# taz.de -- Agrarkartelle in Ostdeutschland: Die Saat ist aufgegangen | |
> 25 Jahre nach der Wende müsste die DDR Geschichte sein. Auf den Äckern | |
> aber existiert sie noch: Es profitieren treue Genossen, die sich das Land | |
> sicherten. | |
Bild: Bauern nach der Ernte 1967 der Kooperationsgemeinschaft Gangloftsömmern. | |
Noch zehn Stunden nach dem Unfall bargen Einsatzkräfte Leichen aus den | |
Autowracks. Ein Sandsturm hatte im April 2011 zu einer Massenkarambolage | |
auf der A19, kurz vor Rostock geführt. Acht Menschen starben, 150 waren in | |
den Unfall verwickelt. Orkanböen waren am Morgen über die weitläufigen | |
Äcker im Nordosten Mecklenburg-Vorpommerns geweht. Für die Autofahrer | |
fühlte es sich an, als wären sie von klarer Sicht ins Dunkle gefahren. | |
Etwas zugespitzt könnte man sagen: Der Unfall auf der Autobahn hat mit der | |
SED zu tun – und mit Helmut Kohl. | |
Vielleicht hätten Hecken zwischen den Feldern die Verwehung verhindern | |
können, aber in erster Linie sind es die riesigen Flächen, die es dem Wind | |
leicht machten. Ein agrarpolitisches Erbe der SED-Diktatur, das im Prinzip | |
auf die Güter der preußischen Junker, den ostelbischen Adel zurückgeht. | |
Dass diese Kontinuität bis heute trägt, daran hat auch der Kanzler der | |
Einheit entscheidend mitgewirkt. Und alte Seilschaften sorgten dafür, dass | |
auch im Jahr 25 nach der Wende die Eliten der DDR von den riesigen | |
Ländereien profitieren: die ehemaligen Chefs der Großbauernhöfe der DDR, | |
der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, im DDR-Jargon | |
abgekürzt als LPG. | |
Den Chefs gelang es nach 1989, sich die wertvollen Ackerflächen dauerhaft | |
zu sichern. Zu Preisen, die nicht mal der Hälfte des Marktwerts entsprachen | |
– eine staatliche Milliardensubvention auf Kosten der Steuerzahler. | |
Einer, der davon erzählen kann, wohnt in Rukieten, einem Dorf in | |
Mecklenburg-Vorpommern. Am Ende eines Feldwegs, umgeben von weiten | |
Grünflächen, steht sein Hof. Jörg Gerke lebt hier, seit zwei Jahrzehnten. | |
Wessi, Niedersachse, Ökobauer, Kritiker der herrschenden Agrarverhältnisse. | |
Ein kantiger Typ, manche werfen ihm vor, dass er auf dem AfD-nahen Blog | |
[1][freiewelt.net] schreibt. „Ich lasse mich parteipolitisch nicht | |
diskreditieren“, sagt er dazu. Ihm geht es um die Äcker in Ostdeutschland. | |
1994 kaufte er 150 Hektar und baute einen Öko-Landwirtschaftsbetrieb auf. | |
Mittlerweile bewirtschaftet er mit seinem Sohn rund 300 Hektar. Riesig im | |
Vergleich zu den Höfen im Westen, die im Durchschnitt 55,8 Hektar groß | |
sind, aber klein im Vergleich zu seinem Nachbarn, dem 3.000 Hektar gehören. | |
Roggen, Hafer und anderes Getreide baut er an, hält eine Fleischrinderherde | |
mit 100 Tieren, die von ihrem Stall auf die Weide zum Grasen trotten. Gerke | |
ist habilitierter Landwirt, aktiv in der alternativen Arbeitsgemeinschaft | |
bäuerliche Landwirtschaft e. V. Doch er ahnte damals nichts von dem, was er | |
heute „ostdeutsches Agrarkartell“ nennt. Er ist überzeugt, dass ein Teil | |
der DDR noch real existiert, im Jahr 2014. | |
## „Junkerland in Bauernhand“ | |
Um zu verstehen, wie es dazu kam, muss man zurückblicken. Zwischen 1945 und | |
1949 enteignet die Sowjetunion alle Bauern, die Flächen über 100 Hektar | |
besitzen. Sie werden pauschal als Kollaborateure des Naziregimes bestraft. | |
„Junkerland in Bauernhand“, so die Propaganda – und viele der alten | |
preußischen Junker galten ja auch als Wegbereiter Hitlers. Die | |
konfiszierten Äcker und Güter gehen durch diese „Bodenreform“ in | |
staatlichen Besitz über. Ab 1952 kommt es zu einer weiteren Welle der | |
Enteignung: der Kollektivierung der Landwirtschaft. | |
Die Bauern werden gezwungen, ihre Flächen in die LPGs einzubringen. Eine | |
Maßnahme, die vielen wie eine Enteignung vorkommt, begleitet von | |
Schauprozessen. | |
Die Kollektivierung diente „primär der Herrschaftssicherung der SED-Führung | |
auf dem Land“, erklärt der Agrarexperte und ehemalige Landesbeauftragte für | |
die Stasi-Unterlagen in Sachsen, Michael Beleites. Aus den Bauern formt das | |
Regime lohnabhängige Arbeiter, hoch spezialisiert bis zum Schweinebesamer. | |
Dafür mit geregelten Arbeitszeiten und sozialer Absicherung. | |
Formell bleiben die Bauern Besitzer ihrer Genossenschaftsanteile. Doch | |
geführt werden die LPGs von treuen Parteigenossen. Die LPG-Vorsitzenden | |
galten als roten Barone der DDR, sie waren mächtiger als andere | |
Funktionäre. Ihre Betriebe überspannten mehrere Dörfer, sie finanzierten | |
Straßen oder errichteten die für das sozialistische Dorf typischen | |
Plattenbauten der Landarbeiter. Die waren oft besser in Schuss als die | |
Unterkünfte der Arbeiter in den Industriestandorten der DDR. | |
„Die LPG-Chefs waren wichtig, weil sie die Ressourcen verteilten, ihre | |
Bedeutung für die Diktatur kann nicht hoch genug eingeschätzt werden“, sagt | |
Jens Schöne, der Stellvertreter des Berliner Landesbeauftragten für die | |
Unterlagen der Staatssicherheitsdienstes. Für ihn ist es ein gravierender | |
Mangel, dass das Thema Landwirtschaft bislang kaum aufgearbeitet wurde. | |
Doch nun hat Brandenburg damit angefangen, ausgerechnet Brandenburg, das | |
der langjährige Ministerpräsident Manfred Stolpe gern als „kleine DDR“ | |
bezeichnete. Der grüne Landtagsabgeordnete Axel Vogel gab den Anstoß für | |
die „Enquete-Kommission 5/1“, die vorbildlich für das Erhellen dieses | |
dunklen Kapitels werden könnte. | |
Christian Booß arbeitet für die Behörde des Bundesbeauftragten für die | |
Stasi-Unterlagen am Berliner Alexanderplatz. Für die Enquete-Kommission 5/1 | |
erforschte er unter anderem auch die Transformation der „Vereinigung der | |
gegenseitigen Bauernhilfe“. Jener Organisation der SED, die die | |
Kollektivierung von mehreren hunderttausend Bauern in der DDR organisierte. | |
## Seilschaften nach der Wende | |
Später, nach der Wende, sichern sich alte Seilschaften einen Großteil der | |
verstaatlichten Flächen. Auch dabei spielt die Vereinigung der | |
gegenseitigen Bauernhilfe eine wichtige Rolle. Denn 1990 wird sie nicht | |
etwa aufgelöst, sondern zu den ostdeutschen Ablegern des bis dahin | |
westdeutschen Deutschen Bauernverbands – und fungiert als Lobbyorganisation | |
der Ex-LPG-Bosse. | |
„Die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe wie die LPGen und ländlichen | |
Wirtschaftseinrichtungen waren fest im Griff des Ministeriums für | |
Staatssicherheit“, schreibt der Experte Uwe Bastian in einem Gutachten der | |
Enquete-Kommission 5/1. Laut Bastian vertreten die im Deutschen | |
Bauernverband organisierten Ex-Kader heute „eindeutig die Interessen der | |
LPG-Nachfolger.“ | |
Erster Präsident des neuen Landesbauernverbandes Brandenburg e.V. wird | |
Heinz-Dieter Nieschke. Der war von 1975 bis 1990 Vorsitzender der LPG | |
Radensdorf im Spreewald. 2003 folgt ihm Udo Folgart in das Präsidentenamt. | |
Er tritt später in die SPD ein und ist, wie Nieschke, zugleich | |
Landtagsabgeordneter und Bauernverbandspräsident in Brandenburg. Folgert | |
wird überdies stellvertretender Präsident des gesamten Deutschen | |
Bauernverbandes. Für die SPD ist der Mann so wichtig, dass ihn der damalige | |
Kanzlerkandidat Frank Walter Steinmeier 2009 in sein Wahlkampfteam holte. | |
Steinmeier wollte ihn zum Landwirtschaftsminister machen. Folgert arbeitete | |
von 1982 bis 1986 in leitender Funktion für die LPG Paaren, von 1986 bis | |
1990 als deren Vorsitzender. Nach der Wende wird die LPG umgewandelt in die | |
Agro-Glien GmbH Paaren. Geschäftsführer bis heute: Udo Folgart. Ein | |
erstaunliche Personalunion: Agrarfunktionär, Agrarpolitiker und | |
Agrargeschäftsmann. | |
Nach der Wende mussten die LPGs nach gesamtdeutschem Recht umgewandelt | |
werden. Walter Bayer, Direktor des Instituts für Rechtstatsachenforschung | |
der Uni Jena, untersuchte die Umwandlungen. Schon Anfang der 1990er Jahre | |
war die Rede davon, dass hier die Mehrheit der Genossen im großen Stil | |
betrogen wurden. Bayers mehrjähriges Forschungsprojekt bestätigte das auf | |
über 900 Seiten: „Nahezu sämtliche 1.719 LPG-Umwandlungen waren | |
fehlerhaft.“ | |
Die LPG-Nachfolger hätten sich „im Regelfall auf Kosten der | |
ausscheidungswilligen LPG-Mitglieder zu Unrecht bereichert“. Sie | |
kalkulierten beispielsweise teure Asbestsanierungen ein, die nie | |
stattfinden sollten und nur dazu dienten, den Wert der | |
Genossenschaftsanteile zu drücken. Bauern, die ausschieden, mussten sich | |
mit weniger Geld zufrieden geben, als ihnen tatsächlich zugestanden hätte. | |
Der Erfindungsreichtum war groß und summierte sich zu einem riesigen | |
Wendebetrug. Für Bayer ein Skandal – auch er wurde bis heute nicht | |
aufgearbeitet. | |
Bayer forderte deswegen die Mitglieder der Brandenburger Enquete-Kommission | |
auf, endlich „die personellen Kontinuitäten zwischen LPG-Vorständen und | |
heutigen Eigentümern der LPG-Nachfolgeunternehmen zu untersuchen“. | |
## Kohl beruft sich auf die Russen | |
Nach dem Zusammenbruch der DDR gehen jene Flächen in den Besitz der | |
Bundesrepublik über, die zuvor durch die Bodenreform enteignet worden waren | |
und sich im Besitz der DDR befanden. Diese Flächen sollen später | |
privatisiert werden. Und wieder profitieren die ehemaligen Spitzenkader. | |
Die Weichen dafür stellt Helmut Kohl, der Kanzler der Einheit. | |
Am 30. Januar 1991 steht Helmut Kohl im Bonner Bundestag am Rednerpult und | |
spricht: „Der Fortbestand der Maßnahmen zwischen 1945 und 1949 wurde von | |
der Sowjetunion zu einer Bedingung für die Wiedervereinigung gemacht. Ich | |
sage klar: Die Einheit Deutschlands durfte an dieser Frage nicht | |
scheitern.“ | |
Kohl beruft sich auf eine vermeintliche Forderung der Russen. Sie würden | |
der Wiedervereinigung nur zustimmen, wenn die Enteignung der Bauern in der | |
Sowjetischen Besatzungszone nach dem Krieg nicht rückgängig gemacht würden. | |
Die Politikwissenschaftlerin Constanze Paffrath hat das als Legende | |
entlarvt. Sie forschte jahrelang zu dem Thema, schrieb 2004 eine | |
Dissertation, in der sie die Verhandlungen zur Deutschen Einheit | |
rekonstruierte. Sie resümiert: „Die Forderung seitens der Sowjetunion, das | |
während ihrer Besatzungszeit konfiszierte Vermögen dürfe nicht an seine | |
Eigentümer zurückgegeben werden, wurde nachweislich an keinem | |
Verhandlungstag und auf keiner Verhandlungsebene erhoben.“ Auch Michael | |
Gorbatschow sagte Anfang 1998, die Frage „nach Restitution wurde auf der | |
höchsten Führungsebene niemals angesprochen“. | |
Aus Paffraths Expertise ergeben sich zwei Erklärungen für das Vorgehen | |
Helmut Kohls: Er wollte keinen Aufstand im Osten riskieren und die ersten | |
Landtagswahlen gewinnen, außerdem hoffte er darauf, mit den Ackerflächen | |
und Wäldern die Einheit finanzieren zu können. Bis heute steht das | |
Restitutionsverbot im Grundgesetz: Artikel 143, Absatz 3. | |
Nach der Wende besaß die Treuhand Agrarflächen von rund einer Million | |
Hektar. Für die Verwaltung dieses wertvollen Besitzes wurde 1992 eine Firma | |
des Bunds zuständig: die BVVG, die Boden Verwertungs- und Verwaltungs GmbH. | |
## Ex-LPGler kommen zum Zug | |
Doch schon in den Jahren nach der Wende mussten die Agrarflächen | |
bewirtschaftet werden. Als Pächter kamen die gut ausgebildeten | |
Ex-LPG-Vorsitzenden zum Zuge. Sie bauten bereits ihre Nachfolgebetriebe aus | |
den geplünderten LPGs auf, besaßen die fachliche Expertise und wussten die | |
Drähte zu den ehemaligen Genossen in den Verwaltungen zu nutzen. | |
„Man hat sich im Grunde der alten SED-Strukturen bedient“, sagt Christian | |
Booß von der Stasi-Unterlagen-Behörde. „Zwischen 1990 bis 1991 herrschte | |
Anarchie. Bis dahin konnten die Landesagrarministerien in Ostdeutschland | |
gar nicht richtig funktionieren. In dieser Zeit betrieben die alten Kader | |
erfolgreich Lobbyismus. Sie dockten sich an alle Parteien an und gingen | |
runter bis auf die Kreisebene. Dort, wo die Fördermittelanträge gestellt, | |
die Betriebsumgründungen getätigt werden müssen und über die Pachtverträge | |
für staatliche Ländereien entschieden wurde, saßen die gleichen Leute in | |
der Verwaltung wie zu SED-Zeiten.“ | |
Die Spitzengenossen wurden Pächter, später gelingt es ihnen durch | |
geschickten Lobbyismus, die Pachtzeiten zu verlängern – bis heute. Das war | |
wichtig, denn die Pächter kommen in den Genuss des begehrten Vorkaufrechts. | |
1994 trat das Gesetz in Kraft, das als Ursprung der Probleme gelten kann. | |
Das EALG, das „Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz“. Weil mit | |
Helmut Kohl eine Restitution ausbleiben muss, sollen per Gesetz zumindest | |
Entschädigungen geleistet werden. Die Opfer der „Bodenreform“ in der | |
Sowjetischen Besatzungszone und der Zwangskollektivierung sollen | |
Ackerflächen vergünstigt kaufen können. Zu Preisen deutlich unter der | |
Hälfte des Marktwerts. Eine Subvention in Milliardenhöhe. | |
Doch der Kreis der Berechtigten wird unbemerkt erweitert. Und so | |
profitieren kaum die Alteigentümer von der verbilligten Kaufoption, sondern | |
wiederum die Ex-LPG-Chefs. Eine Anfrage der Grünen zeigt: Zwischen 1992 und | |
2011 gingen in ganz Ostdeutschland vergünstigt mehr als 90 Prozent der | |
Fläche an die Pächter, also die ehemaligen LPG-Chefs. Das gelang, weil das | |
Gesetz an einer entscheidenden Stelle geändert wurde: Auch jene sollten das | |
Land vergünstigt bekommen, die ab dem 3. Oktober 1990 ortsansässig waren | |
und Flächen längerfristig gepachtet hatten. Kriterien, die auf die | |
Ex-LPG-Chefs wie maßgeschneidert passten. | |
## Stimmung gegen die Wessis | |
Die Politik habe die ostdeutsche Landwirtschaft schützen wollen, mit dem | |
vermeintlichen Ausverkauf an die Wessis sei Stimmung gemacht worden, sagt | |
ein Erbrechtsfachmann, der auf die Bodenreform spezialisiert ist. | |
Wer sich die parlamentarischen Dokumente zu dem Gesetz ansieht, stößt auf | |
Abgeordnete, die sich sehr um die Ex-LPG-Kader bemühten. Gerald Thalheim | |
etwa, Mitbegründer der Ost-SPD, ersuchte Anfang 1992 „die Bundesregierung, | |
auch Neueinrichtern, die bis zur politischen Wende im Beitrittsgebiet | |
gelebt und gearbeitet haben, Finanzierungshilfen zum Flächenerwerb zu | |
gewähren“. Neueinrichter wurden Landwirte genannt, die einen Betrieb neu | |
aufbauen wollten. | |
Gerald Thalheim machte eine Karriere ganz im Sinne der SED. 1973 beendete | |
er sein Studium als Diplomlandwirt und wurde 1976 promoviert. Zwei Jahre | |
später leitete er das Labor im Pflanzenschutzamt Karl-Marx-Stadt. 1986 | |
übernahm er die Leitung der Agrochemie in der sächsischen | |
LPG-Pflanzenproduktion Naundorf im Landkreis Rochlitz. Nach der Wende wird | |
er Bundestagsabgeordneter, agrarpolitischer Sprecher der SPD und unter | |
Gerhard Schröder schließlich Parlamentarischer Staatssekretär im | |
Landwirtschaftsministerium. Heute ist er Vorstand des Mitteldeutschen | |
Genossenschaftsverbands – in dem viele Ex-LPG-Chefs organisiert sind. | |
Auch politisch gab es Unterstützung: So schickte Brandenburgs damaliger | |
SPD-Landwirtschaftsminister Edwin Zimmermann im Januar 1993 einen Brief an | |
die Bodenkommissionen – Gremien aus Vertretern der Landwirtschaftsämter und | |
der Verbände, die die BVVG bei der Vergabe der Flächen berieten. Die | |
Bodenkommissionen sollten „folgende Ziele verfolgen: ’Ansprüche‘ von sog. | |
Bodenreformopfern bzw. deren Erben bei der Empfehlung keinerlei Beachtung | |
zu schenken“, schrieb Zimmermann in dem Brief, der der taz vorliegt. | |
## Verfahren gegen die Bundesrepublik | |
In der DDR war Zimmermann von 1976 bis 1990 als Leiter für | |
Transport/Umschlag des Agrotechnischen Zentrums in Hohenseefeld tätig. Er | |
legte sein Amt aufgrund von Untreuevorwürfen nieder. | |
Der EU-Kommission stießen die verdeckten Subventionen für die Ex-LPG-Bosse | |
erst 1998 auf. Sie leitete ein Verfahren gegen die Bundesrepublik ein. In | |
einer Mitteilung an die Bundesregierung kritisierte die EU-Kommission, dass | |
unberechtigte Personenkreise in den Genuss vergünstigter Bodenpreise | |
gekommen seien, die „niemals enteignet worden“ waren. | |
Das Bundesfinanzministerium lässt im Dezember 1998 die vergünstigten | |
Verkäufe stoppen. Der Rabatt darf später statt deutlich unter der Hälfte | |
des Verkehrswerts nur noch 35 Prozent betragen. | |
Aus Sicht der Bürger müsste die staatliche BVVG möglichst viel Geld mit den | |
Ackerflächen erzielen. Es geht um Staatseinnahmen. Dennoch werden die | |
Preise weiter gedrückt. Das ergibt sich aus einem vertraulichen Prüfbericht | |
des Bundesrechungshofs, der der taz vorliegt. Die Prüfer schreiben am 30. | |
Mai 2005: „Die BVVG stellte nicht sicher, dass keine unerlaubten Nachlässe | |
gewährt wurden.“ Die Behörde leitet die Preise von den sogenannten | |
Regionalen Wertansätzen ab, kurz RWA. Und das, „obwohl häufig Anhaltspunkte | |
gegen die Eignung der RWA“ sprächen. Die Regionalen Wertansätze wichen „v… | |
den gesetzlichen Vorgaben ab“. Das sei „nicht im Einklang mit der | |
Entscheidung der Europäischen Kommission aus dem Jahre 1999“. | |
Dabei ist das Problem im Bundeslandwirtschaftsministerium längst bekannt. | |
Schon drei Jahre vor dem Bericht des Rechnungshofs. Das geht aus einem | |
Dokument hervor, das an die damalige Landwirtschaftsministerin Renate | |
Künast von den Grünen adressiert ist. Der taz liegt das Schreiben vom 29. | |
Januar 2002 vor. Ihr Referatsleiter weist die „Frau Bundesministerin“ in | |
Sachen „Agrarpolitik für die neuen Länder“ darauf hin, dass die „Region… | |
Wertansätze zum Teil nicht mehr mit den tatsächlichen Realitäten | |
übereinstimmten“. | |
Es müsste klar sein, wie heikel das ist: Erneut gewährt der Staat | |
großzügige Beihilfen an die Ex-SED-Elite, die den Vorgaben der | |
EU-Kommission widersprechen. Doch auch in einem weiteren | |
Rechnungshofbericht von 2009 heißt es, die staatliche BVVG prüfte „in | |
einzelnen Fällen die gesetzlichen Voraussetzungen für den vergünstigten | |
Flächenerwerb immer noch nicht mit der nötigen Sorgfalt“. | |
## Klagen von Alteigentümern | |
Auf der politischen Ebene führen schließlich Klagen von Alteigentümern vor | |
dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zu Betriebsamkeit. Deswegen | |
schreibt ein Ministerialdirektor der Abteilung 5 im | |
Bundeslandwirtschaftsministerium am 10. September 2009 seinem Kollegen vom | |
Bundesfinanzministerium einen Brief. Er regt an, sich im „Sachvergleich“ zu | |
einigen. Den finanziellen Ausfällen für das Finanzministerium stehe „die | |
akute Gefahr gegenüber, dass die EU-Kommission das Verfahren vor dem EuGH | |
zum Anlass nehmen wird, das z. Z. lediglich ruhende Hauptprüfungsverfahren | |
gegen Deutschland wegen der Privatisierungstätigkeit der BVVG wieder | |
aufzugreifen“. | |
Weiter heißt es: „Die EU-Kommission hatte das Hauptprüfungsverfahren gegen | |
Deutschland nur unter der Bedingung zum Ruhen gebracht, dass keine weiteren | |
Klagen oder Beschwerden gegen die Privatisierungspraxis der BVVG | |
(insbesondere im Zusammenhang mit der Preisermittlung) vorgebracht werden.“ | |
Über die Dimension der Missstände machen sich die Herren nichts vor: „Ich | |
bin mir sicher, dass ein grundsätzlich neues Aufrollen der | |
Privatisierungstätigkeit der BVVG auf Ebene der europäischen Institutionen | |
auch den Interessen des BMF keinesfalls entsprechen wird. Die drohenden | |
politischen Turbulenzen brauche ich an dieser Stelle nicht nochmals | |
besonders zu betonen.“ | |
Die Klagen vor dem EuGH scheiterten, aber bis heute pachten und besitzen in | |
der Mehrheit LPG-Nachfolger die vergünstigten BVVG-Flächen. Michael | |
Beleites, Sachsens ehemaliger Stasi-Unterlagen-Beauftragter, schätzt, dass | |
rund zwei Drittel der Flächen an die LPG-Nachfolger fielen. Die Anfrage der | |
Grünen aus dem Jahr 2012 bestätigt das. | |
„Wer nicht dazugehört, hat ein Problem“, sagt der Ökobauer Jörg Gerke, d… | |
1994 in Mecklenburg-Vorpommern anfing. Er zieht die matschigen Gummistiefel | |
im grob gefliesten Eingang seines Hofs aus. | |
Aktenordner liegen auf dem Tisch. Darin steht, was passiert, wenn man nicht | |
dazugehört: Trotz Gerkes Anträgen gelang es ihm nicht, elf Hektar von der | |
BVVG zu pachten oder zu kaufen. Begründung: Die elf Hektar seien für den | |
ebenfalls interessierten Konkurrenten für dessen Weiterbetrieb unabdingbar. | |
Gerke klagte auf Akteneinsicht. Er wollte wissen, wie groß der Konkurrent | |
sei, der so dringend auf elf Hektar angewiesen sein sollte. Doch zehn Jahre | |
lang verwehrte die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben | |
die Akteneinsicht. Am 14. März 2014 erhielt Gerke schließlich die | |
Information: Die Größe des Konkurrenten beträgt „insgesamt ca. 3.073,0 ha�… | |
Ein Gigant – und LPG-Nachfolger. | |
## Neue alte Großherzogtümer | |
2008 schrieb Gerke über diesen Komplex eine umfassend recherchierte Studie. | |
„Nehmt und euch wird gegeben“ heißt das Buch über das Agrarkartell. Es | |
folgte: nichts. Gerke schätzt, dass sich die Beihilfen für die Agrarkader | |
auf einen zweistelligen Milliardenbeitrag summiert haben. | |
Wer Gerkes Hof in Rukieten hinter sich lässt und die Landstraßen entlang | |
fährt, bekommt einen Eindruck von der Weite der Ackerflächen, die zehnmal | |
so groß sind wie die westdeutscher Betriebe. Erst am Horizont enden die | |
neuen alten Großherzogtümer. Dazwischen verfallene Dörfer und die Ruinen | |
alter Gutshöfe. Ähnliche Ansichten findet man überall in Ostdeutschland. | |
Die Steuerzahler finanzierten die Genossen nicht nur durch den | |
vergünstigten Kauf oder die Dumpingpacht. Vermutlich noch lukrativer sind | |
die Subventionen, die mittlerweile an die Flächen gekoppelt sind. Je größer | |
die Fläche, desto höher die Ausschüttung. Bei Pachten von teilweise unter | |
100 Euro pro Hektar und Subventionen von 300 Euro pro Hektar, könnte es | |
sich lohnen, gar nichts anzubauen. Die Fläche allein ist das Produkt und | |
bringt Geld. | |
Die konservierte DDR-Agrarlandschaft macht die Böden deswegen für Konzerne | |
zum Investionsobjekt. Erst die riesigen zusammenhängenden Flächen der | |
Ex-LPG-Großbetriebe machen die flächengebundenen Prämien für Unternehmen | |
wie KTG Agrar, Steinhoff Holding oder die Lindhorst-Gruppe so lukrativ. Sie | |
haben bereits tausende Hektar in Ostdeutschland erworben. Sie mussten dafür | |
nicht mühsam einzelne Hektar ankaufen, sondern schlucken einfach die | |
Ex-LPGs. | |
## Künstlich knapp gehaltenes Angebot | |
Allein zwischen 2003 und 2012 wuchs der Wert eines Hektars Land in | |
Ostdeutschland laut Statistischem Bundesamt um 150 Prozent auf 9.593 Euro; | |
in den anderen Bundesländern um 35 Prozent auf 22.267 Euro. Der Preissprung | |
beruht darauf, dass die Äcker so lange so günstig für die Ex-LPG-Chefs | |
gehalten wurden. Außerdem wurde das Angebot durch die einseitige | |
Bodenvergabe künstlich knapp gehalten – von alledem profitierten fast | |
ausschließlich die alten Genossen, die nun ihre Betriebe mit satten | |
Gewinnen Konzernen überschreiben können. | |
Eine Ökonomisierung des Bodens, die auf ostdeutsche Großbetrieben geeicht | |
worden war. Der Greifswalder Geograf Helmut Klüter kommt in einer Expertise | |
aus dem Jahr 2012 zu anschaulichen Ergebnissen: „Im Industrieland | |
Nordrhein-Westfalen können in der Landwirtschaft mehr als dreimal so viele | |
Arbeitnehmer pro Hektar Geld verdienen“ als im Osten. | |
Dort beackern haushohe Mähdrescher die Flächen, überwacht von Drohnen. Doch | |
die landwirtschaftlichen Bruttoverdienste „liegen sogar noch unter denen | |
der Niedriglohnbranche Gastgewerbe.“ Effizient muss eine so gelenkte | |
Wirtschaft nicht sein. Klüter schreibt: „Berücksichtigt man, dass der Wert | |
für Brandenburg von etwa 800 Millionen Euro (2009) durch über 540 Millionen | |
Euro an EU-Mitteln gestützt wurde, dann war die Flächenproduktivität der | |
Landwirtschaft zu DDR-Zeiten höher als heute. Das gilt auch für die anderen | |
ostdeutschen Flächenländer.“ | |
Klüter vergleicht die Ex-LPG-Großbetriebe mit den Gütern der Junker. Er | |
bezeichnet den heutigen Zustand als „neofeudale Landverteilung“. | |
Tatsächlich sind die heutigen Betriebe noch größer als die des alten Adels. | |
1 Jun 2014 | |
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## AUTOREN | |
Kai Schlieter | |
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