| # taz.de -- Neuer Roman von Anne Serre: Zugreise in die Literatur | |
| > Eine Autorin fährt zu einer Lesung und denkt über Bücher und ihr Leben | |
| > nach. „Einer reist mit“ von Anne Serre ist ein wunderbar eleganter Roman. | |
| Bild: Hier findet ein Literaturfestival statt: Bahnhof von Montauban | |
| Es sei vorweg gesagt: Dies ist ein hinreißendes Buch, obwohl (oder gerade | |
| weil?) es sich nicht um die großen Fragen unserer Zeit schert und keinen | |
| Aktualitätswert aufweist. Oder doch: aber einen unvergänglichen, denn in | |
| diesem Roman dreht sich alles um Literatur, um Lesen und Schreiben und | |
| Bücher. Und um den Betrieb, der um diese Bücher gemacht wird: Lesungen, | |
| Literaturfestivals, Buchmessen, Podiumsdebatten, literarische Quartette, | |
| Preise. | |
| Das ist die Ausgangssituation: Anne Serre begibt sich auf den Weg von ihrer | |
| Pariser Wohnung zum Bahnhof Montparnasse, um dort den TGV [1][nach | |
| Montauban] zu erwischen, wo sie zu einem Literaturfestival eingeladen ist. | |
| Sie ist am Abend zuvor wie immer bei solchen Einladungen versucht gewesen, | |
| sich unter irgendeinem Vorwand zu drücken (beliebt ist der Tod der Mutter, | |
| der allerdings schon Jahrzehnte zurückliegt, oder die schwere Erkrankung | |
| ihres Sohnes, den die kinderlose Autorin nicht hat), aber sie sieht in der | |
| Mehrzahl der Fälle doch ein: „Ich schreibe, also muss ich öffentlich | |
| auftreten, heutzutage ist es nicht möglich, zu schreiben, ohne öffentlich | |
| aufzutreten. Und so gehe ich in acht oder neun von zehn Fällen tapfer hin, | |
| wie ein Soldat oder besser wie eine Schülerin, denn daran erinnert mich der | |
| frühe Morgen: an die unendlich ferne Zeit, als ich ‚die Schule besuchte‘ | |
| und auf die Straße trat, als es noch nicht richtig Tag war.“ | |
| ## Autoren auf der Bühne | |
| Wie alle Schriftstellerinnen weiß Serre natürlich, dass der Autor oder die | |
| Autorin auf der Bühne ein fundamental anderes Wesen ist als die Person, die | |
| schreibt. Jener Autor auf der Bühne, der Autor zum Anfassen, ist kein | |
| Schriftsteller, sondern eine Figur, die eine festgelegte Rolle beim | |
| literarischen Event spielt. Da „treiben wir alle Unsinn“, weiß Serre, | |
| „treten öffentlich auf, halten uns für Rockstars“. Was um so absurder ist, | |
| als der Schriftsteller nie denselben Appeal haben kann wie selbst ein | |
| mittelmäßiger Rockmusiker, was nicht an der Person, sondern am Metier | |
| liegt. | |
| Um sich eine Enttäuschung dieser Art zu ersparen, erzählt Serre, wie sie | |
| zwar zu einer Lesung des katalanischen Autors Enrique Vila-Matas in Paris | |
| gegangen ist, von dem hier noch ausführlicher die Rede sein wird, die | |
| Einladung der Literaturhauschefin zum gemeinsamen Essen danach aber | |
| ausgeschlagen hat: „Ich wollte Vila-Matas nicht treffen, ich wollte ihn | |
| lesen.“ | |
| Das tut sie auch während der siebenstündigen Zugfahrt nach Montauban, die | |
| sich zieht, weil sich Personen auf den Gleisen tummeln. Zwischendurch | |
| wechselt sie ein paar Worte mit ihrer deutschen Kollegin Brigitta, die zum | |
| selben Festival fährt, die zum Glück aber nicht im selben Wagen des TGV | |
| sitzt, denn Anne Serre zieht es vor, beim Zugfahren allein zu sein. | |
| Brigitta hat gerade den Roman „Die Welt von tomorrow“ veröffentlicht und | |
| gehört ebenso zu der nicht unerheblichen Zahl erfundener Autorinnen und | |
| Autoren, die dieses Buch bevölkern (mitsamt ihren erfundenen Zitaten), wie | |
| Herta von Rett oder der Schweizer Jungautor Pierre Pier, Verfasser des | |
| Romans „So herrliche Jahre“. Zu diesen gesellen sich allerdings in | |
| ebenfalls großer Anzahl reale Autoren, aus der Literaturgeschichte oder aus | |
| der Jetztzeit. | |
| ## Die Lust am Text | |
| Von Letzteren nimmt Vila-Matas eine Sonderstellung ein, weil er im selben | |
| Zug mitfährt, auf Platz No. 58: zumindest in der Imagination der Autorin. | |
| Er wird in Montauban sogar das Hotelzimmer direkt neben der Autorin | |
| bewohnen. Diesem imaginären Mitreisenden verdankt das Buch auch seinen | |
| Titel; der Originaltitel lautet „Voyage avec Vila-Matas“. | |
| Mehrfach ist Serre versucht, auszusteigen, unter anderem in Bordeaux, wo | |
| sie geboren ist, um dort vielleicht die Familiengeschichte zu | |
| rekapitulieren, die durch den frühen Tod der Mutter und andere familiäre | |
| Unglücksfälle geprägt ist, nicht nur im Roman, sondern auch in der | |
| Realität. | |
| Anne Serre erzählt in diesem Buch von sehr ernsten Dingen, angefangen mit | |
| der Liebe zur Literatur, aber sie tut das mit einer Heiterkeit, einer | |
| Leichtigkeit und sprachlichen Eleganz, wie ich sie als Leser selten | |
| genossen habe. Die [2][Lust am Text] schlechthin. Das liegt zweifelsfrei an | |
| der ebenso heiteren und eleganten Übersetzung von Patricia Klobusiczky, der | |
| man an keiner Stelle anmerkt, dass es sich um eine Übersetzung handelt, | |
| sondern die einfach das deutsche Original ist. | |
| Nach gut achtzig Seiten, inzwischen ist das Festival vorbei, es gibt eine | |
| rauschende Party im Hotel und plötzlich taucht auch noch Anna Magnani im | |
| Foyer des Hotels auf, „und alle Welt verstummte“, schlüpft Anne Serre in | |
| die Haut von Vila-Matas und präsentiert als Ich-Erzählung den Teil | |
| „Vila-Matas leitet Ermittlungen ein“. Dem katalanischen Autor nämlich wird | |
| von einer ihm unbekannten Frau namens Rosanna Carriera per Mail mitgeteilt, | |
| er sei der Vater ihrer Tochter und diese, bald zwanzig, freue sich sehr, | |
| ihn kennenzulernen. Es lässt sich denken, dass die nun folgenden Seiten | |
| voller zum Teil komischer Verwicklungen sind und am Ende nichts aufgeklärt | |
| wird. | |
| ## Überglücklich, in Paris zu sein | |
| Verblüffend ist aber vor allem, dass, wer Vila-Matas gelesen hat (etwa den | |
| Roman „Montevideo“, ebenfalls voller Verwicklungen), feststellen muss, dass | |
| Anne Serre die bessere Vila-Matas ist. Das Pastiche übertrifft in diesem | |
| Fall das Original, was nicht zuletzt daran liegt, dass bei aller | |
| galoppierenden Fiktion Anne Serres Sprache allzeit gebändigt und konzis | |
| ist, während Vila-Matas zuweilen zur Geschwätzigkeit neigt. | |
| Verlassen wir die Autorin nach dem Abschluss der Reise, „überglücklich, | |
| gleich wieder in Paris zu sein, dort wieder die Taxis, die Sprache, die | |
| Luftverschmutzung vorzufinden, die eiligen Schritte aller Passanten …“ Anne | |
| Serre ist mit ihrem Debüt „Les Gouvenantes“ 1992 auf Anhieb bekannt | |
| geworden. Das Buch liegt ebenfalls in deutscher Fassung von derselben | |
| Übersetzerin im selben Verlag vor. | |
| Da nun aber – von den aktuellen Nachrichten aus dem Literaturbetrieb die | |
| allertraurigste – der Berenberg Verlag im Frühjahr 2026 [3][seine Tätigkeit | |
| einstellt,] ergeht hier am Ende die Aufforderung, dieser Autorin, die | |
| bisher 18 Bücher publiziert hat, eine neue deutsche Heimat zu geben. Und an | |
| die Leserinnen und Leser der Hinweis, dass sie sich um sehr viel Lust am | |
| Text bringen, wenn sie dieses Buch nicht lesen. | |
| 20 Oct 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Zum-70-von-Daniel-Cohn-Bendit/!5014130 | |
| [2] /Zum-100-Geburtstag-von-Roland-Barthes/!5250832 | |
| [3] /Abschied-vom-Berenberg-Verlag/!6112559 | |
| ## AUTOREN | |
| Jochen Schimmang | |
| ## TAGS | |
| Literatur | |
| Reiseland Frankreich | |
| Festival | |
| Zug | |
| Autorin | |
| Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse | |
| Literatur | |
| Michel Foucault | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Hype um Romance-Literatur: Die Lust im Text | |
| Menschen unter 30 greifen immer häufiger zu Lovestorys mit bunten | |
| Buchrücken. Schüttet Romance die Gräben zwischen E- und U-Literatur zu? | |
| Abschied vom Berenberg Verlag: „Nun ist es genug“ | |
| Heinrich von Berenberg möchte keine Bücher mehr verlegen. Das ist schade. | |
| Ausgerechnet zum Abschied könnte der Verlag den Buchpreis kriegen. | |
| Zum 100. Geburtstag von Roland Barthes: Den Kopf heben und träumen | |
| Roland Barthes war Liebhaber und Praktiker der Abweichung. Sein Schreiben | |
| wusste zu Beginn nie, wohin es treiben würde. |