# taz.de -- Landwirtschaft im Osten: Alter Adel, neue Pläne | |
> Er, ein Junker? Hans-Georg von der Marwitz lächelt. „Die Klischees | |
> bediente ich nicht.“ Dem Dorf seiner Vorfahren tut die Rückkehr gut. | |
Bild: Genossenschaftlicher Mähdrescher bei der Arbeit | |
FRIEDERSDORF taz | Zwischen Kirche, Wohnhaus und Gutsverwaltung liegt die | |
Dorfstraße. Im Sommer wogen hier die Baumkronen und verdecken mit ihrem | |
Blattwerk die Sicht auf die Straße. Weiter oben stehen zwei Linden und eine | |
Eiche, die noch aus dem 30-jährigen Krieg stammen. Dass dies alles mal eins | |
war, ein Besitz, ein Gutshof, lässt sich in diesem Moment erahnen. Es kam | |
der Zweite Weltkrieg und die hier ansässige Familie von der Marwitz ergriff | |
die Flucht. Vom Gutshof blieb wenig erhalten, trotzdem ist Hans-Georg von | |
der Marwitz 1991 nach Friedersdorf zurückgekehrt. Weniger aus Familiensinn, | |
denn aus Abenteuerlust und unternehmerischem Antrieb. Im Nachhinein hat | |
sich das eine gut zum anderen gefügt. | |
„Es ist aufgegangen“, sagt Hans-Georg von der Marwitz. „Wir haben viel | |
Glück gehabt. Einerseits. Es gab auch vieles, was uns zugesetzt hat. Die | |
Akzeptanz mussten wir uns erarbeiten. Aus dem Allgäuer Bergbauer wurde ein | |
Brandenburger, aus dem parteilosen Kommunalpolitiker ein | |
CDU-Bundestagsabgeordneter, aus dem Landwirt ein Agrarexperte mit grünen | |
Ansichten, aus dem Sohn von Vertriebenen ein Rückkehrer ohne Dünkel. „Hier | |
wurde alles auf mich projiziert: Ich war Wessi, Unternehmer, Junker. Das | |
Wort ,Junker' kannte ich nur aus dem Religionsunterricht.“ Er lächelt. | |
Friedersdorf liegt im Märkisch-Oderland, nur zwei Kilometer von den | |
Seelower Höhen entfernt, wo 1945 zehntausende russische und deutsche | |
Soldaten starben. Nach dem Krieg wurde die Familie von der Marwitz im Zuge | |
der Bodenreform enteignet. „Junkerland in Bauernhand“ war die Parole. Das | |
Herrenhaus wurde 1948 gesprengt. „Für meine Eltern war das eine | |
untergegangene Welt“, sagt von der Marwitz. „Sie haben uns überhaupt nicht | |
ständisch erzogen.“ | |
## Eine weit verzweigte Familie | |
Hans-Georg von der Marwitz kam 1961 als fünftes Kinder in Heidelberg zur | |
Welt. Sein Vater stammt aus der Pommerschen, die Mutter aus der | |
Friedersdorfer Linie der weit verzweigten Familie. Sie lebte auf einem Hof | |
im Allgäu, der Vater studierte Theologie. „Er war Landpfarrer mit Leib und | |
Seele. Das gesamte soziale Gefüge ,Dorf' ist uns in Fleisch und Blut | |
übergegangen.“ | |
Auch dem Sohn liegt das Landleben und die Zukunft seiner Region, die vom | |
Strukturwandel betroffen ist, am Herzen. „Es gibt Dörfer in Ostdeutschland, | |
wo heute niemand mehr in der Landwirtschaft tätig ist. Leider haben wir | |
1990/91 einen großen Fehler begangen.“ | |
Hans-Georg von der Marwitz hat Landwirtschaft gelernt. 1986 übernimmt er | |
den elterlichen Hof im Allgäu. „Ich war der Hans vom Maienhof“, sagt er | |
vergnügt. Der Betrieb lief gut, Wild- und Geflügeldirektvermarktung, damals | |
schon Bio. Dann kam die Wende. Kontakte in die DDR hatte er schon vorher | |
gehabt, im März 1990 fuhr er mit seiner heutigen Frau in die DDR und | |
beschloss: „Eigentlich musst du jetzt dabei sein.“ Der Entdeckergeist war | |
geweckt. | |
## In trostlosem Zustand | |
„Friedersdorf habe ich dabei nicht im Auge gehabt. Die Reste des | |
Familienguts waren in trostlosem Zustand.“ Hans-Georg von der Marwitz sitzt | |
in Sommerhose und gestreiftem Hemd in seinem Büro der Gutsverwaltung. Leger | |
und doch korrekt. Der Raum ist mit einem großen Schreibtisch und einem | |
langen Holztisch ausgestattet, an der Wand hängt ein modernes Gemälde. | |
Nebenan auf dem Gelände steht der Kunstspeicher, ein sich selbst tragender | |
Kunstverein mit Ausstellung und Restaurant. Zehn Angestellte arbeiten dort. | |
Von der Marwitz ist auch dort Geschäftsführer, außerdem führt er einen | |
Bioland- und einen konventionellen Betrieb. | |
Mit seinem Schwager und später mit dem Vater guckte sich von der Marwitz im | |
Frühsommer 1990 an die 20 Betriebe rund um Berlin an. „Wir waren damals | |
hochwillkommen. Die meisten wussten ja gar nicht, wie es weitergehen | |
sollte. Damals war die Vertrauensseligkeit gegenüber dem Westen noch sehr | |
groß.“ Auch in Friedersdorf sollte die LPG liquidiert werden. Sein Vater | |
sagte: „Du hast das Dorf gesehen, ich die Äcker und Böden. Und die sind | |
gut.“ | |
## „In Westdeutschland wären wir ein Großbetrieb“ | |
Im September 1990 schloss von der Marwitz Pachtverträge ab, damals noch mit | |
dem Rat des Kreises. Er kaufte und pachtete auch von Privatleuten – 780 | |
Hektar, heute sind es 900. „In Westdeutschland wären wir ein Großbetrieb, | |
hier in Brandenburg sind wir gehobenes Mittelmaß.“ Im Januar 1991 zog er | |
mit seiner schwangeren Frau nach Friedersdorf in einen Wohnwagen. | |
Das Torhaus bauten sie später zum Wohnhaus aus. Nachbarn halfen. „Im | |
Rückblick waren unsere bescheidenen Anfänge wichtig. Ich bediente nicht die | |
Klischees.“ Er habe von Anfang an klar gemacht, dass er keine | |
Restitutionsansprüche stellen werde. | |
Er entrümpelte, baute, stürzte sich in die Jugendarbeit für den CVJM. „Das | |
hat mich über Jahre sehr beschäftigt, hier war ja alles weggebrochen.“ 1993 | |
ging von der Marwitz in den Gemeinderat der Gemeinde Vierlinden, zu der | |
Friedersdorf inzwischen gehört, 1998 wurde er, parteilos, in den Kreistag | |
gewählt. „Für einen Landwirt und Unternehmer ist es ganz normal, in der | |
Kommunalpolitik mitzumischen“, meint er. 2002 trat er der CDU bei, 2009 | |
wurde er erstmals in den Bundestag gewählt, 2013 mit Direktmandat. In | |
Gemeinde und Kreis ist er weiter aktiv, das ist seine Erdung. Der | |
klassische Berufspolitiker ist er nicht. | |
## Kritik an Kohl und Schäuble | |
Der Christdemokrat spart nicht mit Kritik an seiner Partei, an Kohl und | |
Schäuble, wie diese nach der Wende den Privatisierungsprozess der Böden | |
deichselten. „Der Prozess der LPG-Umwandlungen war hoch fragwürdig“, sagt | |
von der Marwitz. „Ich behaupte, dass bei weniger als 20 Prozent der LPGs | |
die Bewertung des Vermögens ordnungsgemäß vollzogen wurde.“ | |
Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann hätte jeder Alt-Eigentümer bis zu 100 | |
Hektar rückübertragen bekommen. Nicht nur der Adel war enteignet worden, | |
auch die Bauern hatten ihr Land an die LPG abtreten müssen. „Viele Genossen | |
haben von ihren Einlagen nichts gesehen“, sagt von der Marwitz. „Das hat zu | |
Verwerfungen in den Dörfern geführt. Ich wusste damals nicht, wie ich damit | |
umgehen soll.“ | |
Ironie der Geschichte, dass nach der Wende die alten LPG-Vorsitzenden und | |
SED-Kader oft die neuen Pächter wurden. „Die Strukturen der DDR haben | |
Tatsachen geschaffen.“ Heute sind es außer-landwirtschaftliche Konzerne, | |
die auf den ehemaligen LPG-Ländereien mit High-Tech-Maschinen großflächig | |
Mais oder Raps anbauen. Die alten Dorfstrukturen haben wenig Chancen. Auch | |
von der Marwitz hat solche Nachbarn. | |
## Weit über die Gemarkung des Dorfes | |
Der Run auf die LPG-Betriebe habe etwas abgeebbt. Die Landpreise seien | |
enorm gestiegen. Dennoch sieht er einen „Paradigmenwechsel“: hinter den | |
Großfirmen stehen keine Eigentümer, keine familiengeführten Betriebe, | |
sondern Aktionäre, die nur an Gewinnen interessiert sind. „Die Betriebe | |
sind gigantisch und gehen heute weit über die Gemarkung eines Dorfes | |
hinaus“, klagt von der Marwitz. „Darunter leidet die Bio-Diversität.“ | |
Er war auch deswegen „der Erste“, sagt er, der im Bundestagsausschuss für | |
Landwirtschaft die Abschaffung der Direktzahlungen aus Brüssel gefordert | |
hat. Europaweit. „Sie verzerren den Markt. Sie beschleunigen den | |
Transformationsprozess. Und sie begünstigen die flächenstarken Betriebe“ – | |
und damit die Konzerne. Wer groß ist, bekommt am meisten. | |
Von der Marwitz steht überhaupt häufig quer zu seiner Partei, sprach sich | |
gegen Fracking und CO2-Speicher aus. Votierte gegen die | |
Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke. Wäre er nicht besser bei den | |
Grünen aufgehoben? Er hebt die Hand. „Ich bin durch und durch Unternehmer.“ | |
Eine schwarz-grüne Koalition hätte ihm aber gefallen. | |
## Man muss das Landleben attraktiv halten | |
Seit 2003 hat von der Marwitz einen Verwalter. „Aber jede Rechnung geht | |
noch durch meine Hand.“ Sein Hof betreibt nur Ackerbau, keine | |
Viehwirtschaft. Sehnsucht nach den Bergen hat er „heute nicht mehr“. 330 | |
Einwohner zählt Friedersdorf – 20 Prozent mehr als nach der Wende. Eine | |
Vereins- und Kulturszene, eine aktive Kirchengemeinde. Man muss andere | |
Schwerpunkte setzen als die Landwirtschaft, will man das Leben attraktiv | |
halten. Gute Erreichbarkeit. Gute Schulen. Nachgelagerte Berufe. „Ich denke | |
in anderen Zeitabschnitten hier.“ | |
Von der Marwitz schließt die Kirche auf. Sie war 1991 Ruine. Die barocke | |
Ausstattung wurde mit Spenden rekonstruiert. Im Innenraum mit den weißen | |
Bänken gibt es zwei Epitaphe, Grabinschriften der Familie. Eines gilt | |
Hans-Georg von der Marwitz, einem Namensvetter aus dem 17. Jahrhundert. „Es | |
war eine Herausforderung“, gesteht Hans-Georg der Jüngere, „dieser | |
geballten Familienpräsenz zu begegnen.“ Gegenüber liegt Johann Friedrich | |
Adolf, der „Ungnade wählte, wo Gehorsam nicht Ehre brachte“ – er | |
verweigerte dem Alten Fritz den Befehl zur Plünderung. Fontane hat der | |
Familie in seinen „Wanderungen“ ein Kapitel gewidmet. | |
Als die Fotografin von der Marwitz vor dem Epitaph seines Namensvetters | |
ablichten will, winkt er ab. Lieber zeigt er den Familienfriedhof neben der | |
Kirche, wo auch Großvater und Vater liegen. Das Denkmal aus schwarzem | |
Marmor vor dem Friedhof ehrt die gefallenen Sowjetsoldaten 1939 bis 1945. | |
Es stammt aus DDR-Zeiten. Auch das ist Dorfgeschichte. | |
„Ich habe viele kommen und wieder gehen sehen“, sagt von der Marwitz. | |
Berufsanfänger, gescheiterte Existenzen mit großen Hoffnungen, Pensionäre | |
aus dem Westen mit falschen Konzepten. Und dann Pioniere wie er, mit | |
Unternehmungslust, die hier auf ihre eigene Geschichte stoßen. | |
„Unternehmerisches Engagement und soziale Verantwortung sind das | |
Wichtigste“, sagt von der Marwitz, „und zwar möglichst vielschichtig.“ I… | |
treibt schon wieder ein Projekt um. Dem Kunstspeicher soll eine Pension | |
angeschlossen werden. | |
1 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Sabine Seifert | |
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