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# taz.de -- Ergebnis der Bundestagswahl: Sind wir alle konservativ?
> Angela Merkel wird nach ihrem Wahlsieg mit Adenauer und Kohl verglichen.
> Doch eine geistig-moralische Wende zum Konservativen steht nicht an.
Bild: Ganz so schwarz sieht es für Deutschland doch nicht aus
Es sieht wirklich bedrohlich aus. Von der Oder bis an den Rhein, von der
Nordsee bis zu den Alpen ist Deutschland schwarz eingefärbt. In der Mitte,
im Ruhrgebiet und in Niedersachsen gibt es ein paar rote Flächen, im Osten
ein paar einsame grüne und lila Einsprengsel. Wo es schwarz ist, haben die
meisten CDU/CSU-Kandidaten gewählt. Es scheint so, als wären wir umzingelt
von einer erdrückenden Mehrheit. Ist Deutschland konservativ geworden?
18.157.256 Deutsche haben die Union gewählt. Martin Lohmann nicht. Er hat
am Tag vor dem größten Wahlerfolg der Union seit 1990 seinen Austritt aus
der CDU bekannt gegeben. Nach 40 Jahren Mitgliedschaft. Das Christliche,
schrieb er in seiner Austrittserklärung, ist „von der Parteiführung der CDU
faktisch ausgehöhlt worden“. Anstatt die Familie – also Vater, Mutter, Kind
– und das ungeborene Leben zu schützen, habe sich die Union „einem diffusen
und unberechenbaren Pragmatismus verschrieben“. Lohmann ist Mitte 50, hat
graues, kurzes Haar, ein Rheinländer, der sich auf Selbstdarstellung
versteht. „Meine Partei“, sagt er, „hat mich verlassen.“
Lohmann war mal Vizechefredakteur der von der Kirche subventionierten
Wochenzeitung Rheinischer Merkur, die vor drei Jahren pleiteging. Jetzt ist
er Chef eines katholischen Privat-TV-Senders. Manchmal wird er in Talkshows
eingeladen, wo er für Aufruhr sorgt. Zum Beispiel mit der These, dass
vergewaltige Frauen kein Recht haben auf die Pille danach. Von Abtreibung
gar nicht zu reden. Für den Katholiken ist die Ehe noch heilig und
Scheidung Sünde.
Lohmann vertritt einen gesinnungsfesten Katholizismus, der die
Schützengräben des alten Kulturkriegs gegen „68“, gegen Emanzipation und
sexuelle Libertinage nie verlassen hat. Er wirkt wie ein Relikt aus den
90er Jahren, als man in der Union das Wort „Zeitgeist“ nur abschätzig in
den Mund nahm. Damals, als Helmut Kohl am liebsten die türkischen Migranten
einfach wieder losgeworden wäre. Als die Union öffentliche
Rekrutengelöbnisse gegen linke Chaoten verteidigte, Atomkraftwerke gegen
grüne Spinner, die Ehe gegen unverfrorene Forderungen von Homosexuellen
nach Gleichberechtigung.
Damals, als es keine schwulen CDU-Bürgermeister gab und die Union
Wehrpflicht und Atomenergie bissig verteidigte. Damals, als die Union
männlich und deutschtümelnd war und nicht nur in Wahlkampfzeiten wusste,
wer „wir“ und „die“ sind.
## Konservativ kann auch Fortschrittlich sein
Man kann es so sagen: Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Austritt von
Martin Lohmann aus der CDU und dem Wahlsieg der Union. Angela Merkel hat es
zugelassen, dass sich die Union in Lebensstilfragen, bei Migranten-,
Familien- und Frauenpolitik geschickt, weil unauffällig, Richtung Mitte
öffnet. Die Union hat verstanden, dass das Konservative und das
Fortschrittliche kein Gegensatzpaar mehr ist. Deshalb suchen Figuren wie
Lohmann nun das Weite. Und deshalb war man in den Wahlkampfzentralen von
SPD und Grünen so ratlos.
In der unhandlichen Begrifflichkeit der Wahlforschung wird die Frage, wer
regiert, auf drei Spielfeldern entschieden: Wer hat die
Wirtschaftskompetenz? Wer sorgt für Gerechtigkeit? Wer hat die „kulturelle
Hegemonie“?
Rot-Grün hat 2013 nur auf dem Platz Gerechtigkeit gespielt. Weil jetzt
alle, und vor allem Leitartikler, klüger sind, wissen nun alle, was für ein
schrecklicher Fehler das war. Allerdings war Merkel auf den beiden anderen
Plätzen – Wirtschaft und Lebensstil – ziemlich unangreifbar. Und eine
Opposition, die die Regierung eigentlich prima findet, wäre auch kein
schöner Anblick gewesen.
Um die fundamentale Verschiebung 2013 zu verstehen, muss man zurückschauen.
2002 verlor die Union die Wahl, obwohl sie in der Wirtschaft für
kompetenter gehalten wurde – was normalerweise schon der halbe Sieg ist.
Doch Rot-Grün wirkte irgendwie hipper, modern, weltoffen, urban, die Union
hingegen vermufft, provinziell, altdeutsch. Bei jungen Frauen in
Großstädten bekam die Union kein Bein auf den Boden. Sie war männlich,
katholisch, retro, eben Lohmann. Unter Angela Merkel ist die CDU nun
weiblich, postreligiös, zeitgeistnah geworden. 44 Prozent der Frauen haben
Union gewählt, nur 39 Prozent der Männer.
## Unentschieden bei „kulturelle Hegemonie“
Kurzum: Das rot-grüne Milieu hat die Meinungsführerschaft bei den weichen
Themen verloren. Es hat kein Vorrecht mehr auf Individualität und Freiheit.
Die Frage, ob man individueller Freiheit den Vorzug vor kollektiver Bindung
gibt, teilt die Rechte nicht mehr glasklar von der Linken. Auf dem Feld
„kulturelle Hegemonie“ steht es unentschieden.
Das liegt an den allseits bewunderten Wendemanövern der Merkel-CDU. Aber
keineswegs nur. Die Ex-Alternativen haben sich auch totgesiegt. Sie haben
Selbstbestimmung und Minderheitenschutz als Werte durchgesetzt. Und wirken
nun recht erschöpft. In der Union sind die schneidigen, autoritären Figuren
und die religiösen Fundis rar geworden. Der Frontverlauf ist
unübersichtlich.
2013 gibt es grüne Bürgermeister, die Alkohol auf öffentlich Plätzen
verbieten wollen, und Ex-Alternative, die auf dunkelhäutige Drogendealer im
Stadtpark schimpfen. Alles ziemlich vermischt. Der Kampf gegen das
Betreuungsgeld und für das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare
ist verdienstvoll, aber keine abendfüllende Beschäftigung. Und auf dem
neuen Spielfeld, auf dem libertäre Linke siegen können, bei Datenschutz und
Freiheit im Internet, fehlte leider (noch?) ein empörungsfähiges Publikum.
Also alles Merkel? Der offensive Verdruss von Flügelkämpfern wie Lohmann
und der Erfolg der Alternative für Deutschland deuten an, dass auch Merkels
wundersame Fähigkeit, alles unter einen Hut zu zaubern, irgendwann zu Ende
geht.
Adenauer etablierte in den 50er Jahren den CDU-Staat. Die Gefahr, dass sich
das nun wiederholte, ist überschaubar. Es gibt eine andere Karte des
politischen Deutschland, die zeigt, wer in den Bundesländern regiert. Man
sieht viel Grün, viel Rot, eine bisschen Tiefrot. Richtig schwarz ist nur
der Süden. Es ist ein ziemlich bunter Teppich. Und ein realistischeres Bild
als die fast monochrome, schwarze Deutschland-Karte.
29 Sep 2013
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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