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# taz.de -- Zum 100. Geburtstag von Roland Barthes: Den Kopf heben und träumen
> Roland Barthes war Liebhaber und Praktiker der Abweichung. Sein Schreiben
> wusste zu Beginn nie, wohin es treiben würde.
Bild: Roland Barthes, der uns die Lust am Text gelehrt hat (1970).
Als die Semiologie, die Wissenschaft von den Zeichen, erste akademische
Anerkennung erhielt, interessierte sie ihn schon kaum noch, jedenfalls
nicht als wissenschaftliches Gebäude. Das strukturalistische Label wurde
ihm und anderen ohnehin von außen aufgeklebt. Selbst der berühmte Satz aus
dem Mai 1968, „Die Strukturen gehen nicht demonstrieren“, stammt nicht von
ihm, sondern von einigen seiner Studenten.
Er selbst weigerte sich, die meisten Aufrufe, Appelle und Manifeste zur
Tagespolitik zu unterschreiben, obwohl das doch zu den vornehmsten Aufgaben
eines französischen Intellektuellen zählt. Er war immer schon an einem
anderen Ort, und deshalb findet man bis heute nie den richtigen Platz im
Regal für ihn. Dieser ständige Zwang zum Umräumen stört natürlich die
intellektuelle Ruhe. Deshalb bleibt er lebendig und auf vielfache Weise
unser Zeitgenosse.
Man könnte ihn natürlich einen Essaiisten nennen, bewusst in der
französischen Schreibung, und wäre nah dran. Dieser Liebhaber der Anfänge
und des Fragments hat es mit dem essai als Versuch wirklich ernst gemeint.
Sein Schreiben wusste zu Beginn nie, wohin es treiben würde. Denn er lehnte
nicht nur die doxa ab, die geläufige Meinung, die weniger durch den Inhalt
als durch die Form definiert ist, durch ihre dauernde Wiederholung.
Er verwarf auch die Thesengebäude all derer, die es besser wussten, also
den „Diskurs der Einschüchterung, Unterwerfung, Beherrschung, hochmütigen
Behauptung“ führten. So gesagt im Mai 1978 in der Vorlesung über „das
Neutrum“ am Collège de France, die in der Rezeption gegenüber den
Vorlesungen „Wie zusammen leben?“ und „Die Vorbereitung des Romans“ oft
etwas stiefmütterlich wegkommt, obwohl sie die reichhaltigste, die
unerschöpflichste ist.
Sein Ziel in diesem Teil der Vorlesung war es, herauszufinden, „unter
welchen kritischen Bedingungen ein Diskurs nicht arrogant sein kann“. Dies
wird nota bene gesagt an einem Ort und von einer Position aus, die im
französischen System absolute Autorität verleiht, am Collège de France, wo
Barthes seit 1977 den Lehrstuhl für Literarische Semiologie innehat.
## Mit der Analyse im Streit
In seiner Antrittsvorlesung stellt er sich die Frage, was das Collège
bewogen haben könnte, „ein unsicheres Subjekt aufzunehmen, bei dem jedes
seiner Attribute gewissermaßen von dessen Gegenteil bekämpft wird“. Er
weist darauf hin, dass er „nur Essais“ hervorgebracht habe, eine Gattung,
„die mit der Analyse im Streit liegt“, und schließlich: „Es handelt sich
also um ein unreines Subjekt, das in ein Haus aufgenommen wird, in dem
Wissenschaft, Gelehrsamkeit, Genauigkeit, gezügelte Einfallskraft
herrschen.“
Diese Selbstbeschreibung ist keineswegs Koketterie. Sie sagt im Gegenteil
viel über Barthes’ Blick auf die eigene Arbeit und den eigenen Weg.
„Gezügelte“ Einfallskraft (l’invention disciplinée) war ganz gewiss nic…
seine Stärke (die Spitze gegen die traditionelle universitäre Gelehrsamkeit
ist natürlich nicht zu überhören).
Barthes war ein Liebhaber der Abweichung, und sein Weg bis zur
prestigereichsten Adresse des französischen Wissenschaftsbetriebs war eine
einzige Abweichung vom normalen Gang der französischen Elitezüchtung.
Bedingt war das durch den Ausbruch der klassischen Künstlerkrankheit, der
Tuberkulose. Diese verwehrte ihm den Zugang zu einer der Grandes Écoles und
führte dazu, dass er nach jahrelangen Sanatorienaufenthalten und
Lehrtätigkeiten in Bukarest und Alexandria sein erstes Buch, „Am Nullpunkt
der Literatur“, erst im Alter von fast 38 Jahren veröffentlichte: ein sehr
später Start für eine Karriere als öffentlicher Intellektueller.
## Vor dem arroganten Diskurs bewahrt
Dass er, anders als Foucault (der im Gegensatz zu Barthes aus reichem Hause
kam), die übliche Ochsentour nicht durchlaufen durfte, bewahrte ihn davor,
zu einem Experten zu werden, zu seinem eigenen Glück und zu dem seiner
Leser. Es bewahrte ihn vor dem arroganten Diskurs. Das Eigentümliche seiner
Bücher – jeder darf sich sein Lieblingsbuch aussuchen, sein eigenes war
„Das Reich der Zeichen“, ein Buch, das angeblich von Japan erzählte –
besteht gerade darin, dass sie keine Thesen aufstellen und sich im
Reservoir der Ideen und Theorien je nach Bedarf munter bedienen.
Barthes selbst hat das in dem Fragment „Über mich selbst“ sehr prägnant
beschrieben: „Er geht selten von Ideen aus, um für sie anschließend ein
Bild zu erfinden; er geht von einem sinnlichen Objekt aus und hofft dann,
im Verlauf seiner Arbeit der Möglichkeit zu begegnen, dafür eine
Abstraktion zu finden, die der derzeitigen intellektuellen Bildung
entnommen wird: die Philosophie ist dann nur ein Reservoir besonderer
Bilder, realer Fiktionen (er entleiht Gegenstände, nicht Überlegungen).“
Verständlich, dass die Wissenschaftler mit der gezügelten Einbildungskraft
und die Meisterdenker darüber nicht erfreut waren, aber so muss man
verfahren, um sich nicht vom arroganten Diskurs überwältigen zu lassen. Nur
nebenher sei gesagt, dass Barthes’ Verfahren hier Ähnlichkeit mit Richard
Rortys Umgang mit den großen Denkern hat. Es ist der Umgang des souveränen
Lesers, dessen Lektüre nicht durch Ehrfurcht vor dem Autor oder dem „Werk“,
sondern durch die Lust am Text gesteuert wird.
Barthes hat 1968 über den „Tod des Autors“ geschrieben und später auf die
vielfachen Kontingenzen verwiesen, durch die ein „Werk“ zustande kommt.
Seine eigene Arbeit, darunter eine Vielzahl davon Gelegenheitsarbeiten, die
auf Anfrage geschrieben wurden (bekannt ist, dass er nicht nein sagen
konnte), bezeugt die Fragwürdigkeit der Vorstellung vom „Werk“ am besten.
## Die Lust am Text
Er hat aber auch darauf verwiesen, dass der Tod des Autors gleichzeitig die
Geburt des Lesers ist, dieser bis heute unbekannten und doch so völlig
unverzichtbaren Figur. Schließlich erschafft erst der Leser durch seine
Lektüre das Buch, jeder einzelne neu, während es, wird es gerade nirgendwo
auf der Welt gelesen, mausetot ist. Aber „man versucht herauszufinden, was
der Autor sagen wollte, und mitnichten, was der Leser versteht“. Das ist
bis heute so geblieben, aus dieser Tatsache schöpft die Literaturkritik
ihre Deutungsmacht.
Barthes dagegen hat uns die Lust am Text gelehrt. Die darf nicht in der
unsäglichen Waschzettel- und Rezensentensprache so verstanden werden, dass
ein Buch – wieder einmal! – „einen Sog entwickelt“ oder „ein großes
Lesevergnügen“ verschafft. Der gute Leser, der mit dem Tod des Autors
geboren wird, lässt sich nicht überwältigen und sinkt nicht ohnmächtig
dahin. Keineswegs „verschlingt“ er einen Roman, diese gefräßige Lektürea…
ist ihm zuwider. Er liest, indem er „fortwährend den Kopf hebt, um zu
träumen“, sein „Lesen löst sich vom Buch, um die Welt zu erforschen: ihre
Zeichen, ihre kleinen Sätze, ihre Bilder, ihre Mythen . . .“
Eben so ist Roland Barthes selbst zu lesen. Nicht mit dem Hunger nach Sinn
und der Frage, was er uns sagen wollte. „Schreiben hat nichts mit Bedeuten
zu tun, sondern mit Landvermessen und Kartographieren, auch des gelobten
Landes“, haben Deleuze und Guattari 1973 geschrieben. Eben diese
karthografische Arbeit leisten Barthes’ Texte, egal, ob sie sich dem
Citroën DS zuwenden oder den japanischen Pachinko-Automaten, einer
Erzählung von Balzac oder dem Schlaf. Das macht ihre Unerschöpflichkeit aus
und erklärt die Tatsache, dass Barthes, der die digitale Ära nicht mehr
erlebt hat, noch immer unser Zeitgenosse sein kann.
Er selbst hat sich „nur“ als den imaginären Zeitgenossen seiner Gegenwart
verstanden, „Zeitgenosse ihrer Sprachen, ihrer Utopien, ihrer Systeme (das
heißt ihrer Fiktionen), aber nicht ihrer Geschichte“. Der Schriftsteller
war für ihn der „Mensch des Zwischenraums“, und in diesem Zwischenraum war
er aktiv tätig, als Landvermesser ganz im Sinne von Deleuze und Guattari.
Wenn das gelobte Land vermessen wird, geht es schließlich auch ums Glück,
und „Glück ist vielleicht das, was ich auf der Welt am besten verstehe“,
hat Barthes schon 1946 in einem Brief geschrieben. Als seine Leser, wenn
wir ab und zu den Kopf heben, können wir daran teilhaben.
12 Nov 2015
## AUTOREN
Jochen Schimmang
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