# taz.de -- Vielfalt der Berliner Clubkultur: Das Nachtleben der Anderen | |
> Der Sound of Berlin war nie nur Punk, New Wave, Techno und Electro. Doch | |
> das wird von einigen Chronisten der Club-Szene gerne übersehen. | |
Bild: Eine Berliner Institution: Wladimir Kaminers (r.) und Yuriy Ghurzys „Ru… | |
Wer sich an die Achtziger erinnern kann, der hat sie nicht erlebt – so | |
lautet ein Bonmot, das dem verstorbenen österreichischen Popstar Falco | |
zugeschrieben wird. Es lässt sich aber problemlos auf jede andere Dekade | |
münzen. Genau darum sollte man die vielen Szene-Rückblicke und | |
Subkultur-Erinnerungen, die in der letzten Zeit Konjunktur haben, mit | |
großer Vorsicht genießen. | |
Die Historisierung des Berliner Nachtlebens ist im vollen Gange. Erst | |
kürzlich erschien etwa ein Buch, das vollmundig versprach, nichts weniger | |
als das „Berliner Nachtleben 1974 bis heute“ zu dokumentieren. | |
Unvermeidliche Berliner Szene-Größen wie Gudrun Gut, Wolfgang Müller oder | |
Jürgen Laarmann durften sich da noch einmal ausgiebig selbst feiern, nur | |
Ben Becker fehlte in dem Reigen. | |
Doch das Berliner Nachtleben war und ist noch viel bunter, als es die | |
vielen – zugegebenermaßen prächtigen – Schnappschüsse überwiegend | |
bleichgesichtiger Partypeople in dem opulenten Bildband vermuten lassen. | |
Denn die Herausgeber haben sich nicht anders verhalten als | |
Szeneclub-Türsteher, die all jenen den Eintritt verwehren, die nicht die | |
richtigen Turnschuhe oder Haarfarben besitzen. Ein unbefangener Betrachter | |
von „Berliner Nachtleben. 1974 bis heute“ könnte deshalb meinen, in Berlin | |
gebe es kaum Einwanderer oder es herrsche eine Ausgangssperre für sie. Das | |
aber grenzt an Geschichtsklitterung. | |
## Botschafter des Ostens | |
Denn Orte, an denen Einwanderer unter sich feiern, gibt es in Berlin viele, | |
und auch Orte, an denen sich die Szenen mischen. Die Russendisko im Kaffee | |
Burger ist so eine Institution. Der Schriftsteller Wladimir Kaminer legt | |
dort einmal im Monat auf, die Atmosphäre ist familiär: Seine Ehefrau Olga | |
sitzt an der Kasse, Freund Yuriy steht hinter dem DJ-Pult, der | |
Bestsellerautor eilt gerade von einer Lesung herein. | |
„Ehrlich gesagt: Ich kann die Musik nicht mehr hören“, gesteht Kaminer. | |
„Jedes Jahr überlegen wir, das zu beenden. Aber es geht nicht. Es wäre | |
Verrat.“ Jetzt sei auch noch eine politische Dimension dazu gekommen. Bei | |
ihrer letzten Party hätten Ukrainer und Russen gemeinsam gefeiert, trotz | |
des Konflikts, erzählt Kaminer stolz. | |
„Je schlechter es einem Land geht, umso spannender wird die Kultur“, glaubt | |
Kaminer. „Denn aus solchen Reibungen entsteht die aufregendste Musik.“ An | |
den Russendisko-Samplern könne man das gut ablesen. | |
Tatsächlich haben Kaminer und sein Kumpel Yuriy Gurzhy osteuropäische | |
Alternativbands mit ihren schmissigen Ska-Beats, Klezmer-Klarinetten und | |
punkigen Kosaken-Chören populär gemacht. Die neueste | |
Russendisko-Compilation nennt sich „Die Lieblingslieder deutscher | |
Taxifahrer“. Darauf finden sich deutsche Bands, die osteuropäische | |
Folklore-Sounds benutzen, und osteuropäische Bands, die auf Deutsch singen. | |
„Das ist die Geburt einer neuen Mischung“, ist Yuriy Gurzhy überzeugt. „… | |
glauben, dass wir daran eine gewisse Mitschuld tragen.“ | |
Auch auf Berlin habe man wohl einen Einfluss gehabt: „Berlin ist viel | |
weltoffener geworden“, findet Kaminer. „Es schmeichelt mir zu denken, das | |
wir dazu beigetragen haben.“ Und diese Veränderung strahle auch auf den | |
Rest der Republik aus: Er merke das, wenn er in Düsseldorf oder München | |
auflege. „Die Leute haben eine musikalische Erziehung genossen.“ Es gebe ja | |
nicht nur die Russendisko, sondern auch zahlreiche Balkan-Partys, in Berlin | |
und anderswo. | |
Tatsächlich ist der Sound von Berlin in den letzten Jahren vielfältiger | |
geworden. Es gibt Robert Soko, der vor zwanzig Jahren erste Partys für | |
Exjugoslawen geschmissen hat und heute mehrere „Balkan-Beats“-Compilations | |
veröffentlicht hat. Es gibt das Yaam, das der Berliner Reggae-Szene einen | |
Platz an der Sonne bietet. Und es gibt die La-Chusma-Crew, die | |
Electro-Cumbias und andere urbane Barrio-Beats unter das Volk bringt. | |
Auch DJ Ipek hat das Berliner Nachtleben geprägt. Ihre Residenz ist die | |
„Gayhane“-Party, der schwul-lesbische Dancefloor im Kreuzberger Kultsaal | |
SO36, bei dem sich Homos und Heteros regelmäßig zu Halay-Klängen in den | |
Armen liegen. Vom schwedischen Queer-Magazin QX wurde sie dafür einmal zum | |
„hippsten DJ Europas“ erklärt. Ihren Signature-Sound aus türkischem House, | |
Orient-Elektronik und Balkantronics nennt sie „Eklektik BerlinIstan“, sie | |
hat ihn schon in London, Kairo und Nowosibirsk aufgelegt. | |
## Queere Orienttronics | |
„Was ich an Berlin schätze, ist die Vielfalt“, resümiert Ipek. Man werde | |
weniger angefeindet als anderswo, wenn der eigene Musikgeschmack nicht in | |
bestehende Schubladen passe. Richtig sei auch, dass Berlin viel | |
internationaler geworden sei: „Mehr Spanier, mehr Israelis“ treffe man in | |
der Stadt an. Aber das wirke sich nicht automatisch auf die Toleranz | |
gegenüber Orientklängen und Middle-East-Samples aus, die DJ Ipek gerne in | |
ihre DJ-Sets streut. „Auf einer normalen Party sind die Hörgewohnheiten | |
damit immer noch schnell überfordert“, hat sie gemerkt. Kurzum: „Die Leute | |
sind offener, aber noch nicht offen genug.“ | |
DJ Ipek passt sich den unterschiedlichen Erwartungen ihres Publikums an und | |
legt auch reine Elektro-Sets auf. Außerdem produziert sie immer mehr eigene | |
Musik, oder sie kuratiert Konzertreihen und Festival-Bühnen. Mehrmals im | |
Jahr fliegt sie nach Istanbul und hält Kontakt zu der dortigen Szene. | |
„Jedes Mal bringe ich neue Einflüsse mit, zuletzt viel türkischen Funk und | |
Psychedelic-Rock.“ Gerne würde sie mal im Berghain auflegen, dem heiligen | |
Gral des Techno. Doch dafür müsse man sich in der recht hermetischen | |
elektronischen Szene erst mal einen Namen machen. „Es ist schwer, da | |
reinzukommen“, seufzt sie. | |
Daniel Haaksman hat daran gar kein Interesse. „Das würde für mich null | |
passen“, glaubt er. „Deren Referenzen sind Detroit und Chicago, meine sind | |
Luanda, Rio, Johannesburg und Maputo. Da prallen moralische und ästhetische | |
Kategorien aufeinander.“ Wie er das meint? „Das Berghain ist sehr | |
protestantisch. Mein Sound ist eher katholisch, oder, besser gesagt, | |
synkretistisch. Schwelgerisch, hedonistisch, vocallastig und | |
effektbeladen.“ | |
## Aha-Erlebnis aus Brasilien | |
Früher war Daniel Haaksman mal Resident-DJ im Cookie’s, damals einer der | |
angesagtesten Clubs der Stadt, doch dann wurde ihm das zu langweilig. „Ich | |
habe mich vor zehn Jahren bewusst aus dem angelsächsischen | |
DJ-Kultur-Komplex verabschiedet“, sagt er. Heute ist er der führende | |
Tropical-Bass-DJ der Stadt, mit seinem Label hat er brasilianische | |
Ghetto-Tec-Stile wie Baile Funk und Tecno Brega in Europa bekannt gemacht. | |
2003 brachte ihm ein Freund, der in Brasilien studiert hatte, neue Musik | |
von dort mit. „Ich war wie vor den Kopf gestoßen“, erinnert sich Haaksman | |
an dieses Aha-Erlebnis. Ein Jahr später flog er selbst nach Brasilien, | |
fortan war es um ihn geschehen. Doch in Berlin dominiere immer noch der | |
„Weißbrot-Sound“, stellt er bedauernd fest. In anderen europäischen Städ… | |
wie London und Paris sei man da offener. Ein Grund, warum Haaksman in | |
Berlin selbst nur rund alle drei Monate auflegt, viel öfters ist er im | |
Ausland unterwegs. | |
Auch mit seiner wöchentlichen Radiosendung beim WDR-Funkhaus Europa | |
erreicht er Hörer in den USA, Brasilien, Frankreich und England, denn die | |
Sendungen werden gestreamt. Durch das Feedback fühlt er sich bestätigt, | |
außerdem sieht er die demografische Entwicklung auf seiner Seite: „Dass in | |
der Club-Szene im Jahrestakt neue tropische Stile aufkommen, ist ein | |
Spiegelbild der Globalisierung.“ In dem Maße, in dem Länder wie Mexiko, | |
Brasilien und Angola ins Netz gingen, würden sich von dort neue Trends | |
durchsetzen: „Kuduro, Mumbaton, Kwaito, Electro-Shangaan – es reißt nicht | |
ab.“ Außerdem sei die Bevölkerung in diesen Ländern viel jünger als in | |
Europa, das färbe auf die Musik ab. Daniel Haaksman ist überzeugt: „Die | |
Zukunft liegt außerhalb Europas.“ | |
20 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Daniel Bax | |
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