# taz.de -- Sexualwissenschaftler über Jugendliche: „Die Toleranz ist enorm … | |
> Viele Jugendliche akzeptieren Homosexualität, sind aber hinsichtlich | |
> Nacktheit und Abtreibung konservativer als früher, erklärt | |
> Sexualwissenschaftler Konrad Weller. | |
Bild: Schwindender Gender Gap: Jungen werden mittlerweile fast so früh geschle… | |
taz: Herr Weller, in Ihrer Langzeitstudie zur Sexualität Jugendlicher von | |
1972 bis heute stellen Sie fest, dass ein Leben mit weniger Strapazen nicht | |
dazu führt, dass Jugendliche später geschlechtsreif werden. Das hatte man | |
aber angenommen. | |
Konrad Weller: Die sogenannte säkulare Akzeleration, die Vorverlagerung der | |
Geschlechtsreife, gibt es nach wie vor – in den vergangenen hundert Jahren | |
rund drei Jahre. Inzwischen zeigt sich aber ein Wechsel zwischen den | |
Milieus. Früher wurden die Kinder mit einem besseren materiellen | |
Hintergrund früher geschlechtsreif, weil sie besser lebten und sich besser | |
ernähren konnten als Kinder und Jugendliche aus armen Familien. Das ist | |
heute umgekehrt. | |
Wie erklärt sich das? | |
Das könnte ebenfalls mit der Ernährung zusammenhängen. Viele Mädchen und | |
Jungen mit sozial schwachem Hintergrund sind heute übergewichtig. Das | |
könnte dazu führen, dass sie früher geschlechtsreif werden. | |
Haben sozial benachteiligte Jugendliche früher Sex als Gymnasiasten? | |
Häufig. Das hängt aber auch mit der ökonomischen Abhängigkeit und der | |
sozialen Kontrolle durch die Eltern zusammen. Beides ist bei Gymnasiasten | |
in der Regel stärker ausgeprägt. | |
Gibt es Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen? | |
Hinsichtlich der Geschlechtsreife löst sich der sogenannte Gender Gap auf. | |
Waren Mädchen früher „schneller“, etwa anderthalb Jahre, haben die Jungs | |
jetzt aufgeholt. Mädchen haben heute im Alter von durchschnittlich 13,1 | |
Jahren ihre erste Menstruation, Jungen werden heute mit durchschnittlich | |
13,4 Jahren geschlechtsreif. | |
Warum diese Angleichung? | |
Das ist noch nicht ausreichend erforscht. In Abwandlung eines chinesischen | |
Sprichworts: Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht. Ich denke | |
aber, es wächst schneller, wenn man es streichelt… | |
Was heißt das? | |
Jungen beginnen heute früher zu masturbieren. | |
Und werden dadurch eher zum Mann? | |
Möglich. Fakt ist auch, dass Jungen – entgegen allen Vermutungen – nicht | |
häufiger masturbieren als früher. Obwohl sie leichter Zugang zu | |
stimulierenden Medien, sprich: Pornos, haben. Auch die Akzeptanz gegenüber | |
Selbstbefriedigung ist gestiegen. | |
Wie ist das bei den Mädchen? | |
Es gibt heute mehr Mädchen, die masturbieren. Pornografie nutzen sie dazu | |
so gut wie nicht. Mädchen geben in der Studie an, einen Orgasmus eher durch | |
Selbstbefriedigung zu erlangen und nicht durch Sex. Das heißt, sie erkunden | |
ihr Lustpotenzial stärker eigenaktiv und warten nicht mehr auf den Prinzen, | |
der sie wachküsst. | |
Ein weiteres Ergebnis Ihrer Untersuchung ist, dass die Toleranz gegenüber | |
Homosexualität gestiegen ist. | |
Toleranz und Reflektiertheit sind enorm gestiegen. So können sich 62 | |
Prozent der Jungen vorstellen, mit einem Homosexuellen befreundet zu sein. | |
1990 waren das noch 27 Prozent. Bei den Mädchen stieg der Anteil von 62 auf | |
91 Prozent. Wobei die Toleranz gegenüber sexueller Vielfalt | |
bildungsabhängig ist. | |
Wie? | |
Weniger gebildete männliche Jugendliche erleben eine brüchigere | |
Männlichkeit. Aufgrund ihrer vielfach schwierigen Lebenslage und der | |
sozialen Benachteiligung haben sie Männlichkeitsdefizite, die sie unter | |
anderem über Schwulenfeindlichkeit kompensieren und abwehren. | |
Wie wichtig ist Sexualkundeunterricht? | |
Die positiven Befunde unserer Studie sind sicher auch Resultat schulischer | |
Aufklärung und Bildung. Wir sollten bildungspolitisch alles tun, damit das | |
so bleibt. Die Debatte in Baden-Württemberg um den Sexualkundeunterricht | |
zeigt, dass Toleranz gegenüber sexueller Vielfalt keineswegs pädagogischer | |
Nonsens ist. | |
Besteht die Gefahr, dass Gruppen wie evangelikale Sekten oder Bewegungen | |
wie die Tea Party in den USA mit dem Label „Lebensschützer“ hier eine | |
fragwürdige Moral etablieren? | |
Es gibt Bewegungen, die auch bei uns wirken und über das Internet | |
Jugendliche erreichen. So ist etwa die Einstellung zum | |
Schwangerschaftsabbruch bei vielen Jugendlichen heute konservativer als | |
früher. Wir haben zudem festgestellt, dass der Umgang mit Nacktheit nicht | |
mehr so unbefangen ist wie noch vor zwanzig Jahren. Wir führen das unter | |
anderem auf den Diskurs über sexualisierte Gewalt zurück. Sowohl in der | |
Familie als auch in Kitas und Schulen wird mit Nacktheit zurückhaltender | |
umgegangen. | |
Ist das nicht oft übertrieben? | |
Unbeschwerte psychosexuelle Entwicklung von Kindern ist mitunter | |
eingeschränkt – aus Angst vor Übergriffen. Insgesamt aber ist die | |
gewachsene Sensibilität dem lustvollen Miteinander eher zuträglich. | |
3 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
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