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# taz.de -- Diedrich Diederichsens „Über Pop-Musik“: Kein abgeschlossenes …
> Diederichsens Buch „Über Pop-Musik“ ist der geglückte Versuch,
> Pop-Ästhetik und ihre deskriptive Beschreibung um eine
> Rezeptionsgeschichte zu erweitern.
Bild: Pop-Musik nutzt vor allem die technische Tonaufzeichnung als Medium, so D…
Pop-Musik hat ein Bindestrich-Wesen. „Es ist ein Zusammenhang“, schreibt
Diedrich Diederichsen, „aus Bildern, Performances, (meist populärer) Musik,
Texten und an reale Personen geknüpften Erwartungen.“ Er handelt nie nur
von der Melodie, weil ein Song das Leben auf vielgestaltige Weise berührt.
Etwa so: Ich habe zu ihm mit einer faszinierenden Frau getanzt. Die
Crossdresser von der Band tragen fluoreszierende Glitzerstulpen. Dieser
Reim mit dem gelben Unterseeboot erinnert an die Aufwachphase nach der
Blinddarm-OP.
Diedrich Diederichsens Buch „Über Pop-Musik“ ist der Versuch, Pop-Ästhetik
in anderen Kategorien zu fassen, als es die bürgerlich-abendländische
Denktradition bisher getan hat. Ein Grundlagenwerk, bei dem sich Theorie
und deskriptive Beschreibung, Powerchords und Style-Wars in einem
elliptischen Schreibstil abwechseln.
Seiner Meinung nach verfehlen Ansätze zur Beschreibung von Pop, die sich
nur auf musikimmanente Elemente oder ihren sozialen Gebrauch beschränken,
ihre Wirkung. Daher bezeichnet der Autor Pop-Musik analog zum Philosophen
Charles Sanders Peirce und der Fotografie-Theorie von Roland Barthes als
„indexikalische Kunst“. Eine Kunstform, die sich nie im spezifischen
Gegenstand, den dokumentarischen oder künstlerischen Zielen des Urhebers
realisiert, sondern im unwillkürlichen Besonderen, dem „Punctum“, einem
Rezeptionsobjekt.
Ein Beispiel hierfür wäre der berühmte Track „The 900 Number“, den der
US-HipHop-DJ Mark the 45 King auf Basis eines Saxofon-Riffs – einem
Ausschnitt aus dem Song „Unwind yourself“ der Soulsängerin Marva Whitney �…
gesampelt hat. Nicht nur ist dieser Saxofon-Loop aus „The 900 Number“ zur
Signatur von 45 King geworden, seine Version wurde wiederum gesampelt und
gilt als HipHop-Blaupause. Derart anschauliche Verweise – und das ist das
größte Manko des Buchs – fehlen bisweilen.
## Technische Tonaufzeichnung als Medium
Wichtig erscheint Diederichsen die Tatsache, dass Pop-Musik vor allem
technische Tonaufzeichnung als Medium benutzt. Aber vom Speichermedium
machen sich ihre Hörer unabhängig, weil sie sich die Inhalte merken und
variieren. Pop-Musik ist kein abgeschlossenes Projekt, bemerkt
Diederichsen. „Ein gutes Konzert, aber auch andere Erlebnisse […], von der
durchtanzten über die durchkiffte Nacht bis zum Plattenauflegen für andere,
öffnen das Fixierte, das Selbstreferenzielle […] und fügen ihm
Außenrealität hinzu.“
Diedrich Diederichsen ist der rauchende Colt der deutschsprachigen
Popkritik, ein Ballistiker seiner selbst, der zu jeder Schmauchspur den
Beweis führt und obendrein unterhaltsam schreibt. Gern werden ihm
Abgehobenheit und Praxisferne vorgeworfen. Aus „Über Pop-Musik“ spricht
meist das Gegenteil: Diederichsen hat sich in seiner Beziehung zur
Pop-Musik – einem allgemein bekannten, daher auch kontrovers diskutierten
Gegenstand – Respekt bewahrt. Wie in jeder funktionierenden Beziehung
opfert er diesen Respekt nicht für die gute Pointe und rein investigative
Offenlegung ihrer Schattenseiten.
„Pop-Musik wird nach und nach aufgenommen“, schreibt Diederichsen und meint
sowohl die Belegung von Aufnahmespuren auf den Mischpulten im Studio als
auch die Gedächtnisse der Hörer. Für den jeweils neuen Zusammenhang
zwischen professioneller Übermittlung, Gemeinschaftlichem und Privatem
sorgen Musiker und Produzenten, Hersteller auf der einen Seite, aber auch
Hörer, also Fans, Kunden selbst. „Das Format entsteht […] in der
Rezeption.“
## Adornos Kulturindustrie-Kritik stand bisher im Weg
Diese steht auch am Anfang von Diedrichsens Buch. Der Autor berichtet von
eigenen frühen Konzerterfahrungen in Hamburg (der US-Bluesrockgitarrist
Johnny Winter und die Krautelektroniker Cluster). Wie er diese ursprünglich
eingeordnet und später anders interpretiert hat. Hierzulande gibt es bis
jetzt kaum theoretische Auseinandersetzungen mit der Rezipientenseite von
Pop-Musik. Adorno und seine Kritik der Kulturindustrie stehen dem im Weg.
Diederichsen setzt sich intensiv und erhellend mit Adorno und seinen linken
und rechten Apologeten auseinander. Selbstverständlich untersucht er auch
die Geschichte der Pop-Musik unter der Prämisse der Kulturindustrie, aber
neben den Gesetzen des Marktes interessieren ihn der gesellschaftliche
Wandel, in dem die Kultur der Pop-Musik massenhafte Verbreitung findet, und
die Widerstände, die ihr begegnen.
Als Ausgangspunkt sieht Diederichsen Jazz und die Kultur der
Afroamerikaner. Er ordnet deren Musik in den gesellschaftlichen Kontext der
US-Bürgerrechtsbewegung und den Wunsch nach Integration ein. Er erklärt die
Urszene von Rock-Subkultur anhand von Beatpoets und queeren
US-Underground-Filmemachern. Er führt die Lage an, in der Punk entstand,
und warum die unabhängigen Label der späten Siebziger bedeutsam waren. Er
seziert die Unterschiede von Dancefloor und Rockkonzerten sehenden Auges.
„Die Pop-Sozialisierten werden die Augen niemals schließen.“
9 Mar 2014
## AUTOREN
Julian Weber
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