# taz.de -- Jahrestag Arabellion in Tunesien: Die Werkbank Deutschlands | |
> Der tunesischen Wirtschaft geht es nicht gut. Viele Unternehmen wandern | |
> ab. Nur die deutschen nicht. Sie nutzen billige Arbeit und billigen | |
> Strom. | |
Bild: Ruhig ist es in Tunis nicht geworden: Feier zum 3. Jahrestag der Revoluti… | |
BERLIN taz | Mitten in der nordtunesischen Hafenstadt Bizerte nähen Frauen, | |
Hemden, Krawatten, Blusen für das Textilunternehmen van Laack. In einer | |
hellen Halle mit Blick aufs Meer. Die Kleidungsstücke hängen wenig später | |
in Showrooms in München oder an der Madison Avenue in New York. Die Marke | |
van Laack mit Stammsitz im Mönchengladbach setzt auf die „Standortvorteile“ | |
des nordafrikanischen Landes – wie Calvin Klein, Lacoste oder Yves Saint | |
Laurent oder die 250 anderen, meist mittelständischen deutschen | |
Unternehmen. | |
Jeder dritte Büstenhalter, jede dritte Jeans, jeder zweite Badeanzug kommen | |
nach Angeben von Eurostat aus Tunesien. Das Land gilt als verlängerte | |
Werkbank Europas, und um nicht der Konkurrenz der Billighersteller aus | |
China und Indien ausgesetzt zu sein, setzt die tunesische Textilindustrie | |
verstärkt auf Qualität, Design und Marketing. | |
Deutschland ist nach Frankreich und Italien der drittgrößte Handelspartner | |
Tunesiens. Etwa 40 Prozent der tunesischen Importe aus Deutschland und 80 | |
Prozent der tunesischen Exporte nach Deutschland sind auf Unternehmen mit | |
deutscher Kapitalbeteiligung in Tunesien sowie tunesische | |
Lohnveredlungsbetriebe zurückzuführen. | |
Damit sind die deutschen Unternehmen ein wichtiger Pfeiler für die | |
tunesische Wirtschaft. Denn der geht es nicht gut. Politische Instabilität, | |
Streiks, Herabstufungen durch internationale Ratingagenturen und eine noch | |
immer fehlende Verfassung haben ausländische Unternehmer und potenzielle | |
Investoren verunsichert. Über 150 ausländische Unternehmen schlossen in den | |
vergangenen zwei Jahren die Türen ihrer Niederlassungen am Standort | |
Tunesien, mehr als 5.000 Arbeitsplätze wurden seit der Revolution und dem | |
Sturz des Regimes von Ben Ali 2011 im Ursprungsland des sogenannten | |
Arabischen Frühlings gestrichen. | |
## Massenabwanderung von Unternehmen | |
Allein im Zeitraum zwischen Januar und August 2013 verließen 15 | |
ausländische Unternehmen Tunesien, vor allem Firmen mit französischer und | |
italienischer Beteiligung. Das Vertrauen in den Standort, der nach den | |
Morden an den Oppositionspolitikern Chokri Belaid im Februar und Mohamed | |
Brahmi im Juli seine schwerste Regierungskrise seit dem Sturz des Ben | |
Ali-Regimes vor zwei Jahren erlebt, war erschüttert. | |
Die Deutschen blieben. Bei ihnen sei „sei kein einziges deutsches | |
Unternehmen bekannt, das Tunesien seit der Revolution vor zwei Jahren | |
aufgrund der politischen Entwicklungen verlassen habe“, sagt Carolin | |
Ghorbal, Sprecherin der Außenhandelskammer Tunis. Im Gegenteil: Die | |
Unternehmen hätten expandiert. „Bei den deutschen Unternehmen in Tunesien | |
gibt es bisher keinerlei Auswirkungen der aktuellen Krise auf die | |
Geschäftstätigkeit, die Exportzahlen oder auf die aktuellen Investitionen.“ | |
Warum das so ist, beantwortet van-Laack-Geschäftsführer Ferdinand Terburg: | |
„Die Steuervorteile und vor allem die Nähe zu Europa machen Tunesien für | |
viele Unternehmen zu einem idealen Standort. Und trotz Revolution und | |
gesellschaftlichem Umbruch gab es bei uns nicht einen Tag Streik .“ | |
Dabei zahlt von Laack den Beschäftigten, zu 90 Prozent Arbeiterinnen, nicht | |
viel mehr als den Mindestlohn. Der beträgt in Tunesien ungefähr 140 Euro, | |
bei van Laack gebe es den Tariflohn für Textilarbeiter, 180 Euro, sagt | |
Terburg. | |
## „Sicherer als als Haushaltshilfe zu arbeiten“ | |
Viele wenig ausgebildete Frauen arbeiten lieber in den Fabrikhallen, als | |
sich als Haushalthilfe zu verdienen und privater Willkür ausgesetzt zu | |
sein. „Das ist sicherer, geregelter und unabhängiger“, bestätigt die | |
Textilarbeiterin Samira Madhaoui. | |
So nah an Europa und doch von den hier erkämpften Löhnen so weit entfernt. | |
Das Lohnniveau in Tunesien ist niederer als in vielen Ländern des | |
Ostblocks. Das Förderungsamt für ausländsiche Investionen (fipa) schreibt | |
dazu: „Neben den sehr wettbewerbsfähigen Lohnkosten, sind auch die Kosten | |
für andere Produktionsfaktoren konkurrenzfähig. Die Löhne von Ingenieuren, | |
höheren Technikern und Arbeitern sind sehr wettbewerbsfähig. Die | |
Lohnentwicklung ist dank relativ stabiler Wechselkurse und einer geringen | |
Inflationsrate gemäßigt.“ | |
Und in Deutschland interessieren noch andere Möglichkeiten des Standorts | |
Tunesien: als Energielieferant in ambitionierten Projekten wie Desertec, | |
als Plattform für neue Technologien und als Trittbrett für den | |
afrikanischen Kontinent. | |
Der tunesische Wirtschaftswissenschaftler Cheikhalifa Mohamed ist davon | |
nicht nur begeistert: „Die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Tunesien wird | |
heute als Unterstützung des demokratischen Transformationsprozesses | |
verkauft. Dabei haben die Europäer, auch die Deutschen schon mit dem | |
gestürzten Regime bestens zusammengearbeitet, wenn es um ihre Interessen | |
ging.“ | |
Wenn Tunesien nun zum Lieferanten alternativer Energie für Europa werde, | |
bleibe offen, wie die ökologischen Probleme des Landes – vom Wassermangel | |
bis zum Fortschreiten der Wüste – nachhaltig angegangen werden könnten. Was | |
also Tunesien selbst davon habe. Nur billigen Strom und billige | |
Arbeitskräfte abzuschöpfen, sei kein Fortschritt. | |
8 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
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