# taz.de -- Streitgespräch zur „Agenda 2010“: Reform mit Augenmaß | |
> Beim Umbau des Sozialstaats wird es gerecht zugehen, versprach die | |
> rot-grüne Regierung vor zehn Jahren. Hat sie Wort gehalten? | |
Bild: Wer hat uns nochmal verraten? | |
taz: Herr Schneider, am 14. März 2003 hat Gerhard Schröder seine | |
Grundsatzrede zur „Agenda 2010“ gehalten. Was dachten Sie damals? | |
Ulrich Schneider: Ich fühlte mich verraten. Wir hatten selbst etliche Jahre | |
gefordert, die Arbeitslosen- und Sozialhilfe zusammenzulegen – aber unter | |
der Bedingung, dass die neue Leistung deutlich über dem Sozialhilfeniveau | |
liegt. Das hatte die SPD im Wahlkampf und in Gesprächen zugesichert. Aber | |
kaum waren die Wahlen gelaufen, erklärte Schröder: Freunde, ist nicht, wir | |
erhöhen nicht über Sozialhilfesatz. Wir, die Sozialverbände, fühlten uns | |
verschaukelt. | |
Herr Clever, wie kam die Rede bei Ihnen an? | |
Peter Clever: Die Rede weckte in mir die große Hoffnung, dass wir endlich | |
die in den Nachkriegsjahren unaufhörlich gewachsene Sockelarbeitslosigkeit | |
senken. Es gab ja in der Spitze 5 Millionen Arbeitslose und über 2 | |
Millionen Langzeitarbeitslose. Die Agenda 2010 hat die schlimme | |
gesellschaftliche Spaltung in jene, die arbeiten, und jene, die arbeitslos | |
sind, verkleinert. 2012 hatten wir unter 3 Millionen Arbeitslose und 1 | |
Million Langzeitarbeitslose weniger. Das darf man doch nicht schlechtreden. | |
Schneider: Diese gute statistische Entwicklung hat einen hohen Preis. Wir | |
haben auf dem Arbeitsmarkt seit der Agenda 2010 und seit Hartz IV eine | |
Schneise der Verwüstung … | |
Clever: „Eine Schneise der Verwüstung“ – das ist ein Zerrbild … | |
Schneider: Mittlerweile arbeiten über 23 Prozent der Beschäftigten im | |
Niedriglohnsektor, auch die Zahl befristeter Arbeitsverhältnisse hat | |
zugenommen. Immer mehr Menschen kommen nicht mehr mit ihrem Geld hin. Die | |
Arbeitslosenzahlen sind gesunken – das stimmt. Aber die Gefahr, in Armut zu | |
leben, ist gewachsen. | |
Clever: Wir haben mit der Agenda 2010 die strategische Wende geschafft und | |
viele zuvor abgehängte Menschen wieder in Beschäftigung gebracht. Das war | |
nicht die große Abrissbirne, die den Sozialstaat zertrümmert hat. Wir haben | |
in Deutschland auch keine Hire-and-fire-Ökonomie. Die Betriebszugehörigkeit | |
ist in den letzten zehn Jahren im Durchschnitt von 10 auf 11,2 Jahre | |
gestiegen. Mehr als jeder zweite befristet Beschäftigte wird direkt in ein | |
unbefristetes Arbeitsverhältnis übernommen. Das passt doch nicht in das | |
Bild, das die Kritiker von der Agendapolitik entwerfen. | |
Schneider: Viele Qualifizierte haben gute Bedingungen, einen festen Job, | |
und wenn sie den verlieren, sind sie oft nur kurz arbeitslos. Aber es gibt | |
eine klassische Spaltung des Arbeitsmarktes. Drei Viertel der | |
Hartz-IV-Bezieher bekommen schon länger als zwei Jahre Arbeitslosengeld II. | |
Da bewegt sich gar nichts. Und: Wenn wir über Zahlen reden, dann über die | |
richtigen: Realistisch betrachtet, können wir von 2 Millionen | |
Langzeitarbeitslosen ausgehen. | |
Ein Ergebnis der Agenda 2010 ist: Der Niedriglohnsektor ist gewachsen … | |
Clever: Auch das wird oft übertrieben. 8 Millionen Menschen verdienen heute | |
unter 9,15 Euro, das ist die offizielle Niedriglohnschwelle. Das sind gut | |
23 Prozent aller abhängig Beschäftigten, Schüler eingeschlossen. Vor zehn | |
Jahren waren es 20,6 Prozent. Das hat sich nicht so dramatisch verändert. | |
Schneider: Das sind immerhin rund 12 Prozent mehr … | |
Clever: Ja, aber für diese 12 Prozent bedeutete ihre Arbeitslosigkeit | |
vorher ein unveränderbares Schicksal. Und wahr ist auch: Die Hälfte der | |
Menschen arbeitet nach einem Jahr nicht mehr im Niedriglohnsektor. Das ist | |
kein Zuckerschlecken, aber der Einstieg ist auch die Chance zum Aufstieg. | |
Schneider: Erst mal: Die Leute verdienen im Niedriglohnsektor nicht 9,15 | |
Euro in der Stunde, sondern im Schnitt 6,60 Euro. Tendenz sinkend: Vor ein | |
paar Jahren waren es noch 7 Euro. Das Problem ist aber nicht nur das Geld, | |
es ist auch die Botschaft, die in diesen 6,60 Euro steckt: Deine Arbeit ist | |
nichts wert. Außerdem beuten wir so unsere Sozialsysteme aus und steuern | |
rapide auf eine Altersarmut zu. | |
Clever: Niedriglohnjob heißt nicht automatisch Armut. 84 Prozent der | |
Geringverdiener haben weitere Einkommensquellen und sind oft gar nicht arm. | |
Und im Übrigen tun wir als Arbeitgeber ja auch etwas gegen zu niedrige | |
Löhne. Wir haben beispielsweise Lohnzuschlägen in der Zeitarbeit | |
zugestimmt; da gibt es in der letzten Stufe jetzt für Beschäftigte einen | |
50-prozentigen Aufschlag auf den Zeitarbeitslohn. Wir haben gemeinsam dafür | |
gesorgt, dass Zeitarbeitsfirmen aus Polen ihre Beschäftigten hierzulande | |
nicht zu osteuropäischen Löhnen arbeiten lassen können. Das alles kann auch | |
wieder zu mehr Arbeitslosigkeit führen, aber wir haben zugestimmt. | |
Gerhard Schröder hat in seiner Rede vor zehn Jahren angekündigt, dass „alle | |
Kräfte der Gesellschaft einen Beitrag leisten müssen“. Das war das | |
Versprechen, dass es beim Umbau des Sozialstaates gerecht zugehen wird. | |
Wurde das eingelöst? | |
Schneider: Nein. Es gab 2003 ein Barvermögen in den Privathaushalten von | |
3,8 Billionen Euro. Und man war wieder nicht in der Lage, zu sagen, | |
bestimmte Menschen müssen teilen. Im Gegenteil. Unten langte man mit Hartz | |
IV zu, oben senkte man den Spitzensteuersatz, die Unternehmenssteuern, die | |
Kapitalertragsteuern. Erinnern wir uns doch mal an den damaligen Zeitgeist: | |
Da herrschte pure Misanthropie gegenüber Arbeitslosen. Man hat alles ohne | |
Augenmaß eingerissen, Aids- oder Hautkranke bekamen auf einmal keine | |
Zuschläge mehr für Medikamente oder Salben. Hartz IV ist das lebensfernste | |
Gesetz, das jemals gemacht wurde. Die Politik musste dann ja auch | |
mindestens 20-mal per Gesetz nachsteuern, auch weil das Bundessozialgericht | |
gesagt hat: So geht es nicht. | |
Clever: Die Grundrichtung der Reformen war absolut richtig. Und es wurde | |
vernünftig nachjustiert. Ich bin auch heute noch der Meinung, dass es eine | |
Reform mit Konsequenz und Augenmaß war. Und ich warne davor, zu glauben, | |
wenn man den Reichen nur richtig ans Leder ginge, würden alle Probleme des | |
Sozialstaats gelöst. Wenn Sie in Deutschland Betriebsvermögen über die | |
Erbschaftsteuer abschöpfen wollen, dann kommen Sie ganz schnell dahin, dass | |
die Unternehmer die Steuer cash nicht zahlen können. Dann wird sich der | |
Staat zur Eintreibung der Steuerschuld einen Teil des Unternehmens | |
aneignen. | |
Schneider: Das glauben Sie doch selbst nicht. Wenn das so wäre, müssten | |
längst alle Millionäre aus Luxemburg, der Schweiz oder den USA hier sein, | |
die haben in ihren Ländern nämlich deutlich höhere vermögensbezogene | |
Steuern, nicht so wie wir eine effektive Besteuerung der Erbschaften von | |
1,5 Prozent. Wenn Sie in Deutschland alle großen Erbschaften mit 10 Prozent | |
besteuern würden, würde das dem Staat 26 Milliarden Euro im Jahr bringen. | |
Das ist viel Geld. | |
Clever: Ich sage Ihnen, beim rot-grünen Steuerkonzept mit Vermögensteuern | |
auch für Unternehmen mit Verlusten und ohne Gewinn plus höherer | |
Erbschaftsteuer kommen sie ganz schnell in einen konfiskatorischen Bereich. | |
Dann verliert Deutschland den Mittelstand, sein wirtschaftliches Rückgrat. | |
Und etliche würden auch Deutschland verlassen. | |
Schneider: Ich glaube nicht, dass alle Unternehmer und Vermögenden so | |
vaterlandslose Gesellen wären. Das sind Angstkampagnen. | |
11 Mar 2013 | |
## AUTOREN | |
E. Voelpel | |
S. Reinecke | |
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