Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Ein ukrainisches Wörterbuch: Mein Maidan
> In Kiew auf dem Platz der Unabhängigkeit rast die Zeit. Manche Worte
> bleiben, andere ändern ihre Bedeutung. Und unterdessen geht die
> Revolution weiter.
Bild: Die Politiker der offiziellen Opposition hörten unsere Stimme nur dann, …
Janukowitsch ist nicht mehr Präsident, aber der Protest auf dem Maidan geht
weiter. Die Ereignisse entwickeln sich schneller, als ich darüber
nachdenken kann, Was ist in den letzten Monaten alles passiert!
Mein Freund und ich waren von Anfang an bei den Protesten dabei. Von Ende
November bis Anfang Februar war ich in Kiew und habe mitdemonstriert. Auf
den Maidan zu gehen war wie Arbeit.
Jeden Tag ging ich hin und blieb ein paar Stunden, je nachdem, was dort los
war. Oft auch nachts. Wenn ich nicht auf dem Platz war, passte ich auf
Verletzte in Krankenhäusern auf, kaufte Seife und Zahnbürsten für die
Protestierenden oder entwarf Flugblätter mit Hinweisen, wie man sich
gegenüber der Polizei oder in einer gefährlichen Situation verhalten soll.
Seit Anfang Februar hospitiere ich im Wiener Institut für die
Wissenschaften vom Menschen als Übersetzerin. Von Wien aus habe ich jeden
Tag fünf- bis sechsmal mit meinem Freund telefoniert oder geskypt. Er war
Tag und Nacht auf dem Maidan, sammelte Müll für die brennenden Barrikaden
und Steine für die vorderen Reihen. Besonders nachts hatte ich Angst um ihn
und habe immer wieder angerufen, um mich zu vergewissern, dass alles okay
ist. Ein paar kurze Sätze genügten uns: „Alle machen alles“, sagte er und:
„Es brennt überall.“
Nun haben die Straßen aufgehört zu brennen, nun sind es die Nachrichten,
die in Flammen stehen, und es gelingt mir zum ersten Mal, die einzelnen
Fragmente des Erlebten in Wörter und Sätze zu verwandeln.
## Zynismus international
Der Euro galt in der Ukraine in den letzten Jahrzehnten als eine besondere
Währung. Dabei ging es nicht um Geld. Der Euro war vielmehr ein Symbol für
Lebensqualität. Jeder, der etwas Gutes bieten wollte, hängte diese Vorsilbe
an: Eurostandards bei Dienstleistungen, Eurorenovierungen, Euromöbel,
Eurofahrradreifen etc. Und natürlich träumten die Ukrainer von den
„europäischen Werten“ auf der anderen Seite der Schengener Festung.
Ich war diesen Erwartungen gegenüber immer skeptisch und hielt dieses
Festhalten an einer Vorsilbe für ein Zeichen dafür, in welcher
Auswegslosigkeit sich das postsowjetische Kleinbürgertum befand. Aber ich
habe mich geirrt. In dem Wort „Euro“ steckte plötzlich ein
Befreiungspotenzial, das weit über die Grenzen des bislang für möglich
Gehaltenen hinausreichte. Die brennenden Barrikaden auf dem Maidan warfen
ihr Licht auf den Wunsch und das Streben der Ukrainer nach der Anerkennung
menschlicher Werte, die zuvor unter dem Zynismus der lokalen und
internationalen Medien, der Politiker und all der Experten nicht mehr zu
sehen waren.
Für viele wurde der Protest zu einer Fahrkarte ohne Rückfahrschein. Fast
einhundert Menschen sind tot, Tausende wurden verwundet und gefoltert. Als
sich die Fernsehberichte über die Gewalt gegen friedliche Demonstranten
häuften, haben viele einfach das Nötigste zusammengepackt, eine Fahrkarte
nach Kiew gekauft und haben sich auf dem Maidan niedergelassen. Zahlreiche
Jungs haben sich auch freiwillig gemeldet, um bei der
Selbstverteidigungstruppe mitzumachen. Sie gaben sich Künstlernamen, weil
sie wussten, dass auf diejenigen, die sich mit echtem Namen einschreiben
lassen, in ihren Heimatstädten schon die Polizei wartet. Sie durften nicht
mehr nach Hause.
Am 20. Januar traf ich auf der Hruschewskoho-Straße eine Bekannte, die
ebenso wie ich gekommen war, um etwas abseits zu stehen, während die
anderen Protestierenden weiter vorne die Molotowcocktails warfen. Sie sagte
mir, es sei wichtig, hier zu sein, damit die Jungs und die Polizisten
wissen, dass wir, die anderen Stadtbewohner, den Radikalen den Rücken
stärken.
Mit unseren Körpern kämpften wir gegen die innen- und außenpolitische
Einsamkeit. Die Politiker der offiziellen Opposition hörten unsere Stimme
nur dann, wenn Tausende gleichzeitig und so laut wie möglich schrien. Und
den europäischen Politikern genügte es nicht, dass die Gummigeschosse der
Polizei aus unseren Köpfen die Augen schossen und deren Knüppel unsere
Knochen brachen. Erst als Dutzende Menschen erschossen auf dem Maidan
lagen, war die EU endlich schockiert.
## Gemeinsam neben Verletzten wachen
Gegen die politische Einsamkeit half die menschliche Nachbarschaft.
Tschechische Ärzte kamen nach Kiew, um die Verwundeten zu versorgen. Oft
war ich im Krankenhaus nahe des Maidan und habe das mit eigenen Augen
gesehen. Ein polnisches Flugzeug flog die Schwerverletzten nach Polen zur
Behandlung aus. In der Klinik nahe meiner Wohnung sprach ich mit Veteranen
des sowjetischen Afghanistankriegs. Gemeinsam wachten wir neben Verletzten
und Leichen, um zu verhindern, dass die Polizei und ihre zivilen Komplizen
sie wegbringen.
Im Laufe der Proteste verwandelte sich der Maidan von einem Platz, auf dem
die Menschen demonstrierten in eine Kosakensiedlung mit Zelten, einer
Küche, einer Bühne, einer Kapelle und einer Offenen Universität. Das alles
umgeben von Barrikaden. Ende Dezember zeigten meine Freunde eine Doku in
dieser Offenen Universität. Der Film hieß „Zhanaosen. Eine unbekannte
Tragödie“. Es ging um den brutal niedergeschlagenen Arbeiterprotest in der
kasachischen Stadt Zhanaosen, der 70 Tote forderte. Der Film wurde nie auf
großen internationalen Festivals gezeigt. Offenbar wollten sich die anderen
Länder, die auf höchster politischer Ebene mit Nursultan Nasarbajew, dem
kasachischen Präsidenten, kooperierten, nicht mit diesem Thema
auseinandersetzen. Ich war gerührt und dachte, so etwas kann bei uns nicht
passieren.
Der Vorwurf des Faschismus war einer der wichtigsten Gründe, den Protest
auf dem Maidan nicht zu unterstützen. Dabei ist Janukowitsch der
ukrainische Faschist Nummer eins. Zusammen mit seinen Oligarchen brachte er
ein politisches Kind namens Swoboda-Partei zur Welt. Nun hatten wir, die
Bürger, die schreckliche Wahl zwischen ihm und der rechten Swoboda als
Opposition. Die Antifaschisten in der Ukraine und der Welt mussten zusehen,
wie die Demonstranten am 18. Februar auf dem Maidan erschossen und mit
Wasser begossen wurden.
Immer noch sehe ich diese Bilder: Der zugenähte Mund des einen, ein
anderer, den die Polizisten zwangen, sich auf Feuerwerkskörper zu setzten,
eine Schwangere, die festgenommen und bis zur Fehlgeburt geschlagen wurde.
Viele könnten solche Geschichte erzählen. Es gab Tage, an denen das
Tränengas unsere Luft war. Und ich frage mich noch immer: Was sollte den
Menschen noch angetan werden, damit die Swoboda-Fahnen auf dem Maidan nicht
schrecklicher schienen?
## Euer Zynismus
Den internationalen Linken, die unsere Proteste wegen der Rechten auf dem
Maidan nicht unterstützten, kann ich nur sagen: Euer Zynismus ist der
kleine Bruder des Kapitalismus! Lenins Denkmäler mögen in der Ukraine
gefallen sein, aber der Geist der Revolution lebt. Aber offenbar begreifen
dogmatische Linke diese Dialektik nicht.
Zu Weihnachten schenkte ich mir selbst neue Schuhe für den Maidan: warme
Stiefel mit hohen Sohlen, die nicht rutschen. Um lange in der Kälte stehen
zu können, haben wir uns Senfpflaster in die Schuhe gelegt. In der
sowjetischen Medizin wurden sie häufig verwendet, weil die Senfpflanze auf
der Haut brennt und dadurch wärmt. Auch eine Thermoskanne mit heißen Tee
hatte ich immer dabei. In den durchwachten Nächten zitterte ich trotzdem
ununterbrochen vor Kälte. Zwar bin ich jetzt weit von Kiew entfernt, aber
das Zittern kommt immer wieder, wenn ich morgens meinen Laptop aufklappe,
die Nachrichten lese und die Livestreams ansehe, die die Menschen auf dem
Maidan ins Internet übertragen.
In diesem Winter haben die Ukrainer den Frost besiegt. Sie packten den
Schnee in Säcke und schichteten diese zu Barrikaden auf.
Ich weiß nicht, wie lange diese Barrikaden noch halten. In der
Frühlingssonne schmilzt der Schnee. Aber ich hoffe, dass wir auch in
Zukunft als Baumaterial für Barrikaden das anwenden, was uns stört und
stoppt.
28 Feb 2014
## AUTOREN
Kateryna Mishchenko
## TAGS
Ukraine
Maidan
Kyjiw
Protest
Opposition
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Staatsbankrott
Barack Obama
Ukraine
Ukraine
Wiktor Janukowitsch
Ukraine
Ukraine
Ukraine
Ukraine
USA
Ukraine
Ukraine
Präsidentschaftswahl
Maidan
## ARTIKEL ZUM THEMA
Debatte Ukraine: Was machen die Oligarchen?
Das Land ist bankrott und zutiefst korrupt. So wird jede finanzielle Hilfe
von außen schwierig. Viel zu privatisieren gibt es in der Ukraine aber
nicht mehr.
Obama zur Krise in der Ukraine: Grenzüberschreitung ohne Folgen
Der amerikanische Präsident findet zwar scharfe Worte gegen Russland –
wirkliche Druckmittel hat er jedoch nicht in der Hand.
Gestürzte ukrainische Führung: Alpenländer sperren Konten
Ausgerechnet die Steueroasen Österreich und Schweiz frieren die
Bankverbindungen Janukowitschs ein. In Deutschland dagegen zögert man.
Historischer Konflikt um die Krim: Seit Jahrhunderten umstritten
Die Mehrheit auf der Krim will eine Annäherung an Russland, die Tataren
wollen nach Europa. Dieser Konflikt ist über Jahrhunderte gewachsen.
Janukowitsch äußert sich in Russland: „Ich bin nicht abgesetzt worden“
Auf einer Pressekonferenz behauptet Viktor Janukowitsch, weiter Präsident
der Ukraine zu sein. Derweil werden seine Schweizer Konten gesperrt, und
auf der Krim brodelt es.
Krise in der Ukraine: Flughafen auf der Krim besetzt
In der Nacht war der Flughafen Simferopol auf der ukrainischen Halbinsel
Krim kurzzeitig besetzt. Ein weiterer Flughafen wird vom russischen Militär
kontrolliert.
Sprachgesetz in der Ukraine: Hier russisch, da ungarisch
Die Ukrainer sind über die Entscheidung des Parlaments empört, den Status
der Regionalsprachen abzuschaffen. Das könnte Separatismus fördern.
Revolution in der Ukraine: Freilichtmuseum Maidan
Nach dem Umsturz wollen sich die Aktivisten in Kiew ihren Sieg nicht
stehlen lassen. Aber was ist jetzt eigentlich noch zu tun?
Umsturz in der Ukraine: Putins Truppen in Alarmbereitschaft
Auf der Krim geraten pro-russische und pro-ukrainische Demonstranten
aneinander. Und Russlands Präsident Putin lässt die Gefechtsbereitschaft
seiner Armee testen.
Drohender Staatsbankrott der Ukraine: Hilfspaket geplant
Die Ukraine steht finanziell am Abgrund. Ohne Interimsregierung wird es aus
dem Westen kein Geld geben. Die USA warnen vor neuem „West gegen Ost“.
Kommentar EU-Hilfen für die Ukraine: Europa hat sich übernommen
Die EU hat den Umsturz in der Ukraine gefördert, doch lange zuvor war klar,
dass sie nicht reif für neue Mitglieder ist. Nun kommt die Rechnung.
Rebecca Harms über die Ukraine: „Keine Rückkehr zum System Putin“
Mitglied der EU wird die Ukraine in absehbarer Zeit nicht werden, sagt
Grünen-Politikerin Rebecca Harms. Wie die Gemeinschaft dem Land trotzdem
helfen kann.
Wahlen in der Ukraine: Klitschko will Präsident werden
Der Boxweltmeister Vitali Klitschko will beim Urnengang im Mai antreten.
Der Aufenthaltsort von Ex-Präsident Janukowitsch ist weiter unbekannt.
Nationalisten in der Ukraine: Der „Rechte Sektor“ will Macht
An den Kämpfen auf dem Maidan war der „Rechte Sektor“ maßgeblich beteilig…
Jetzt greifen seine Anführer nach der Macht. Aber die Menschen sind
misstrauisch.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.