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# taz.de -- Neues Album von Sturgill Simpson: Große Versprechen mit Traumpoesie
> Schlimmer Finger unter den US-Songwritern: Sturgill Simpson und sein
> fabelhaftes Album „Metamodern Sounds in Country Music“.
Bild: Ganz lässig: Sturgill auf Autoreifen.
Die Wahrscheinlichkeit, dass der Titel dieses Albums vor allem wegen seiner
Wortspielqualität gewählt wurde, dass der Künstler sein Werk also nicht
wirklich als Diskursbeitrag versteht, ist hoch. Aber was für eine schöne
Vorstellung, dass der „best new country badass“ des US-Rolling Stone und
„Artist of the year“ 2013 des traditionalistischen Webzines Saving Country
Music in seiner Musik aktuelle philosophische Positionen thematisiert!
Überlässt man die Countrymusik eine Weile dem freien Spiel der Marktkräfte,
treibt es sie aus der rauen Wirklichkeit der Honky Tonks, Trailer-Parks und
überschuldeten Kleinbauernhöfe schnell in Richtung eines überzuckerten,
konfliktbereinigten Popmainstreams. Aber immer wenn es besonders schlimm
geworden ist und man schon meint, die Heimat von Hank Williams, George
Jones und Merle Haggard sei für immer an den Feind verloren, formieren sich
neotraditionalistische Truppen, die einfach schon mit dem Charme ihrer
ungebändigten Raubeinigkeit die Dinge erst mal wieder ins Lot bringen.
So etwa geschieht ungefähr alle zwei Dekaden. Derzeit scheint sich so eine
Bewegung wieder abzuzeichnen beziehungsweise eine Sehnsucht danach unter
den Fans von „real“ Country. Aber die Umstände haben sich ein wenig
geändert. Der Big-Business-Nashville-Sound ist andererseits in der
sterbenden Tonträgerindustrie ein mehr denn je wichtiger Umsatzbringer.
Hinzu kommt der Aufstieg des „Americana“ genannten Genres, das groß genug
ist für alle Country-Outlaws, Folkies, Singer-Songwriter mit
Akustikgitarren bis hin zu Indiebands wie Wilco und Lambchop.
Sturgill Simpson passt so recht unter keines der beiden Dächer. Als
Songwriter, der wortreich komplexe emotionale Zustände thematisiert und
meistens bei dem großen Dualismus Sünde/Vergebung landet, könnte ihn das
Americana-Lager für sich beanspruchen. Aber als Sänger ist er ein bisschen
zu sehr Old-School-Country – sein Gesang erinnert frappierend an Waylon
Jennings.
## Dub Effekte und Retro-Anklänge
Und das, was er dem – dezent – hinzufügt, wird in beiden Camps mit
Misstrauen betrachtet: Dub-Effekte, digitale Verzerrungen und Filter,
Neo-Acid-Rock-Gitarren und Retro-Anklänge - erinnern nicht etwa an das
Goldene Zeitalter der Countrymusik, sondern an die umstrittenen Seventies –
da finden sich elegant-funky Laid-back-Killer-Grooves, wie sie
Nashville-Schlagzeuger wie Jerry Carrigan und Larrie Londin damals auf
unnachahmliche Art perfektionierten.
Aber es werden auch Pedal-Steel-Gitarren durch Leslie-Speaker gejagt,
Fuzz-Gitarren, Phasing und Stereo-Spielereien, wie sie seinerzeit
Nashville-Picker auf Abwegen wie Barefoot Jerry, die Hollywood-Hippies mit
Country-Sehnsucht der Flying Burrito Brothers oder der Ex-Monkee Michael
Nesmith mit seiner First National Band in den Country-Kosmos einführten.
Und um die Dinge noch ein wenig unübersichtlicher zu machen, ist die
einzige Coverversion auf Sturgill Simpsons Album nicht etwa ein Fundstück
aus der unerschöpflichen Schatztruhe des Nashville-Songwriting, sondern mit
„The Promise“ der einzige Hit der obskuren britischen Synthi-Popper When In
Rome (von 1988).
## Freak Folk
Also vielleicht doch ein Diskursbeitrag? Ist das nicht nahe am metamodernen
freien Oszillieren zwischen gegenüberliegenden Polen, zwischen Moderne und
Postmoderne, zwischen hard facts und Traumpoesie, konkreten Utopien und
Sehnsucht nach Vergangenheiten, die es nie gegeben hat, zwischen
„informierter Naivität“ und „pragmatischem Idealismus“, wie es die
Metamodernismus-Hohepriester Timotheus Vermeulen und Robin van den Akker
formulierten?
Im Musiksegment werden gerne Coco Rosie mit ihrer Mischung aus Neuer Musik,
Freak Folk und artiger Songwriterkunst, Antony & the Johnsons mit seiner
Neudefinition dramatischen Soul- und Balladengesangs und Devendra Banhart
mit seiner Selbstinszenierung als tropicalistischer Marc Bolan als
Beispiele einer metamodernen Haltung aufgezählt. Und tatsächlich scheint
Sturgill Simpson hier eher dazu zu passen als in die Heilsbringerrolle, die
ihm die „Saving Country Music“-Puristen zudenken.
Es würde einen auch nicht wundern, wenn er als nächstes à la John Grant ein
pures Synthie-Album macht, nur um mal seinen Punkt klarzumachen. Einzig der
Bezug zu Ray Charles und seinen epochemachenden „Modern Sounds In Country &
Western Music“-Alben hinterlässt ein etwas ungutes Gefühl: Musikalisch
fügten diese Alben dem Genre wenig Neues hinzu, es war die Tatsache, dass
sich ein Afroamerikaner diesem bis dato hermetisch abgeriegelten weißen
Genre zuwandte, die eine Erschütterung auf vielen Ebenen auslöste.
Bis heute hat sich jedoch nichts daran geändert, dass es im Country-Genre
so gut wie keine schwarzen Künstler gibt. Und ein weißer Country-Hick, der
sich auf Ray Charles bezieht, und sei es nur im Wortspiel, sollte diese
Tatsache vielleicht doch mit reflektieren.
17 Jun 2014
## AUTOREN
Detlef Diederichsen
## TAGS
Countrymusic
Nashville
Texas
USA
Neues Album
Diedrich Diederichsen
Diedrich Diederichsen
Country
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