Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Dilek Kolat im Interview: "Der Protest wird instrumentalisiert"
> Das Zeltlager auf dem Oranienplatz ist keine Dauerlösung, sagt die
> Senatorin für Integration. Ein Gespräch über Flüchtlingsproteste und den
> Roma-Aktionsplan.
Bild: Seit Oktober 2012 protestieren Flüchtlinge mit einem Zeltlager auf dem K…
taz: Frau Kolat, im Dezember haben Sie den hungerstreikenden Flüchtlingen
am Brandenburger Tor Ihre Hilfe versprochen. Heute protestieren diese noch
immer, auf dem Oranienplatz. Was ist schiefgelaufen?
Dilek Kolat: Es ist gar nichts schiefgelaufen. Ich hatte den Flüchtlingen
damals versprochen, mich für ihre Forderungen einzusetzen, weil ich 70 bis
80 Prozent davon teile. Und nach dem Besuch haben sie den Hungerstreik ja
auch aufgegeben, weil sie gemerkt haben, dass sie Gehör finden.
Gehör vielleicht – erfüllt ist aber bislang keine der Forderungen. Und die
CDU will gar nicht mehr darüber reden, bis das Camp nicht geräumt ist.
Wir müssen zusammen mit den Flüchtlingen eine behutsame Beendigung des
Camps erreichen. Ihnen zu suggerieren, das wäre eine Dauerlösung, finde ich
verantwortungslos.
Wer suggeriert das?
Der Protest wird sehr stark instrumentalisiert: auf der einen Seite von
Aktivisten oder dem grünen Exbezirksbürgermeister Franz Schulz; auf der
anderen Seite von Teilen der CDU. Was wir jetzt brauchen, sind aber
pragmatische Lösungen.
CDU-Staatssekretär Bernd Krömer verweist auf eine zunehmende Kriminalität
um den Oranienplatz, die eine Räumung des Camps rechtfertigen soll.
Das ist natürlich nicht hilfreich. Und von seinem Parteikollegen Mario
Czaja hören wir ja, dass die Kriminalitätsrate im Umfeld von
Flüchtlingsunterkünften nicht steigt. Ich glaube, es wäre besser, diesen
Fakt in die Bevölkerung hineinzutragen, um den Menschen ihre Ängste zu
nehmen, die ja oft auch von Unkenntnis herrühren.
Ein erneutes Treffen mit den Flüchtlingen haben Sie vor zwei Wochen, wie
alle anderen eingeladenen Senats- und Bundespolitiker, aber auch abgesagt.
Warum?
Die Integrationsbeauftragte Monika Lüke hat an meiner Stelle teilgenommen.
Sie behandelt den ganzen Bereich ja auch. Ich kannte die Forderungen der
Flüchtlinge ja nun bereits und versuche sie auf politischer Ebene
umzusetzen.
Was nur nicht so richtig klappt.
Ich bin aktiv geworden dort, wo die politischen Forderungen auch hingehören
– auf der Bundesebene. Und es gibt Fortschritte. Um noch mehr von den
berechtigten politischen Forderungen umzusetzen, brauchen wir andere
politische Konstellationen. Ich habe damals gesagt und sage auch noch
heute, dass ich die Residenzpflicht für nicht zeitgemäß halte und
abschaffen will.
Auch die wird von Ihrem Koalitionspartner verteidigt, der vor
„Flüchtlingsschwemmen“ warnt.
An dieser Stelle ist unser Koalitionspartner aber nicht maßgeblich, denn in
Berlin haben wir die Residenzpflicht ja schon zusammen mit Brandenburg
gelockert. Es wird immer so getan, als würden alle Flüchtlinge aus der
ganzen Bundesrepublik nach Berlin kommen, wenn man die Regelung aufheben
würde, aber das entspricht nicht der Realität. Die Zuteilung der
Flüchtlinge zu den Ländern und Landkreisen würde ja bestehen bleiben, was
eine gerechte Lastenaufteilung sichert. Nur reisen zwischen den Gebieten
dürften sie. Dass das jetzt verboten ist, ist eine unnötige
Freiheitseinschränkung. Man kann nicht sagen: Freiheit ist ein hohes Gut in
unserer Demokratie, aber Flüchtlinge dürfen ihre Bezirke nicht verlassen,
nicht mal zum Beispiel dort sich aufhalten, wo Frau und Kind in
Aufnahmestellen in anderen Regionen gemeldet sind.
Die Initiative, die Residenzpflicht abzuschaffen, ist aber im Bundesrat
gescheitert.
Vorerst gibt es keine Mehrheit dafür. Ich halte dennoch an der Forderung
fest. Dafür sind wir bei der Forderung nach schnellerem Zugang zum
Arbeitsmarkt einen Schritt weitergekommen. Von mir aus bräuchte es da gar
keine Fristen. Nun wurde die Wartezeit immerhin von einem Jahr auf neun
Monate verkürzt, wie es Europastandard ist. Das ist ein Fortschritt.
Was sind denn Forderungen der Flüchtlinge, die Sie nicht teilen?
Das sofortige Bleiberecht für alle. Da kann ich nicht mitgehen.
Und die nach Auflösung der Sammelunterkünfte?
Vom Grundsatz her teile ich diese Forderung, und in Berlin legen wir die
Priorität ja auch schon länger auf eine Unterbringung in Wohnungen. In der
Umsetzung haben wir damit aber Probleme, weil preiswerter Wohnraum einfach
nicht ausreichend da ist. Je schwieriger der Wohnungsmarkt in Berlin ist,
desto schwieriger wird es natürlich auch, diesen Anspruch umzusetzen. Erst
recht, wenn die Zahl der Flüchtlinge, die zu uns kommen, steigt. Wir
brauchen momentan Gemeinschaftsunterkünfte, damit wir überhaupt Unterkünfte
haben.
Es sind oft Bezirkspolitiker, die sich derzeit mit kreativsten Ausreden
gegen die Unterbringung von Flüchtlingen wehren. Auch Sozialdemokraten.
Dass die prüfen, wo passt eine solche Unterkunft hin und wo nicht, finde
ich in Ordnung. Natürlich müssen wir für Unterkünfte sorgen. Auf der
anderen Seite müssen wir aber auch gucken, dass wir das mit Blick auf die
Vor-Ort-Gegebenheiten sensibel machen.
Also kein Flüchtlingsheim in Hellersdorf, wo Anwohner und Rechtsextreme
gerade Stimmung gegen eine Flüchtlingsunterkunft machen?
Selbstverständlich gehören Flüchtlingsunterkünfte auch nach Hellersdorf!
Verbunden mit der notwendigen Aufklärung und Sensibilität sehe ich dort
auch keine unüberwindbaren Schwierigkeiten. Anwohnersorgen müssen wir ernst
nehmen. Aber rechtsextreme Hetze dürfen wir keinesfalls hinnehmen. Den
Versuch, Flüchtlinge zu kriminalisieren, dürfen wir Demokraten nicht
zulassen.
Jetzt in den Sommermonaten beschäftigen Berlin auch wieder andere
Zuwanderer: die Roma. Warum braucht die Stadt für diese Gruppe einen
eigenen Aktionsplan, wie Sie ihn gerade veröffentlicht haben?
Erst mal lege ich großen Wert darauf, diese Themen zu trennen. Fast alle
Roma-Familien sind EU-Bürgerinnen und Bürger und halten sich hier
rechtmäßig auf. Das ist Folge der EU-Osterweiterung. Und jeder, der dafür
war, muss auch damit rechnen, dass diese Menschen hierherkommen.
Laut Ihren eigenen Zahlen leben in Berlin derzeit 16.000 Bulgaren und 8.800
Rumänen. Ist die Stadt damit wirklich schon überfordert?
Auch wenn die Zahlen jetzt nicht so groß erscheinen, ist der Zuwachs an
Menschen aus Rumänien und Bulgarien in den letzten Jahren beachtlich
gewesen. Ihre soziale Situation ist sehr speziell, sodass Handeln dringend
geboten war. Ich glaube, dass die Anforderungen an diese Menschen bei der
Partizipation um ein Vielfaches höher sind als für Menschen mit
Migrationshintergrund, die schon länger hier sind. Da müssen wir sehr früh
reagieren, damit wir nicht in zehn Jahren sagen: Mein Gott, hätten wir mal
mehr gemacht.
Wie hilft da der Aktionsplan?
Damit wollen wir ganz pragmatische Lösungen anbieten. Über
Straßensozialarbeit sollen die Menschen an unsere Hilfssysteme herangeführt
werden. In Lerngruppen lernen die Kinder die deutsche Sprache. In den
Schulen werden den Jugendlichen berufliche Perspektiven aufgezeigt. Und wir
sorgen für Impfschutz und gesundheitliche Beratung. Diese Menschen haben
das Recht darauf, hierzubleiben. Wir wollen sie deshalb vollständig
integrieren. Dafür gibt es den Aktionsplan.
Sie nennen Maßnahmen, die es alle bereits gibt. Zudem fehlt dem Aktionsplan
eines völlig: die finanzielle Unterfütterung. Was soll das bringen?
Dieser Plan bringt eine ganze Menge an neuen Ansätzen. Auch weil sich alle
Senatsverwaltungen und Bezirke dazu bekennen, dass das Thema Roma eine
gemeinsam zu lösende Querschnittsaufgabe ist.
Am Ende aber könnte es von allen heißen: Wir würden ja gerne helfen, aber
wir haben kein Geld. Und nichts passiert.
Die Wahrscheinlichkeit dafür ist sehr gering. Ich sehe bei allen die
Bereitschaft, sich zu beteiligen. Und unsere Aktivitäten der letzten zwei
Jahre haben sich doch schon ausgezahlt: Die ganze Roma-Debatte hat sich
heute beruhigt. Senat und Bezirke haben frühzeitig Integrationsmaßnahmen
getroffen und sich gekümmert. Die Stadt hat gezeigt, dass sie
integrationsfähig ist.
Mal abgesehen vom Roma-Aktionsplan passiert derzeit allerdings
integrationspolitisch wenig in Berlin.
Wie kommen Sie denn darauf?
Der jüngste Bericht zum Partizipationsgesetz hat vor allem gezeigt, dass
kaum etwas umgesetzt wurde. Die neue Integrationsbeauftragte Monika Lüke
ist kaum präsent. Und vom Landesbeirat für Integration hört man seit der
missglückten und dann nachgeholten Wahl nichts mehr.
Das ist mir zu vergangenheitsorientiert. Medien schauen gerne auf
Konflikte, damit sie was zum Schreiben haben. Wir machen eine erfolgreiche,
aber nicht sehr laute Arbeit.
Wir schreiben auch über Erfolge. Wo sehen Sie diese denn für Ihre
Integrationspolitik?
Wir haben nicht nur die Themen Flüchtlinge und Roma vorangebracht, sondern
auch die Umsetzung des Partizipations- und Integrationsgesetzes. Die neuen
Förderrichtlinien für die Selbstorganisationen von Migranten sind auf dem
Weg. Da wird ab 2014 viel Bewegung reinkommen. Wir haben die
interkulturelle Öffnung erstmals auch in die Privatwirtschaft gebracht: In
der Metall- und Elektrobranche gibt’s jetzt auch unser Modell ’Berlin
braucht dich‘, das gezielt migrantische Jugendliche anspricht. Und wir
werden die Stadtteilmütter landesweit auf eine solide Basis stellen.
Was heißt das?
Zum einen will ich Kontinuität: Dass wir Stadtteilmütter bekommen, die
dauerhaft im Einsatz sind, statt ständig zu wechseln. Zum anderen möchte
ich das Projekt aber auch mehr als Beschäftigungsmaßnahme nutzen. Meine
Erfahrung ist, dass sich viele arbeitslose Frauen als Stadtteilmutter
ungemein selbst entwickeln. Sie werden selbstbewusst, sie lernen die
Sprache schneller, sie sind im Kiez bestens vernetzt. Das ist eine Chance,
diese Frauen später in eine richtige Beschäftigung zu vermitteln.
Wie soll das alles finanziert werden? Der Senat hat gerade beschlossen,
Ihren Etat bis 2015 von heute 101 auf 77 Millionen zu kürzen. Und
zugestandene EU-Gelder haben Sie nicht abgerufen.
Das sehe ich gelassener, als es gerade diskutiert wird. Die Etatkürzung
begann ja bereits bei meiner Vorgängerin. Dahinter steckt auch eine
Umstellung der Bundesinstrumente für die Arbeitsmarktförderung. Und nicht
verausgabte EU-Mittel sind nicht nur ein Thema für mein Haus, sondern für
alle Senatsverwaltungen. Und diese Gelder verfallen ja nicht. Mein Ziel
bleibt, die Arbeitslosenquote in Berlin zu reduzieren, vor allem die der
Jugendlichen. Das trifft ja gerade Menschen mit Migrationshintergrund. Wenn
wir da Arbeit schaffen, ist das die Basis für Teilhabe und wird viele
Probleme beseitigen, die wir heute mit Migration in Verbindung bringen.
Übrigens gibt es für den Bereich Integration in meinem Etat keine
Kürzungen, sondern einen Zuwachs, was ich als einen Erfolg sehe.
Letzte Frage: Sie galten mal als Anwärterin für die Nachfolge von
Bürgermeister Klaus Wowereit. Zuletzt waren nur noch Jan Stöß und Raed
Saleh im Gespräch. Machen das jetzt die Männer unter sich aus?
Ach kommen Sie, diese Diskussion stellt sich absolut nicht.
Für Stöß und Saleh vielleicht schon.
Der Regierende hat klar gesagt, dass er bis zum Ende der Legislatur gewählt
ist. Es bleibt dabei: Die Diskussion stellt sich nicht.
4 Aug 2013
## AUTOREN
Alke Wierth
Konrad Litschko
## TAGS
Roma
Flüchtlinge
Berlin
Zuwanderer
Regierende Bürgermeisterin
Flüchtlinge
Flüchtlingscamp Oranienplatz
Vergewaltigung
Schwerpunkt Rassismus
## ARTIKEL ZUM THEMA
Camp auf dem Oranienplatz: Die Nerven liegen blank
Integrations-beauftragte schickt Beraterinnen auf den Oranienplatz.
Innensenator Henkel und Bezirksbürgermeisterin Herrmann treffen sich.
Rechte Hetze gegen Roma: Die Angst vor Lichtenhagen
In Duisburg hetzen Rechte gegen ein Mietshaus, in dem Roma-Flüchtlinge
wohnen. Besorgte Bürger organisieren Nachtwachen.
Protest gegen Berliner Flüchtingsheim: Nichts ist normal in Hellersdorf
Anwohner pöbeln, Flüchtlinge flüchten, Linke errichten eine Dauermahnwache.
Ein Besuch vor der neuen Asyl-Notunterkunft in Hellersdorf.
Flüchtlinge in Berlin: Umzug ins Ungewisse
Die ersten Bewohner haben die Unterkunft in Hellersdorf bezogen. Nach
anfänglicher Ruhe ertönen auch fremdenfeindliche Parolen.
Schulbildung: Kinder sind das kleinste Problem
Mit Flüchtlingen und Zuwandererinnen kommen auch schulpflichtige Kinder
nach Berlin. Vor allem bei Plätzen für ältere Schüler hakt es.
Regierender Bürgermeister: Aufgetankt statt abgedankt
Klaus Wowereit kommt tiefenentspannt aus der Sommerpause - und trotzt allen
Rücktrittsgerüchten. Wird er gar wieder Chef des BER-Aufsichtsrates?
Kommentar Flüchtlingscamps: Rückfall in trennende Konzepte
Flüchtlinge haben sich bundesweit gegen staatliche Gängelung solidarisiert.
Die mediale Aufmerksamkeit war groß. Jetzt zerfällt die Bewegung.
Neue Bezirksbürgermeisterin: „Das Camp ist ein politisches Mahnmal“
Am Donnerstag hat Monika Herrmann ihren ersten Arbeitstag als
Bürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg. Mit der taz spricht die Grüne
über Alkohol, Kaffee und andere Drogen.
Oranienplatz: Viel Lärm um – was?
Auf einer Pressekonferenz im Flüchtlingscamp eskaliert ein interner Streit.
Falschmeldung über Refugeecamp: Im Schlepptau des Boulevards
Medien berichten, dass ein Flüchtling am Oranienplatz eine Frau
vergewaltigt haben soll. Doch die Artikel sind durchgehend falsch.
Bundespolitik boykottiert Flüchtlingscamp: Protest stößt auf taube Ohren
Die Flüchtlinge in Kreuzberg diskutieren mit Grünen-Politikern und der
Integrationsbeauftragten – die Bundesvertreter hatten abgesagt.
Asylbewerberheim in Hellersdorf: Ein Bezirk ringt um sein Image
Nach der Eskalation eines Infoabends zu einem Flüchtlingsheim versucht der
Bezirk Hellersdorf zu beruhigen. Die NPD mobilisiert für Samstag erneut.
Flüchtlinge blockieren Straße: Stop-and-go am Oranienplatz
Flüchtlinge blockieren über Stunden die Oranienstraße vor ihrem Camp.
Bürgermeister will Treffen mit Bundespolitik organisieren und wendet so
Räumung ab.
Protest: Die neue Agora
Im Geiste von Brecht und Dylan demonstrieren Flüchtlinge inmitten von
Kreuzberg mit einem Tribunal gegen den Staat und für einen würdigeren
Umgang.
Vorschlag von Integrationsbeauftragter: Roma-Wohnheim stößt auf Kritik
Opposition und Verbände halten wenig vom Vorschlag der
Integrationsbeauftragten Lüke. Sie hatte in der taz eine
Obdachlosenunterkunft für Roma-Familien gefordert.
Integration von Roma: Wohnen ist das Problem
Im Rahmen des „Aktionsplans Roma“ will Berlins Integrationsbeauftragte
Monika Lüke zur Notaufnahme ein Wohnheim für obdachlose Familien
einrichten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.