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# taz.de -- Wirtschaftshistoriker über Freihandel: „Handel allein macht nich…
> Plagiate, Märkte und Protektionismus: Die Industrieländer sind nicht
> durch den Freihandel aufgestiegen, sagt Peer Vries von der Universität
> Wien.
Bild: Ein Lastkraftwagen an einem Hafen-Terminal in Singapur
taz: Herr Vries, Freihandel ist beliebt. Ein Vertrag namens TTIP wird
gerade zwischen Europa und den USA verhandelt. Die Behauptung ist:
Freihandel würde zu Wachstum führen. Stimmt das?
Peer Vries: So allgemein formuliert ist die These falsch. Die
Wirtschaftsgeschichte zeigt: Handel allein kann kein dauerhaftes Wachstum
schaffen.
Gibt es ein Beispiel?
Die Niederlande waren im 18. Jahrhundert sehr reich durch den Fernhandel,
trotzdem hat sich die Wirtschaft damals nicht weiterentwickelt. Heute ist
Amsterdam eine Touristenattraktion, weil es ein geschlossenes Stadtbild
besitzt. Aber die alten Häuser blieben nur stehen, weil sich Holland spät
industrialisiert hat. Auch Venedig war eine reiche Handelsstadt, die ab dem
16. Jahrhundert stagnierte. Beide Städte zeigen: Handel allein führt nicht
zu dauerhaftem Wachstum. Man muss auch in Innovationen und in neue Produkte
investieren.
Sollte man also auf Freihandel verzichten, wie viele Kritiker fordern? Sie
fürchten, dass Freihandel den Entwicklungsländern schadet: Sie müssten ihre
Rohstoffe zu Niedrigstpreisen verschleudern.
Auch diese These ist zu allgemein. Zum Beispiel sind die Rohstoffpreise
seit 1950 nicht ständig gesunken. Stattdessen ist das Problem vieler
Entwicklungsländer, dass sie nur wenige Produkte exportieren. Die
Rohstoffpreise sinken zwar nicht dauerhaft, aber sie schwanken stark. Diese
Volatilität macht den Entwicklungsländern zu schaffen.
Das erfolgreichste Entwicklungsland ist China, das eine florierende
Industrie besitzt, jedoch keinen Freihandel betreibt – sondern
Protektionismus. Der Yuan ist nicht frei konvertierbar, viele Banken und
Unternehmen sind staatlich, ausländische Direktinvestitionen werden
kontrolliert. Zeigt der chinesische Protektionismus, wie sich
Entwicklungsländer industrialisieren können?
China hat den Vorteil, dass es weit mehr als eine Milliarde Einwohner und
damit einen immensen Binnenmarkt hat. Da ist eine Abschottung nach außen
möglich. Aber dies würde zum Beispiel in Mali nicht funktionieren, das nur
knapp 15 Millionen Menschen zählt. Damit ist das Land zu klein, um sich
hinter Schutzzöllen zu verbarrikadieren und eigenständig eine Computer-
oder eine Autoindustrie aufzuziehen. Es würde an heimischen Kunden fehlen,
um diese gewaltigen Investitionen rentabel zu machen.
Was würden Sie Ländern wie Mali empfehlen?
Sie müssen eine Nische auf dem Weltmarkt finden und exportieren, was Geld
bringt. Die eigentliche Frage ist, was mit den Ausfuhrerlösen passiert. In
vielen Entwicklungsländern werden sie von einer kleinen Oberschicht
abgezweigt, die das Geld auf Schweizer Nummerkonten anlegt. Da kann keine
Entwicklung stattfinden. Der richtige Weg wäre, die Exporterlöse zu nutzen,
um die eigene Produktpalette schrittweise zu erweitern – und höherwertige
Waren herzustellen. Genau diesen Weg sind Japan und die USA im 19.
Jahrhundert gegangen, um den Rückstand zu England aufzuholen.
Dies setzt aber einen starken Staat voraus. Viele Fans des Freihandels
wollen alles dem Markt überlassen.
Ohne einen gut organisierten Staat gibt es kein Wirtschaftswachstum. Markt
und Staat sind keine Gegensätze. Die USA zum Beispiel waren nie eine freie
Marktwirtschaft, sondern haben Schlüsselindustrien wie etwa die Eisenbahn
massiv gefördert und geschützt. Das gilt bis heute: Firmen wie Apple
profitieren extrem von der staatlichen Forschungsförderung.
Ihre These ist also: Der Freihandel ist für die Entwicklungsländer kein
Problem – wenn sie ihre Exporterlöse zu Hause richtig investieren?
Man kann nicht behaupten, dass die Globalisierung den Entwicklungsländern
geschadet hätte. Das Problem ist eher, dass viele Entwicklungsländer von
der Globalisierung ausgeschlossen sind. Die Handelsströme laufen an ihnen
vorbei. Globalisierung heißt bisher, dass vor allem reiche Länder mit
anderen reichen Ländern handeln.
Die Geschichte zeigt, dass fast alle Industrienationen anfangs aufs Plagiat
gesetzt haben. Auch Deutschland konnte im 19. Jahrhundert nur zur
Industrienation aufsteigen, weil die Patente der Engländer gestohlen
wurden. Aber von den heutigen Entwicklungsländern wird verlangt, dass sie
auf Plagiate verzichten. Ist das fair?
Die Bedeutung des Patents wird stark übertrieben. Es kann die Entwicklung
sogar behindern. So hatte James Watt ein lange laufendes Patent auf seine
Dampfmaschine, das er rabiat verteidigt hat. Dies hat die
Industrialisierung in England verlangsamt.
Also Plagiate für alle?
Kein Pharmazieunternehmen würde 500 Millionen Euro investieren, um ein
neues Medikament zu entwickeln, wenn es hinterher nichts einbringt, weil es
überall kopiert wird. Aber es gibt interessante Vorschläge: Patente könnten
weniger lang gültig sein – oder sie könnten auslaufen, wenn sie einen
bestimmten Gewinn abgeworfen haben.
Der Freihandel wurde erstmals ab 1850 eingeführt – von Großbritannien, das
damals das reichste Land der Erde war. Ist Freihandel eine Ideologie der
Mächtigen, die die Konkurrenz nicht fürchten müssen, weil sie sowieso
dominieren?
Großbritannien ist ein interessanter Fall. Es war die weltweit erste
Industrienation, aber seine Textilindustrie hat es ab 1760 noch ganz
klassisch aufgebaut: durch Protektionismus. Der Freihandel wurde erst
eingeführt, als Großbritannien industriell erwachsen war und stark auch auf
Versicherungen, Banken und Schifffahrt setzte. Erst als es zu einem sehr
wichtigen Exporteur von Dienstleistungen wurde, hat Großbritannien den
Freihandel wirklich forciert.
Trotzdem wird der Eindruck erweckt, als ginge es beim Freihandel vor allem
um Waren. Von Dienstleistungen ist fast nie die Rede.
Das ist ein verengter Blick. Heute produzieren die meisten Nationen vor
allem Dienstleistungen. Aber es wird so getan, als wäre der Handelsverkehr
mit Waren dominant. Das hat gefährliche Folgen: Da der Freihandel von
Gütern unproblematisch ist, wird der Eindruck erweckt, als könnte man auch
die Finanzdienstleistungen weltweit deregulieren. Währungen und Derivate
sind jedoch keine normalen Handelsgüter. Es ist gefährlich, wenn täglich
Währungsgeschäfte von fünf Billionen Dollar abgewickelt werden. Das hat mit
der realen Wirtschaft überhaupt nichts mehr zu tun.
22 Apr 2014
## AUTOREN
Ulrike Herrmann
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