# taz.de -- Hoffnungen und Ängste in der Wirtschaft: Die Macht der Erwartung | |
> Jede Investition ist eine Wette auf die Zukunft. Und die ist nicht | |
> beherrschbar, so sehr die Menschen auch danach streben. Ein Essay. | |
Bild: Angebot und Nachfrage für Öl sind unverändert, nur der Preis geht in d… | |
Die Wirtschaft gilt als eine Welt, in der die Zahlen regieren. Das ist | |
falsch. Die Ökonomie wird vor allem durch Erwartungen gesteuert. Hoffnungen | |
und Ängste sind so real wie die Realität – ja sie sind die Wirklichkeit. | |
Die Gegenwart wird von einer imaginierten Zukunft geprägt. | |
Das Prinzip Hoffnung leitet jeden Unternehmer, der in ein Produkt | |
investiert. Er kann nicht sicher wissen, ob seine Waren Kunden finden. | |
Selbst akribische Marktstudien schützen nicht vor Flops, weswegen jede | |
Investition eine Wette auf die Zukunft ist. | |
Auch Geld funktioniert nur, solange die Menschen hoffnungsfroh in die | |
Zukunft blicken. Denn wer Geld akzeptiert, nimmt an, dass es seinen Wert | |
behält. Aus Zeiten der Hyperinflation weiß man, was passiert, wenn dem Geld | |
nicht mehr vertraut wird: Es hört auf zu zirkulieren, die Waren werden | |
gehortet und nur noch gegen andere Waren getauscht. Die Wirtschaft stockt – | |
bis es zu einer Geldreform kommt und das Prinzip Hoffnung wieder | |
funktioniert. | |
Wo Hoffnung ist, sind Ängste, denn die Zukunft ist nicht beherrschbar. | |
Daher haben die Menschen bereits in der Antike ein Instrument erfunden, das | |
die Zukunft zur Gegenwart macht: das Derivat. Es wird vor allem bei Zinsen, | |
Währungen, Rohstoffen und Agrarprodukten eingesetzt, weil dort die Kurse | |
besonders stark schwanken. Das Prinzip ist einfach: Käufer und Verkäufer | |
legen heute fest, welcher Preis künftig gelten soll, zum Beispiel in drei | |
Monaten. Das Unkalkulierbare wird kalkulierbar. | |
Bauern können den Getreidepreis schon vor der Ernte festlegen, | |
Fluggesellschaften sich einen festen Ölpreis sichern, Unternehmen ihre | |
Kredite gegen Zinsrisiken schützen. | |
Aber Derivate sind tückisch: Mit diesen Wetten lässt sich auch reine | |
Spekulation betreiben, ohne dass Grundgeschäfte wie eine Ernte oder | |
Ölimporte existieren. Die Macht der Hoffnung und der Angst ist dann | |
grenzenlos. Denn das Herdenverhalten der Anleger sorgt dafür, dass es sich | |
lohnt, mit der Herde mitzutrampeln – auch wenn die Herde in die falsche | |
Richtung läuft. | |
Dieser Wahnsinn ist beim Ölpreis zu besichtigen. An den „Fundamentaldaten“ | |
hat sich wenig verändert, Angebot und Nachfrage sind weitgehend stabil. | |
Trotzdem ist der Ölpreis in nur vier Monaten um 40 Prozent in die Tiefe | |
gerauscht. Denn die Stimmung unter den Spekulanten hat sich gedreht: Mit | |
Derivaten wetteten sie erst auf steigende Ölpreise – jetzt setzen sie auf | |
sinkende Kurse. | |
## Spur der Zerstörung | |
Obwohl nur mit Erwartungen gehandelt wird, hinterlassen die Spekulanten oft | |
eine Spur der Zerstörung. Sie können Länder in den Abgrund treiben, wie | |
etwa Italien jüngst erleben musste. Jahrzehntelang hat das Land seine | |
Staatsschulden verlässlich bedient – trotzdem brach im Juli 2011 unter den | |
Investoren die irrationale Panik aus, Italien könne in die Pleite rutschen. | |
Die Anleger zogen ihr Geld ab, sodass die Kreditzinsen für Italien in | |
unbezahlbare Höhen schossen. Was die Investoren nur befürchtet hatten, | |
wurde damit wahr: Italien steuerte in den Bankrott. Erwartungen erfüllten | |
sich von selbst, und eine gefürchtete Zukunft wurde zur Gegenwart. | |
Die Eurozone wäre damals explodiert, wenn die Europäische Zentralbank nicht | |
eingegriffen hätte – mit reiner Rhetorik. Am 26. Juli 2012 hielt EZB-Chef | |
Mario Draghi eine Rede, an der nur ein einziger Satz wichtig war: Man werde | |
tun, „was immer auch nötig ist, um den Euro zu retten“. | |
## Psychologische Abwehrmaßnahme | |
Die Investoren verstanden sofort, was diese kurze Aussage meinte. Ab jetzt | |
würde die Notenbank unbegrenzt Staatsanleihen aufkaufen, um die Zinsen für | |
Italien zu senken. Die Panik verebbte sofort, sodass die EZB keine einzige | |
Staatsanleihe erwerben musste. Psychologie hatte ausgereicht, um die | |
Anleger zu beruhigen. | |
Dieses Spiel mit den Erwartungen wiederholt Draghi jetzt. Seit Monaten | |
kündigt er an, dass er eine Billion Euro in die Banken pumpen will. Bisher | |
ist von diesem Geld fast nichts zu sehen, aber das Ziel ist schon erreicht: | |
Der Euro fiel, der Export der Krisenländer wird angekurbelt. | |
Neoliberale verstehen bis heute nicht, warum der Staat ständig in die | |
Wirtschaft eingreift. Sie ignorieren, wie gefährlich es sein kann, dass | |
sich Investoren immer von Hoffnungen und Ängsten leiten lassen. Sobald die | |
Anleger in die Irre rennen, muss der Staat steuern – indem er gezielt neue | |
Erwartungen schürt. Dem Prinzip Hoffnung entkommt keiner. | |
30 Dec 2014 | |
## AUTOREN | |
Ulrike Herrmann | |
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