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# taz.de -- Agrarkartelle in Ostdeutschland: Die Saat ist aufgegangen
> 25 Jahre nach der Wende müsste die DDR Geschichte sein. Auf den Äckern
> aber existiert sie noch: Es profitieren treue Genossen, die sich das Land
> sicherten.
Bild: Bauern nach der Ernte 1967 der Kooperationsgemeinschaft Gangloftsömmern.
Noch zehn Stunden nach dem Unfall bargen Einsatzkräfte Leichen aus den
Autowracks. Ein Sandsturm hatte im April 2011 zu einer Massenkarambolage
auf der A19, kurz vor Rostock geführt. Acht Menschen starben, 150 waren in
den Unfall verwickelt. Orkanböen waren am Morgen über die weitläufigen
Äcker im Nordosten Mecklenburg-Vorpommerns geweht. Für die Autofahrer
fühlte es sich an, als wären sie von klarer Sicht ins Dunkle gefahren.
Etwas zugespitzt könnte man sagen: Der Unfall auf der Autobahn hat mit der
SED zu tun – und mit Helmut Kohl.
Vielleicht hätten Hecken zwischen den Feldern die Verwehung verhindern
können, aber in erster Linie sind es die riesigen Flächen, die es dem Wind
leicht machten. Ein agrarpolitisches Erbe der SED-Diktatur, das im Prinzip
auf die Güter der preußischen Junker, den ostelbischen Adel zurückgeht.
Dass diese Kontinuität bis heute trägt, daran hat auch der Kanzler der
Einheit entscheidend mitgewirkt. Und alte Seilschaften sorgten dafür, dass
auch im Jahr 25 nach der Wende die Eliten der DDR von den riesigen
Ländereien profitieren: die ehemaligen Chefs der Großbauernhöfe der DDR,
der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, im DDR-Jargon
abgekürzt als LPG.
Den Chefs gelang es nach 1989, sich die wertvollen Ackerflächen dauerhaft
zu sichern. Zu Preisen, die nicht mal der Hälfte des Marktwerts entsprachen
– eine staatliche Milliardensubvention auf Kosten der Steuerzahler.
Einer, der davon erzählen kann, wohnt in Rukieten, einem Dorf in
Mecklenburg-Vorpommern. Am Ende eines Feldwegs, umgeben von weiten
Grünflächen, steht sein Hof. Jörg Gerke lebt hier, seit zwei Jahrzehnten.
Wessi, Niedersachse, Ökobauer, Kritiker der herrschenden Agrarverhältnisse.
Ein kantiger Typ, manche werfen ihm vor, dass er auf dem AfD-nahen Blog
[1][freiewelt.net] schreibt. „Ich lasse mich parteipolitisch nicht
diskreditieren“, sagt er dazu. Ihm geht es um die Äcker in Ostdeutschland.
1994 kaufte er 150 Hektar und baute einen Öko-Landwirtschaftsbetrieb auf.
Mittlerweile bewirtschaftet er mit seinem Sohn rund 300 Hektar. Riesig im
Vergleich zu den Höfen im Westen, die im Durchschnitt 55,8 Hektar groß
sind, aber klein im Vergleich zu seinem Nachbarn, dem 3.000 Hektar gehören.
Roggen, Hafer und anderes Getreide baut er an, hält eine Fleischrinderherde
mit 100 Tieren, die von ihrem Stall auf die Weide zum Grasen trotten. Gerke
ist habilitierter Landwirt, aktiv in der alternativen Arbeitsgemeinschaft
bäuerliche Landwirtschaft e. V. Doch er ahnte damals nichts von dem, was er
heute „ostdeutsches Agrarkartell“ nennt. Er ist überzeugt, dass ein Teil
der DDR noch real existiert, im Jahr 2014.
## „Junkerland in Bauernhand“
Um zu verstehen, wie es dazu kam, muss man zurückblicken. Zwischen 1945 und
1949 enteignet die Sowjetunion alle Bauern, die Flächen über 100 Hektar
besitzen. Sie werden pauschal als Kollaborateure des Naziregimes bestraft.
„Junkerland in Bauernhand“, so die Propaganda – und viele der alten
preußischen Junker galten ja auch als Wegbereiter Hitlers. Die
konfiszierten Äcker und Güter gehen durch diese „Bodenreform“ in
staatlichen Besitz über. Ab 1952 kommt es zu einer weiteren Welle der
Enteignung: der Kollektivierung der Landwirtschaft.
Die Bauern werden gezwungen, ihre Flächen in die LPGs einzubringen. Eine
Maßnahme, die vielen wie eine Enteignung vorkommt, begleitet von
Schauprozessen.
Die Kollektivierung diente „primär der Herrschaftssicherung der SED-Führung
auf dem Land“, erklärt der Agrarexperte und ehemalige Landesbeauftragte für
die Stasi-Unterlagen in Sachsen, Michael Beleites. Aus den Bauern formt das
Regime lohnabhängige Arbeiter, hoch spezialisiert bis zum Schweinebesamer.
Dafür mit geregelten Arbeitszeiten und sozialer Absicherung.
Formell bleiben die Bauern Besitzer ihrer Genossenschaftsanteile. Doch
geführt werden die LPGs von treuen Parteigenossen. Die LPG-Vorsitzenden
galten als roten Barone der DDR, sie waren mächtiger als andere
Funktionäre. Ihre Betriebe überspannten mehrere Dörfer, sie finanzierten
Straßen oder errichteten die für das sozialistische Dorf typischen
Plattenbauten der Landarbeiter. Die waren oft besser in Schuss als die
Unterkünfte der Arbeiter in den Industriestandorten der DDR.
„Die LPG-Chefs waren wichtig, weil sie die Ressourcen verteilten, ihre
Bedeutung für die Diktatur kann nicht hoch genug eingeschätzt werden“, sagt
Jens Schöne, der Stellvertreter des Berliner Landesbeauftragten für die
Unterlagen der Staatssicherheitsdienstes. Für ihn ist es ein gravierender
Mangel, dass das Thema Landwirtschaft bislang kaum aufgearbeitet wurde.
Doch nun hat Brandenburg damit angefangen, ausgerechnet Brandenburg, das
der langjährige Ministerpräsident Manfred Stolpe gern als „kleine DDR“
bezeichnete. Der grüne Landtagsabgeordnete Axel Vogel gab den Anstoß für
die „Enquete-Kommission 5/1“, die vorbildlich für das Erhellen dieses
dunklen Kapitels werden könnte.
Christian Booß arbeitet für die Behörde des Bundesbeauftragten für die
Stasi-Unterlagen am Berliner Alexanderplatz. Für die Enquete-Kommission 5/1
erforschte er unter anderem auch die Transformation der „Vereinigung der
gegenseitigen Bauernhilfe“. Jener Organisation der SED, die die
Kollektivierung von mehreren hunderttausend Bauern in der DDR organisierte.
## Seilschaften nach der Wende
Später, nach der Wende, sichern sich alte Seilschaften einen Großteil der
verstaatlichten Flächen. Auch dabei spielt die Vereinigung der
gegenseitigen Bauernhilfe eine wichtige Rolle. Denn 1990 wird sie nicht
etwa aufgelöst, sondern zu den ostdeutschen Ablegern des bis dahin
westdeutschen Deutschen Bauernverbands – und fungiert als Lobbyorganisation
der Ex-LPG-Bosse.
„Die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe wie die LPGen und ländlichen
Wirtschaftseinrichtungen waren fest im Griff des Ministeriums für
Staatssicherheit“, schreibt der Experte Uwe Bastian in einem Gutachten der
Enquete-Kommission 5/1. Laut Bastian vertreten die im Deutschen
Bauernverband organisierten Ex-Kader heute „eindeutig die Interessen der
LPG-Nachfolger.“
Erster Präsident des neuen Landesbauernverbandes Brandenburg e.V. wird
Heinz-Dieter Nieschke. Der war von 1975 bis 1990 Vorsitzender der LPG
Radensdorf im Spreewald. 2003 folgt ihm Udo Folgart in das Präsidentenamt.
Er tritt später in die SPD ein und ist, wie Nieschke, zugleich
Landtagsabgeordneter und Bauernverbandspräsident in Brandenburg. Folgert
wird überdies stellvertretender Präsident des gesamten Deutschen
Bauernverbandes. Für die SPD ist der Mann so wichtig, dass ihn der damalige
Kanzlerkandidat Frank Walter Steinmeier 2009 in sein Wahlkampfteam holte.
Steinmeier wollte ihn zum Landwirtschaftsminister machen. Folgert arbeitete
von 1982 bis 1986 in leitender Funktion für die LPG Paaren, von 1986 bis
1990 als deren Vorsitzender. Nach der Wende wird die LPG umgewandelt in die
Agro-Glien GmbH Paaren. Geschäftsführer bis heute: Udo Folgart. Ein
erstaunliche Personalunion: Agrarfunktionär, Agrarpolitiker und
Agrargeschäftsmann.
Nach der Wende mussten die LPGs nach gesamtdeutschem Recht umgewandelt
werden. Walter Bayer, Direktor des Instituts für Rechtstatsachenforschung
der Uni Jena, untersuchte die Umwandlungen. Schon Anfang der 1990er Jahre
war die Rede davon, dass hier die Mehrheit der Genossen im großen Stil
betrogen wurden. Bayers mehrjähriges Forschungsprojekt bestätigte das auf
über 900 Seiten: „Nahezu sämtliche 1.719 LPG-Umwandlungen waren
fehlerhaft.“
Die LPG-Nachfolger hätten sich „im Regelfall auf Kosten der
ausscheidungswilligen LPG-Mitglieder zu Unrecht bereichert“. Sie
kalkulierten beispielsweise teure Asbestsanierungen ein, die nie
stattfinden sollten und nur dazu dienten, den Wert der
Genossenschaftsanteile zu drücken. Bauern, die ausschieden, mussten sich
mit weniger Geld zufrieden geben, als ihnen tatsächlich zugestanden hätte.
Der Erfindungsreichtum war groß und summierte sich zu einem riesigen
Wendebetrug. Für Bayer ein Skandal – auch er wurde bis heute nicht
aufgearbeitet.
Bayer forderte deswegen die Mitglieder der Brandenburger Enquete-Kommission
auf, endlich „die personellen Kontinuitäten zwischen LPG-Vorständen und
heutigen Eigentümern der LPG-Nachfolgeunternehmen zu untersuchen“.
## Kohl beruft sich auf die Russen
Nach dem Zusammenbruch der DDR gehen jene Flächen in den Besitz der
Bundesrepublik über, die zuvor durch die Bodenreform enteignet worden waren
und sich im Besitz der DDR befanden. Diese Flächen sollen später
privatisiert werden. Und wieder profitieren die ehemaligen Spitzenkader.
Die Weichen dafür stellt Helmut Kohl, der Kanzler der Einheit.
Am 30. Januar 1991 steht Helmut Kohl im Bonner Bundestag am Rednerpult und
spricht: „Der Fortbestand der Maßnahmen zwischen 1945 und 1949 wurde von
der Sowjetunion zu einer Bedingung für die Wiedervereinigung gemacht. Ich
sage klar: Die Einheit Deutschlands durfte an dieser Frage nicht
scheitern.“
Kohl beruft sich auf eine vermeintliche Forderung der Russen. Sie würden
der Wiedervereinigung nur zustimmen, wenn die Enteignung der Bauern in der
Sowjetischen Besatzungszone nach dem Krieg nicht rückgängig gemacht würden.
Die Politikwissenschaftlerin Constanze Paffrath hat das als Legende
entlarvt. Sie forschte jahrelang zu dem Thema, schrieb 2004 eine
Dissertation, in der sie die Verhandlungen zur Deutschen Einheit
rekonstruierte. Sie resümiert: „Die Forderung seitens der Sowjetunion, das
während ihrer Besatzungszeit konfiszierte Vermögen dürfe nicht an seine
Eigentümer zurückgegeben werden, wurde nachweislich an keinem
Verhandlungstag und auf keiner Verhandlungsebene erhoben.“ Auch Michael
Gorbatschow sagte Anfang 1998, die Frage „nach Restitution wurde auf der
höchsten Führungsebene niemals angesprochen“.
Aus Paffraths Expertise ergeben sich zwei Erklärungen für das Vorgehen
Helmut Kohls: Er wollte keinen Aufstand im Osten riskieren und die ersten
Landtagswahlen gewinnen, außerdem hoffte er darauf, mit den Ackerflächen
und Wäldern die Einheit finanzieren zu können. Bis heute steht das
Restitutionsverbot im Grundgesetz: Artikel 143, Absatz 3.
Nach der Wende besaß die Treuhand Agrarflächen von rund einer Million
Hektar. Für die Verwaltung dieses wertvollen Besitzes wurde 1992 eine Firma
des Bunds zuständig: die BVVG, die Boden Verwertungs- und Verwaltungs GmbH.
## Ex-LPGler kommen zum Zug
Doch schon in den Jahren nach der Wende mussten die Agrarflächen
bewirtschaftet werden. Als Pächter kamen die gut ausgebildeten
Ex-LPG-Vorsitzenden zum Zuge. Sie bauten bereits ihre Nachfolgebetriebe aus
den geplünderten LPGs auf, besaßen die fachliche Expertise und wussten die
Drähte zu den ehemaligen Genossen in den Verwaltungen zu nutzen.
„Man hat sich im Grunde der alten SED-Strukturen bedient“, sagt Christian
Booß von der Stasi-Unterlagen-Behörde. „Zwischen 1990 bis 1991 herrschte
Anarchie. Bis dahin konnten die Landesagrarministerien in Ostdeutschland
gar nicht richtig funktionieren. In dieser Zeit betrieben die alten Kader
erfolgreich Lobbyismus. Sie dockten sich an alle Parteien an und gingen
runter bis auf die Kreisebene. Dort, wo die Fördermittelanträge gestellt,
die Betriebsumgründungen getätigt werden müssen und über die Pachtverträge
für staatliche Ländereien entschieden wurde, saßen die gleichen Leute in
der Verwaltung wie zu SED-Zeiten.“
Die Spitzengenossen wurden Pächter, später gelingt es ihnen durch
geschickten Lobbyismus, die Pachtzeiten zu verlängern – bis heute. Das war
wichtig, denn die Pächter kommen in den Genuss des begehrten Vorkaufrechts.
1994 trat das Gesetz in Kraft, das als Ursprung der Probleme gelten kann.
Das EALG, das „Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz“. Weil mit
Helmut Kohl eine Restitution ausbleiben muss, sollen per Gesetz zumindest
Entschädigungen geleistet werden. Die Opfer der „Bodenreform“ in der
Sowjetischen Besatzungszone und der Zwangskollektivierung sollen
Ackerflächen vergünstigt kaufen können. Zu Preisen deutlich unter der
Hälfte des Marktwerts. Eine Subvention in Milliardenhöhe.
Doch der Kreis der Berechtigten wird unbemerkt erweitert. Und so
profitieren kaum die Alteigentümer von der verbilligten Kaufoption, sondern
wiederum die Ex-LPG-Chefs. Eine Anfrage der Grünen zeigt: Zwischen 1992 und
2011 gingen in ganz Ostdeutschland vergünstigt mehr als 90 Prozent der
Fläche an die Pächter, also die ehemaligen LPG-Chefs. Das gelang, weil das
Gesetz an einer entscheidenden Stelle geändert wurde: Auch jene sollten das
Land vergünstigt bekommen, die ab dem 3. Oktober 1990 ortsansässig waren
und Flächen längerfristig gepachtet hatten. Kriterien, die auf die
Ex-LPG-Chefs wie maßgeschneidert passten.
## Stimmung gegen die Wessis
Die Politik habe die ostdeutsche Landwirtschaft schützen wollen, mit dem
vermeintlichen Ausverkauf an die Wessis sei Stimmung gemacht worden, sagt
ein Erbrechtsfachmann, der auf die Bodenreform spezialisiert ist.
Wer sich die parlamentarischen Dokumente zu dem Gesetz ansieht, stößt auf
Abgeordnete, die sich sehr um die Ex-LPG-Kader bemühten. Gerald Thalheim
etwa, Mitbegründer der Ost-SPD, ersuchte Anfang 1992 „die Bundesregierung,
auch Neueinrichtern, die bis zur politischen Wende im Beitrittsgebiet
gelebt und gearbeitet haben, Finanzierungshilfen zum Flächenerwerb zu
gewähren“. Neueinrichter wurden Landwirte genannt, die einen Betrieb neu
aufbauen wollten.
Gerald Thalheim machte eine Karriere ganz im Sinne der SED. 1973 beendete
er sein Studium als Diplomlandwirt und wurde 1976 promoviert. Zwei Jahre
später leitete er das Labor im Pflanzenschutzamt Karl-Marx-Stadt. 1986
übernahm er die Leitung der Agrochemie in der sächsischen
LPG-Pflanzenproduktion Naundorf im Landkreis Rochlitz. Nach der Wende wird
er Bundestagsabgeordneter, agrarpolitischer Sprecher der SPD und unter
Gerhard Schröder schließlich Parlamentarischer Staatssekretär im
Landwirtschaftsministerium. Heute ist er Vorstand des Mitteldeutschen
Genossenschaftsverbands – in dem viele Ex-LPG-Chefs organisiert sind.
Auch politisch gab es Unterstützung: So schickte Brandenburgs damaliger
SPD-Landwirtschaftsminister Edwin Zimmermann im Januar 1993 einen Brief an
die Bodenkommissionen – Gremien aus Vertretern der Landwirtschaftsämter und
der Verbände, die die BVVG bei der Vergabe der Flächen berieten. Die
Bodenkommissionen sollten „folgende Ziele verfolgen: ’Ansprüche‘ von sog.
Bodenreformopfern bzw. deren Erben bei der Empfehlung keinerlei Beachtung
zu schenken“, schrieb Zimmermann in dem Brief, der der taz vorliegt.
## Verfahren gegen die Bundesrepublik
In der DDR war Zimmermann von 1976 bis 1990 als Leiter für
Transport/Umschlag des Agrotechnischen Zentrums in Hohenseefeld tätig. Er
legte sein Amt aufgrund von Untreuevorwürfen nieder.
Der EU-Kommission stießen die verdeckten Subventionen für die Ex-LPG-Bosse
erst 1998 auf. Sie leitete ein Verfahren gegen die Bundesrepublik ein. In
einer Mitteilung an die Bundesregierung kritisierte die EU-Kommission, dass
unberechtigte Personenkreise in den Genuss vergünstigter Bodenpreise
gekommen seien, die „niemals enteignet worden“ waren.
Das Bundesfinanzministerium lässt im Dezember 1998 die vergünstigten
Verkäufe stoppen. Der Rabatt darf später statt deutlich unter der Hälfte
des Verkehrswerts nur noch 35 Prozent betragen.
Aus Sicht der Bürger müsste die staatliche BVVG möglichst viel Geld mit den
Ackerflächen erzielen. Es geht um Staatseinnahmen. Dennoch werden die
Preise weiter gedrückt. Das ergibt sich aus einem vertraulichen Prüfbericht
des Bundesrechungshofs, der der taz vorliegt. Die Prüfer schreiben am 30.
Mai 2005: „Die BVVG stellte nicht sicher, dass keine unerlaubten Nachlässe
gewährt wurden.“ Die Behörde leitet die Preise von den sogenannten
Regionalen Wertansätzen ab, kurz RWA. Und das, „obwohl häufig Anhaltspunkte
gegen die Eignung der RWA“ sprächen. Die Regionalen Wertansätze wichen „v…
den gesetzlichen Vorgaben ab“. Das sei „nicht im Einklang mit der
Entscheidung der Europäischen Kommission aus dem Jahre 1999“.
Dabei ist das Problem im Bundeslandwirtschaftsministerium längst bekannt.
Schon drei Jahre vor dem Bericht des Rechnungshofs. Das geht aus einem
Dokument hervor, das an die damalige Landwirtschaftsministerin Renate
Künast von den Grünen adressiert ist. Der taz liegt das Schreiben vom 29.
Januar 2002 vor. Ihr Referatsleiter weist die „Frau Bundesministerin“ in
Sachen „Agrarpolitik für die neuen Länder“ darauf hin, dass die „Region…
Wertansätze zum Teil nicht mehr mit den tatsächlichen Realitäten
übereinstimmten“.
Es müsste klar sein, wie heikel das ist: Erneut gewährt der Staat
großzügige Beihilfen an die Ex-SED-Elite, die den Vorgaben der
EU-Kommission widersprechen. Doch auch in einem weiteren
Rechnungshofbericht von 2009 heißt es, die staatliche BVVG prüfte „in
einzelnen Fällen die gesetzlichen Voraussetzungen für den vergünstigten
Flächenerwerb immer noch nicht mit der nötigen Sorgfalt“.
## Klagen von Alteigentümern
Auf der politischen Ebene führen schließlich Klagen von Alteigentümern vor
dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zu Betriebsamkeit. Deswegen
schreibt ein Ministerialdirektor der Abteilung 5 im
Bundeslandwirtschaftsministerium am 10. September 2009 seinem Kollegen vom
Bundesfinanzministerium einen Brief. Er regt an, sich im „Sachvergleich“ zu
einigen. Den finanziellen Ausfällen für das Finanzministerium stehe „die
akute Gefahr gegenüber, dass die EU-Kommission das Verfahren vor dem EuGH
zum Anlass nehmen wird, das z. Z. lediglich ruhende Hauptprüfungsverfahren
gegen Deutschland wegen der Privatisierungstätigkeit der BVVG wieder
aufzugreifen“.
Weiter heißt es: „Die EU-Kommission hatte das Hauptprüfungsverfahren gegen
Deutschland nur unter der Bedingung zum Ruhen gebracht, dass keine weiteren
Klagen oder Beschwerden gegen die Privatisierungspraxis der BVVG
(insbesondere im Zusammenhang mit der Preisermittlung) vorgebracht werden.“
Über die Dimension der Missstände machen sich die Herren nichts vor: „Ich
bin mir sicher, dass ein grundsätzlich neues Aufrollen der
Privatisierungstätigkeit der BVVG auf Ebene der europäischen Institutionen
auch den Interessen des BMF keinesfalls entsprechen wird. Die drohenden
politischen Turbulenzen brauche ich an dieser Stelle nicht nochmals
besonders zu betonen.“
Die Klagen vor dem EuGH scheiterten, aber bis heute pachten und besitzen in
der Mehrheit LPG-Nachfolger die vergünstigten BVVG-Flächen. Michael
Beleites, Sachsens ehemaliger Stasi-Unterlagen-Beauftragter, schätzt, dass
rund zwei Drittel der Flächen an die LPG-Nachfolger fielen. Die Anfrage der
Grünen aus dem Jahr 2012 bestätigt das.
„Wer nicht dazugehört, hat ein Problem“, sagt der Ökobauer Jörg Gerke, d…
1994 in Mecklenburg-Vorpommern anfing. Er zieht die matschigen Gummistiefel
im grob gefliesten Eingang seines Hofs aus.
Aktenordner liegen auf dem Tisch. Darin steht, was passiert, wenn man nicht
dazugehört: Trotz Gerkes Anträgen gelang es ihm nicht, elf Hektar von der
BVVG zu pachten oder zu kaufen. Begründung: Die elf Hektar seien für den
ebenfalls interessierten Konkurrenten für dessen Weiterbetrieb unabdingbar.
Gerke klagte auf Akteneinsicht. Er wollte wissen, wie groß der Konkurrent
sei, der so dringend auf elf Hektar angewiesen sein sollte. Doch zehn Jahre
lang verwehrte die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben
die Akteneinsicht. Am 14. März 2014 erhielt Gerke schließlich die
Information: Die Größe des Konkurrenten beträgt „insgesamt ca. 3.073,0 ha�…
Ein Gigant – und LPG-Nachfolger.
## Neue alte Großherzogtümer
2008 schrieb Gerke über diesen Komplex eine umfassend recherchierte Studie.
„Nehmt und euch wird gegeben“ heißt das Buch über das Agrarkartell. Es
folgte: nichts. Gerke schätzt, dass sich die Beihilfen für die Agrarkader
auf einen zweistelligen Milliardenbeitrag summiert haben.
Wer Gerkes Hof in Rukieten hinter sich lässt und die Landstraßen entlang
fährt, bekommt einen Eindruck von der Weite der Ackerflächen, die zehnmal
so groß sind wie die westdeutscher Betriebe. Erst am Horizont enden die
neuen alten Großherzogtümer. Dazwischen verfallene Dörfer und die Ruinen
alter Gutshöfe. Ähnliche Ansichten findet man überall in Ostdeutschland.
Die Steuerzahler finanzierten die Genossen nicht nur durch den
vergünstigten Kauf oder die Dumpingpacht. Vermutlich noch lukrativer sind
die Subventionen, die mittlerweile an die Flächen gekoppelt sind. Je größer
die Fläche, desto höher die Ausschüttung. Bei Pachten von teilweise unter
100 Euro pro Hektar und Subventionen von 300 Euro pro Hektar, könnte es
sich lohnen, gar nichts anzubauen. Die Fläche allein ist das Produkt und
bringt Geld.
Die konservierte DDR-Agrarlandschaft macht die Böden deswegen für Konzerne
zum Investionsobjekt. Erst die riesigen zusammenhängenden Flächen der
Ex-LPG-Großbetriebe machen die flächengebundenen Prämien für Unternehmen
wie KTG Agrar, Steinhoff Holding oder die Lindhorst-Gruppe so lukrativ. Sie
haben bereits tausende Hektar in Ostdeutschland erworben. Sie mussten dafür
nicht mühsam einzelne Hektar ankaufen, sondern schlucken einfach die
Ex-LPGs.
## Künstlich knapp gehaltenes Angebot
Allein zwischen 2003 und 2012 wuchs der Wert eines Hektars Land in
Ostdeutschland laut Statistischem Bundesamt um 150 Prozent auf 9.593 Euro;
in den anderen Bundesländern um 35 Prozent auf 22.267 Euro. Der Preissprung
beruht darauf, dass die Äcker so lange so günstig für die Ex-LPG-Chefs
gehalten wurden. Außerdem wurde das Angebot durch die einseitige
Bodenvergabe künstlich knapp gehalten – von alledem profitierten fast
ausschließlich die alten Genossen, die nun ihre Betriebe mit satten
Gewinnen Konzernen überschreiben können.
Eine Ökonomisierung des Bodens, die auf ostdeutsche Großbetrieben geeicht
worden war. Der Greifswalder Geograf Helmut Klüter kommt in einer Expertise
aus dem Jahr 2012 zu anschaulichen Ergebnissen: „Im Industrieland
Nordrhein-Westfalen können in der Landwirtschaft mehr als dreimal so viele
Arbeitnehmer pro Hektar Geld verdienen“ als im Osten.
Dort beackern haushohe Mähdrescher die Flächen, überwacht von Drohnen. Doch
die landwirtschaftlichen Bruttoverdienste „liegen sogar noch unter denen
der Niedriglohnbranche Gastgewerbe.“ Effizient muss eine so gelenkte
Wirtschaft nicht sein. Klüter schreibt: „Berücksichtigt man, dass der Wert
für Brandenburg von etwa 800 Millionen Euro (2009) durch über 540 Millionen
Euro an EU-Mitteln gestützt wurde, dann war die Flächenproduktivität der
Landwirtschaft zu DDR-Zeiten höher als heute. Das gilt auch für die anderen
ostdeutschen Flächenländer.“
Klüter vergleicht die Ex-LPG-Großbetriebe mit den Gütern der Junker. Er
bezeichnet den heutigen Zustand als „neofeudale Landverteilung“.
Tatsächlich sind die heutigen Betriebe noch größer als die des alten Adels.
1 Jun 2014
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[1] http://freiewelt.net
## AUTOREN
Kai Schlieter
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