieunternehmens ausmacht, würde ein Luxus-BMW | |
bei um 10 Prozent höheren Löhnen nicht 100.000 Euro, sondern 102.000 Euro | |
kosten. Würde das einen chinesischen Millionär veranlassen, statt des BMW | |
einen Chrysler oder einen Toyota zu kaufen? | |
Und was die Anhänger der Agenda 2010 völlig übersehen, ist die Tatsache, | |
dass die sich Phase der Lohnzurückhaltung bereits im Jahr 2000 eingesetzt | |
hatte, also lange vor der Umsetzung von Hartz IV im Jahr 2005. Und nur zwei | |
Jahre später kam die Trendwende in der Lohnpolitik, die seither einen | |
größeren Teil der zuvor entstandenen Einbußen der Arbeitnehmer kompensiert | |
hat, ohne dass sich das nachteilig auf die Arbeitsmarktentwicklung oder die | |
Exportfähigkeit unserer Unternehmen ausgewirkt hätte. | |
## Beschäftigung? Nur im Osten | |
Auch die Arbeitsmarkterfolge von Hartz IV sind alles andere als eindeutig. | |
Bei einer oberflächlichen Betrachtung könnte man argumentieren, dass es | |
dadurch zu einem Rückgang der Arbeitslosenzahl von über 5 Millionen Anfang | |
2005 auf zuletzt nur noch 2,9 Millionen gekommen sei. Dabei muss man jedoch | |
bedenken, dass die Einführung von Hartz IV die Arbeitslosigkeit statistisch | |
massiv noch oben gedrückt hat und dass sich die deutsche Wirtschaft im | |
Frühjahr 2005 in einem absoluten Konjunkturtief befand. | |
Vergleicht man die heutige Arbeitsmarktsituation mit einem Zeitpunkt in der | |
Vergangenheit, der ebenfalls durch eine gute gesamtwirtschaftliche | |
Auslastung gekennzeichnet war, sieht das Bild schon ganz anders aus. So | |
waren 2012 nur 877.000 weniger Menschen ohne Arbeit als im Januar 2001, | |
wovon der größte Teil auf Ostdeutschland entfällt (638.000). | |
In Westdeutschland gibt es heute nur 230.000 weniger Erwerbslose als im | |
Januar 2001. Hier hat sich im vergangenen Jahrzehnt also gar nicht so viel | |
Fundamentales geändert. Demgegenüber kam es in Ostdeutschland einfach mit | |
der Zeit zum Abbau der durch Vereinigung erzeugten Massenarbeitslosigkeit. | |
## Vorbild für Europa? Nein! | |
Aber selbst wenn man sich der These anschließen würde, dass die Agenda 2010 | |
zur Lohnzurückhaltung geführt habe und dass dies entscheidend für die | |
Erfolge der deutschen Wirtschaft gewesen sei, sollte man sehr vorsichtig | |
sein, dieses Rezept international zur Nachahmung zu empfehlen. | |
Lohnzurückhaltung bedeutet, dass die Reallöhne weniger stark steigen als | |
die Produktivität. Und man setzt darauf, dass der dadurch für die | |
inländische Nachfrage entstehende Kaufkraftverlust durch die stärkere | |
Exportnachfrage mehr als kompensiert wird. | |
In der Tat ist die Inlandsnachfrage in Deutschland von 2000 bis 2007, das | |
heißt in der Phase der Lohnzurückhaltung, kaum noch gestiegen. Die deutsche | |
Lohnzurückhaltung funktionierte damals also nur, weil sich andere Länder | |
großzügige Tariferhöhungen genehmigten, so dass auf diese Weise unsere | |
Exporte deutlich zulegen konnten. Aber wenn alle Länder auf die Idee | |
kommen, über Lohnsenkung wettbewerbsfähiger zu werden, kann das Ganze nicht | |
mehr aufgehen. Man schrumpft sich dann gemeinsam in die Deflation. Genau | |
das droht jetzt dem Euroraum, wenn immer mehr Länder den Versuch | |
unternehmen, durch Lohnunterbietung wettbewerbsfähiger zu werden. | |
Aber die Agenda hat nicht nur wenig genutzt, sie hat auch erheblichen | |
Schaden angerichtet. Der mit den Arbeitsmarktreformen ausgelöste Druck auf | |
Arbeitslose hat dazu geführt, dass der Mindestlohnsektor vor allem in | |
Westdeutschland deutlich gewachsen ist. Der Anteil der | |
Vollzeitbeschäftigten im Niedriglohnbereich ist von 18,5 Prozent im Jahr | |
2004 auf 20,8 Prozent im Jahr 2010 gestiegen. Die Ungleichheit hat in | |
Deutschland stärker zugenommen als in den meisten anderen hochentwickelten | |
Ländern. | |
Was weder Deutschland noch Europa jetzt brauchen, sind weitere „Reformen“, | |
die die Rechte der Arbeitnehmer weiter schwächen. Vielmehr müssen die | |
politischen Weichen so gestellt werden, dass der Wohlstand wieder in | |
stärkerem Maße bei den Arbeitnehmern ankommt. Nur so ist erneut ein | |
Wachstum möglich, das ohne private und staatliche Verschuldungsexzesse | |
auskommt. | |
14 Mar 2013 | |
## AUTOREN | |
Peter Bofinger | |
## TAGS | |
Hartz IV | |
Leiharbeit | |
Gerhard Schröder | |
Agenda 2010 | |
Export | |
Wirtschaftskrise | |
Eurokolumne | |
Jobcenter | |
Hartz IV | |
Agenda 2010 | |
Grüne | |
SPD | |
Mindestlohn | |
Agenda 2010 | |
SPD | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Eurokolumne: Wieselwort Wettbewerbsfähigkeit | |
Was ist das genau, Wettbewerbsfähigkeit? Ähnlich wie bei einem von einem | |
Wiesel ausgesaugten Ei sieht man die Phrase nicht sofort. | |
Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger: Über eine Million Strafen verhängt | |
Die Arbeitsagenturen haben im letzten Jahr 1,025 Millionen Sanktionen gegen | |
Arbeitslose ausgesprochen. Der Höchstwert geht auf gestiegene | |
Meldeversäumnisse zurück. | |
Debatte Hartz IV: In der Paarfalle gefangen | |
Alle kennen den Slogan „Armut ist weiblich“. Das ist kein Naturgesetz, | |
sondern auch der unseligen Arbeitsmarktreform geschuldet. | |
Prostest gegen Agenda 2010: Linke Initiative gegen Leiharbeit | |
Die Bremer Linkspartei bilanziert: Die Sozialpolitik des Kanzlers Schröder | |
hat das Arbeitslosengeld verkürzt und die Leiharbeit legalisiert. Hartz IV | |
brachte mehr Armut. | |
Positionspapier der Linkspartei: Eine soziale „Agenda 2020“ | |
Zum 10. Jahrestag der „Agenda 2010“ erneuert die Linke ihre Kritik an den | |
Reformen. Und sie versucht, sich aus ihrer negativen SPD-Fixierung zu | |
lösen. | |
Grüne und Agenda 2010: Aufgeweichte Erinnerung | |
Jürgen Trittin behauptet plötzlich, die Grünen hätten Hartz IV eigentlich | |
nur zusammen mit Mindestlöhnen gewollt. Das kann leider nur niemand | |
bestätigen. | |
Altkanzler Schröder bei SPD-Fraktion: „Ich bin nicht Moses“ | |
Beim Besuch der SPD-Fraktion lässt sich Gerhard Schröder feiern: für sein | |
Nein zum Irakkrieg und die Agenda 2010. Das Rampenlicht genießt er | |
sichtlich. | |
Kommentar Agenda 2010: Die Würde steckt in den Details | |
Die Konstruktionsfehler der Agenda 2010 wirken bis heute. Zum traurigen | |
zehnjährigen Jubiläum wären daher ein paar Verbesserungen fällig. | |
SPD-Projekt Agenda 2010: Blick zurück im Zorn | |
Die Reform sollte die Kosten des Sozialstaats senken. Das tat der SPD gar | |
nicht gut: verstärkter Mitgliederschwund und Konkurrenz von Links folgten. | |
Streitgespräch zur „Agenda 2010“: Reform mit Augenmaß | |
Beim Umbau des Sozialstaats wird es gerecht zugehen, versprach die | |
rot-grüne Regierung vor zehn Jahren. Hat sie Wort gehalten? |