# taz.de -- Revolution in der Ukraine: Freilichtmuseum Maidan | |
> Nach dem Umsturz wollen sich die Aktivisten in Kiew ihren Sieg nicht | |
> stehlen lassen. Aber was ist jetzt eigentlich noch zu tun? | |
Bild: Ein Priester gedenkt in der Nähe des Maidan der Toten. | |
KIEW taz | Die Barrikaden vor den Seitenstraßen des Maidan sind nur noch | |
mannshoch. Bei fast frühlingshaften Temperaturen ist der Schnee in ihnen | |
zum größten Teil weggeschmolzen. Zurückgeblieben sind Autoreifen, | |
Metallstäbe und Metallplatten. Doch genau wie in den vergangenen drei | |
Monaten steigt auch an diesem Tag weißer Rauch aus den Holzöfen der | |
olivgrünen Großzelte und hüllt den zwischen zwei Anhöhen gelegenen | |
Unabhängigkeitsplatz in einen hellen Grauton. | |
Männer der „Kräfte der Selbstverteidigung des Maidan“ mit langen, dichten | |
Schnurrbärten und rußgeschwärzten Händen patrouillieren in Kampfuniform den | |
Kreschtschatik entlang – auf Kiews Flaniermeile, in dessen Zentrum der | |
Maidan liegt. | |
Einige der Männer tragen im Gürtel deutlich sichtbar eine Pistole. Die | |
Straße ist sauber, kaum ein Zigarettenstummel liegt auf dem gepflasterten | |
Weg. Mancherorts sind große Areale von den Pflastersteinen befreit. | |
Sorgfältig aufgeschichtet liegen diese jetzt in kleinen Türmchen auf dem | |
Trottoir, damit sie im Falle eines Angriffs jederzeit verfügbar sind. | |
Auf dem Maidan steht noch immer das Gerüst des Weihnachtsbaums. Dieses | |
abzubauen, hatte man wirklich keine Zeit. Vom überlebensgroßen Plakat | |
„Freiheit für Julia Timoschenko!“ sind dafür nur noch Reste übrig. Dessen | |
Abriss dürfte nicht nur der Tatsache geschuldet sein, dass die Forderung | |
nach Freilassung von Timoschenko inzwischen obsolet geworden ist. Die | |
ehemalige Ministerpräsidentin der Ukraine sitzt längst nicht mehr im | |
Gefängnis. | |
Mittlerweile wird der Hass auf die „korrupte Timoschenko“ größer. Zwei | |
Männer schimpfen bei einem Plastikbecher Tee mit Zitrone über „Julia“ und | |
die anderen Maidan-Führer. Der eine auf Russisch, der andere auf | |
Ukrainisch. Die beiden Männer können es nicht fassen: Timoschenko-Tochter | |
Ewgenija Timoschenko soll am 20. Februar ihren Geburtstag in Rom gefeiert | |
haben. Das haben sie gehört. | |
Ungefähr zur selben Zeit, als die Demonstrierenden auf dem Maidan von den | |
Scharfschützen des stürzenden Präsidenten Wiktor Janukowitsch beschossen | |
wurden. Mehr als 600 Euro soll die Nacht in der italienischen Absteige an | |
der Piazza del Popolo kosten, ereifern sich die beiden. | |
## Beamte verlassen das Land | |
Ein Redner auf der Bühne sucht Freiwillige. Angeblich sollen sich ehemalige | |
hochrangige Janukowitsch-Beamte auf dem Weg zum Flughafen befinden. Es | |
gelte, diese an einer Ausreise zu hindern. Sofort melden sich über ein | |
Dutzend beherzter Männer und machen sich auf den Weg zum Flughafen | |
Borispol. | |
Ansonsten ist die Stimmung gedrückt auf dem Platz. Nach den Adrenalinstößen | |
vom Wochenende setzen nun die Depressionen ein. Vor den Barrikaden stehen | |
Blumen und Fotos der knapp 100 Menschen, die während der | |
Auseinandersetzungen getötet wurden. | |
Die Barrikaden sind durchlässig. In dem Meer aus Blumen wirken sie wie ein | |
Freilichtmuseum eines längst vergangenen Aufstands. Auf der Flaniermeile | |
haben die ersten Cafés wieder geöffnet. Doch sie sind weitgehend leer: 3 | |
Euro für eine Tasse Kaffee kann sich bei Löhnen zwischen 200 und 300 Euro | |
hier kaum jemand leisten. | |
Auch ein Sportgeschäft öffnet wieder seine Türen. Emsig wischen zwei Frauen | |
die Schaufensterscheiben. Drei Tage nach dem ereignisreichen Samstag haben | |
sich deutlich weniger Menschen auf dem Maidan eingefunden. Der verhasste | |
Janukowitsch ist zwar in die Flucht geschlagen. Aber von Sieg will niemand | |
etwas hören. | |
## Aktivisten ohne Anführer | |
Stattdessen wird die Kluft zwischen den Maidan-Demonstranten und ihren | |
vermeintlichen Anführern immer größer. Viele fühlen sich um ihren Sieg | |
betrogen. Dass man sich im Tausch gegen den korrupten Janukowitsch nun mit | |
Timoschenko herumschlagen muss, könne ja wohl nicht das ganze Ergebnis des | |
Aufstands der letzten Monate sein, meinen sie. | |
„Timoschenko hat ihre Bereitschaft zum Gespräch mit Janukowitsch erklärt“, | |
sagt ein Mann mit bösem Lachen. „Aber nur, wenn man ihr Janukowitsch in | |
Ketten vorführe. – Man müsste die ganze Janukowitsch-Bande auf den Maidan | |
bringen und hier öffentlich erschießen“, redet er einer kleinen Gruppe | |
Männer aus der Westukraine zu, die seit Dezember auf diesem Platz | |
ausharren. „Wir dürfen jetzt nicht auf halbem Wege stehen bleiben“, sagt | |
er. „Die Partei der Regionen und die Kommunisten müssen sofort verboten | |
werden. Sonst gehen sie zur Revanche über.“ | |
Plötzlich nehmen die Männer, die vor einem der zahlreichen Stände der | |
Essensausgabe warten, ihre Mützen und Helme ab und eine andächtige Haltung | |
ein. Ukrainische Kosaken nähern sich der Gruppe. Die Kosaken tragen einen | |
aufgebahrten Toten. Hinter dem Sarg gehen weinende Frauen. „Helden sterben | |
nie“, rufen die Menschen den Kosaken zu. Spontan schließen sich einige | |
Frauen dem Zug an. | |
Auf dem Gelände des Michailowskij-Klosters, auf einer Anhöhe, die 200 Meter | |
vom Maidan entfernt ist, hatten sich Demonstranten im Schatten goldener | |
Zwiebeltürme in den letzten Monaten ein Rückzugsgebiet eingerichtet. Jetzt | |
werden ersten Buden und Zelte abgebaut. Wo noch vor Tagen ein reges Treiben | |
herrschte, beladen heute Aktivisten die Anhänger ihrer Autos mit Zelten und | |
Vorräten für den Abtransport. Kaum einer sucht das Gespräch. | |
## Gefürchteter rechter Sektor | |
Die Zelte auf dem Maidan, alle geschmückt mit der gelb-blauen ukrainischen | |
Flagge, werden überwiegend von Anhängern der Klitschko-Partei Udar und der | |
Timoschenko-Partei Batkiwschtschyna bewohnt. Mehrere tausend Menschen | |
besuchen noch den Unabhängigkeitsplatz, doch gerade einmal zwei Dutzend von | |
ihnen sind als militante Aktivisten des Rechten Sektors zu erkennen. Da sie | |
sich von allen anderen Gruppen abschotten, ist ihre tatsächliche Stärke | |
schwer auszumachen. Allerdings sind sie mit geschätzten 200 Personen | |
insgesamt wohl eher eine Minderheit unter den Maidan-Bewohnern. Sie werden | |
von kaum jemandem auf dem Platz geliebt, aber von allen gefürchtet. | |
Der Rechte Sektor ist streng militärisch organisiert. Politische Gespräche | |
mit Außenstehenden sind verboten. Ihre Stärken sind ihr hoher | |
Organisationsgrad, eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit und ihre | |
geschickte Verhandlungsführung bei der Aufteilung der Macht. Im Rechten | |
Sektor hat man erkannt, dass in diesen Tagen die Weichen für die | |
Machtkonstellationen der nächsten Jahre gestellt werden. | |
Während die meisten Maidan-Bewohner der Auffassung sind, dass der Rechte | |
Sektor überproportional stark an der Macht beteiligt wird, sieht man sich | |
dort eher in der Opferrolle: „Wir haben unseren Kopf hingehalten, als die | |
Truppen des Innenministeriums den Maidan beschossen haben. Wir werden von | |
Europa, Russland und unseren eigenen Mitstreitern gehasst. Wir werden bald | |
wieder verfolgt werden“, begründet ein Mann vom Rechten Sektor, warum er | |
sich immer noch nur maskiert auf den Maidan wagt. | |
„Die da oben verhandeln hinter geschlossenen Türen über ihre Posten und wir | |
erfahren alles erst, wenn die Entscheidungen schon getroffen sind“, meint | |
ein alkoholisierter Maidan-Kämpfer aus Kiew. Auch das hat sich verändert: | |
Noch vor Tagen war streng darauf geachtet worden, dass auf dem Maidan kein | |
Alkohol konsumiert wird. Wer erwischt wurde, wurde sofort mit Gewalt vom | |
Platz geführt. | |
## Das Vertrauen des Maidan | |
Dieser Mann kann wie viele andere hier nur erklären, welchen der Führer er | |
nicht mag, weiß aber nicht, wem er die Regierungsverantwortung anvertrauen | |
würde. Einigkeit herrscht nur in einer Frage: Man werde so lange auf dem | |
Maidan bleiben, bis eine Regierung gewählt ist, die das Vertrauen des | |
Maidan hat. | |
Doch wer auch immer in der Regierung sitzen wird – er wird es schwer haben. | |
Die EU, die USA und Russland werden Druck auf die Regierenden ausüben. | |
Manche Entscheidung, die auf diese Weise entsteht, wird den | |
Maidan-Bewohnern gar nicht schmecken. Das ahnen sie heute schon. | |
So sind die Menschen auf dem Maidan ratlos. Sie wollen mit aller Macht | |
etwas verändern. Aber sie wissen nicht mehr, was sie konkret verändern | |
wollen. Seit dem Verschwinden von Janukowitsch fehlt das gemeinsame | |
Feindbild. Und sie spüren, dass die wichtigsten Entscheidungen an ihnen | |
vorbei getroffen werden. | |
Warum eigentlich noch auf dem Maidan stehen, während zu Hause die Familie | |
wartet, fragen sich viele. Für die einen ist der Verbleib auf dem Platz | |
wichtig, weil man nur so Druck auf die Politiker ausüben könne, die man | |
verdächtigt, nur noch an guten Posten in einer Regierung interessiert zu | |
sein. Andere meinen, man müsse jederzeit für einen Gegenschlag der | |
Janukowitsch-Leute gewappnet sein. Den würden diese derzeit im Osten des | |
Landes starten. Wieder andere stimmen mit den Füßen ab und reisen still und | |
heimlich ab. | |
Die nächsten Konflikte sind programmiert. Sie werden wohl künftig zwischen | |
denen ausgetragen, die heute noch einträchtig als Zeltnachbarn auf dem | |
Maidan leben. | |
26 Feb 2014 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
## TAGS | |
Ukraine | |
Maidan | |
Janukowitsch | |
Timoschenko | |
Julia Timoschenko | |
Ukraine | |
Ukraine | |
Wiktor Janukowitsch | |
Ukraine | |
USA | |
Ukraine | |
USA | |
Ukraine | |
Ukraine | |
Präsidentschaftswahl | |
Wiktor Janukowitsch | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Timoschenko tritt bei Präsidentenwahl an: Schießwütige Kandidatin | |
Sie galt als Ikone der Orangenen Revolution, ist in der Ukraine dennoch | |
umstritten. Jetzt erklärt Julia Timoschenko, dass sie Ende Mai Präsidentin | |
werden will. | |
Ein ukrainisches Wörterbuch: Mein Maidan | |
In Kiew auf dem Platz der Unabhängigkeit rast die Zeit. Manche Worte | |
bleiben, andere ändern ihre Bedeutung. Und unterdessen geht die Revolution | |
weiter. | |
Sprachgesetz in der Ukraine: Hier russisch, da ungarisch | |
Die Ukrainer sind über die Entscheidung des Parlaments empört, den Status | |
der Regionalsprachen abzuschaffen. Das könnte Separatismus fördern. | |
Abgesetzter ukrainischer Staatschef: Russland nimmt Janukowitsch auf | |
Russland gewährt Wiktor Janukowitsch Schutz auf seinem Territorium. Er soll | |
sich in einem Sanatorium aufhalten. In Kiew wird der neue Ministerpräsident | |
bestätigt. | |
Kommentar Russland und Ukraine: Putin und die Kettenhunde | |
Es liegt an Putin, ob es im Konflikt mit der Ukraine zum Krieg kommt. Er | |
muss die Demagogen zügeln. Denn eine Eskalation wäre katastrophal – vor | |
allem für die Russen. | |
Ukrainische Halbinsel Krim: Bewaffnete besetzen Parlament | |
Unruhen auf der Krim: Bewaffnete Unbekannte haben offenbar | |
Regierungsgebäude besetzt. Derweil bieten die USA der Ukraine eine | |
Kreditbürgschaft an. | |
Umsturz in der Ukraine: Putins Truppen in Alarmbereitschaft | |
Auf der Krim geraten pro-russische und pro-ukrainische Demonstranten | |
aneinander. Und Russlands Präsident Putin lässt die Gefechtsbereitschaft | |
seiner Armee testen. | |
Drohender Staatsbankrott der Ukraine: Hilfspaket geplant | |
Die Ukraine steht finanziell am Abgrund. Ohne Interimsregierung wird es aus | |
dem Westen kein Geld geben. Die USA warnen vor neuem „West gegen Ost“. | |
Kommentar EU-Hilfen für die Ukraine: Europa hat sich übernommen | |
Die EU hat den Umsturz in der Ukraine gefördert, doch lange zuvor war klar, | |
dass sie nicht reif für neue Mitglieder ist. Nun kommt die Rechnung. | |
Rebecca Harms über die Ukraine: „Keine Rückkehr zum System Putin“ | |
Mitglied der EU wird die Ukraine in absehbarer Zeit nicht werden, sagt | |
Grünen-Politikerin Rebecca Harms. Wie die Gemeinschaft dem Land trotzdem | |
helfen kann. | |
Wahlen in der Ukraine: Klitschko will Präsident werden | |
Der Boxweltmeister Vitali Klitschko will beim Urnengang im Mai antreten. | |
Der Aufenthaltsort von Ex-Präsident Janukowitsch ist weiter unbekannt. | |
Neue ukrainische Regierung: Timoschenko will nach Deutschland | |
Westliche Diplomaten weilen zu Gesprächen in Kiew. Die Wahl eines neuen | |
Ministerpräsident wurde verschoben. Russland erhöht den Druck auf die | |
Regierung. |