# taz.de -- Konflikt in der Ukraine: Arien im Feindesland | |
> Wie wird man zur Verräterin? Es reicht heute schon, als Russin in der | |
> Westukraine zu leben – wie die Opernsängerin Marfa Schumkowa. | |
Bild: „Ich fühle mich hier sehr wohl“: Für manche Russen ist dieser Satz … | |
LEMBERG taz | Als die letzten Akkorde von „Aida“ in der Lemberger Oper | |
verklingen, braust tosender Beifall auf im ausverkauften Saal. Diese | |
Verdi-Inszenierung steht bereits seit zwanzig Jahren auf dem Spielplan, | |
erfreut sich aber immer noch großer Beliebtheit beim Lemberger Publikum. | |
Man hält fest an der Tradition– keine Experimente, klassisches Bühnenbild. | |
Die Handlung findet tatsächlich im alten Ägypten statt und nicht in einer | |
sowjetischen Kolchose. Es sind keine großen Überraschungen zu erwarten. | |
Nicht so für Marfa Schumkowa. Erst zum zweiten Mal ist die junge | |
Mezzosopranistin in die Rolle von Amneris geschlüpft, der mächtigen Tochter | |
des Pharaos. Als die Hauptdarsteller beim Schlussapplaus auf die Bühne | |
kommen, erblickt Marfa plötzlich ihre Mutter Julia. Sie ist extra für einen | |
Tag aus dem russischen Jekaterinburg angereist. Es ist für Marfa die | |
Überraschung des Abends, denn Mutter und Tochter haben seit einem Monat | |
nicht mehr miteinander gesprochen. Der Grund – die Ereignisse auf dem | |
Kiewer Maidan. | |
Marfa, die die Protestbewegung aus nächster Nähe beobachtet hat, konnte | |
ihre Angehörigen nicht überzeugen, dass es normale Bürger waren, die für | |
ein Leben in Freiheit und ohne Korruption demonstrierten, und keine vom | |
„Westen bezahlten Faschisten“, wie von der russischen Propaganda behauptet. | |
„Ich fühlte mich wirklich glücklich, als ich meine Mutter wiedersah“, | |
erinnert sich die Sängerin. | |
Marfa Schumkowa ist hochaufgeschossen und schlank, irgendwie passend zur | |
Rolle der Königstochter. Im realen Leben wurde sie in einer Musikerfamilie | |
in damaligen Swerdlowsk im Ural geboren. Ihre Mutter ist Klavierspielerin | |
und Sängerin, ihr Vater singt und spielt Bajan. Die Familiengeschichte | |
wurde durch den sowjetischen Totalitarismus im 20. Jahrhundert geprägt. | |
## Eine musikalische Familie | |
Bereits ihre Urgroßmutter war Sängerin. Sie konnte jedoch keine | |
professionelle Ausbildung absolvieren, weil ihr Mann, ein sowjetischer | |
Offizier, 1937 Stalins Terror zum Opfer fiel und in einem Straflager im | |
fernen Osten starb. Auch für ihre Großmutter gehörte Singen zum Leben. Zum | |
Studium wurde sie als Tochter eines „Volksfeindes“ jedoch nicht zugelassen. | |
Dann aber wollte sie wenigstens in einer Stadt mit Oper und Philharmonie | |
leben. So zog die Familie nach Swerdlowsk, das heute wieder Jekaterinburg | |
heißt. | |
Im Sommer ist vor dem Lemberger Opernhaus alles auf Touristen eingestellt. | |
Fliegende Händler verkaufen Stadtführer, Plüschtiere und | |
Kühlschrankmagneten, Jungs bieten extravagante Shows an, ein kleines | |
Karussell und Elektromobile warten auf Kinder. „Ich liebe diese Stadt und | |
fühle mich hier sehr wohl. Wenn ich traurig bin, setze ich mich einfach in | |
die Straßenbahn und fahre in die Innenstadt.“ | |
Doch als Marfa Schumkowa nach dem Studium am Moskauer Konservatorium vor | |
fünf Jahren nach Lemberg kam, war es kalt und nass. Sie fror in der Wohnung | |
ihrer Schwiegermutter und konnte sich an die Ofenheizung aus Habsburger | |
Zeit kaum gewöhnen. Während des Studiums hatte sie einen Pianisten aus | |
Lemberg kennengelernt. Bald waren die beiden ein Ehepaar. | |
## Lemberg statt Moskau | |
Da in Moskau keine Arbeit in Sicht war, beschlossen sie, vorerst nach | |
Lemberg zu ziehen. „Ich wusste nicht viel“, erzählt Marfa. „Doch Zweifel | |
hatte ich keine. Auch meine Eltern hatten keine Angst.“ Die Familie und der | |
Freundeskreis ihres Ehemannes waren russischsprachig. Doch obwohl Lemberg | |
schon in der Sowjetunion als Hort des ukrainischen Nationalismus galt, kann | |
sich Marfa an keine Diskriminierung erinnern. | |
Selbst nach der Annexion der Krim hat sie keine schlechten Worte über die | |
Russen vernommen. „Zu Putin oder zur russischen Führung insgesamt ist man | |
hier sehr kritisch. Aber das Verhältnis zu den einfachen Menschen ist | |
genauso wie früher“, sagt sie. | |
Es ist eher ein anderes Problem, das heute viele Russen in der Ukraine | |
beschäftigt: Sie können nicht mehr mit ihren Familien und Freunden in | |
Russland kommunizieren. Die Propaganda in den russischen Medien, die vielen | |
Hasstiraden auf das Nachbarland und auf die neue „faschistische“ | |
ukrainische Regierung haben tiefe Spuren hinterlassen. „Es ist sehr | |
schmerzhaft, wenn dir die Menschen nicht glauben, die dich persönlich | |
kennen“, sagt Marfa. Oft brach sie nach Diskussionen auf Facebook oder über | |
Skype nur noch in Tränen aus. Sie griff zu Beruhigungsmitteln. | |
## Bei Facebook rausgeflogen | |
Über Nacht war Marfa Schumkowa zur „Verräterin“ geworden. Die Beleidigung… | |
und Beschimpfungen kamen plötzlich von allen Seiten, von Musikern und | |
Dirigenten, von Freunden und Bekannten. Sie habe sich für zwei Rollen | |
kaufen lassen, sie sei eine „politische Schlampe“. Auch ihr Moskauer | |
Professor, der sie entscheidend geprägt hatte, schmiss sie aus seinem | |
Freundeskreis bei Facebook raus. „Man spürt derzeit eine enorme | |
Aggressivität gegenüber anderen Meinungen“, erzählt Marfa. | |
Schließlich blieb selbst ihre Familie davor nicht gefeit. Dabei erinnert | |
sich Marfa gern an den liberalen Geist, der dort zu Hause war. Als Marfa | |
neun war, erfuhr sie zum ersten Mal von Alexander Solschenizyn und seinem | |
„Archipel Gulag“. Eigentlich wurde in der Familie der liberale Boris Jelzin | |
unterstützt, der aus der Region Swerdlowsk stammte. | |
Doch heute steigen die Popularitätswerte für Putin ins Unermessliche. Ein | |
„Die-Krim-gehört-uns“-Patriotismus schweißt zusammen. Die Formel lautet: | |
Putin ist gleich Russland – jegliche Kritik unerwünscht. Selbst Marfas | |
Mutter habe sie einmal angefahren: „Fass meinen Präsidenten nicht an!“ | |
## Die Tochter muss gerettet werden | |
Warum nur hält man heute Kritik für Verrat? Wohin soll dieser | |
Hurra-Patriotismus hinführen? Auf diese Fragen sucht Marfa Schumkowa in | |
Russland vergeblich nach Antwort. Seit Beginn der Maidan-Proteste haben | |
fast alle Bekannten in Jekaterinburg ihrer Mutter nahegelegt, sie solle | |
ihre Tochter „retten“. Marfa Schumkowa schüttelt den Kopf. Wovor? Sie ging | |
täglich am Lemberger Maidan vorbei zur Oper und fühlte sich sicher. | |
Auch heute geht Marfa zur Probe in die Oper. Der Raum ist winzig. Immerhin | |
passen ein Flügel, ein Schrank, ein Waschbecken und ein paar Sessel hinein. | |
Evelina Dulajeva, die in der Sowjetzeit das Konservatorium in Leningrad | |
absolviert hatte, begleitet Marfa auf dem Klavier. Nach einigen | |
Aufwärmübungen stehen Verdis „Requiem“ und „Aida“ auf dem Plan. Im Fe… | |
2010 hatte Marfa Schumkowa ihr erstes Konzert in Lemberg, bald kam das | |
Arrangement mit „Carmen“ als erste Rolle. Die Pharaonentochter Amneris war | |
für sie 2014 ein Höhepunkt. Ihre Lehrer in Moskau waren der Meinung, die | |
Partie mit zweiunddreißig Jahren zu singen, sei zu früh. | |
Was Marfa hier fehlt, sind die Aufführungen russischer Opern. In Lemberg | |
ist die russische Klassik meistens nur durch Ballett vertreten. Das hat | |
eher mit der Tradition und nicht mit politischen Gründen zu tun. | |
## Einen Bogen um Kiew | |
Nach dem „Aida“-Abend musste Marfas Mutter Julia schon am nächsten Morgen | |
nach Kiew zurück, um von dort weiter nach Jekaterinburg zu fliegen. Kurz | |
habe sie überlegt, über Istanbul zu reisen, nur um das „von Faschisten | |
besetzte Kiew“ zu meiden. Bekannte haben ihr zudem abgeraten, in Lemberg | |
eine rote Jacke zu tragen, Rot sei dort gefährlich. | |
„Wie hat man es nur geschafft, die Menschen so einzuschüchtern?“ Marfa kann | |
es nicht fassen. Sie entschloss sich spontan, ihre Mutter nach Kiew zu | |
begleiten. In Kiew sagte ihre Mutter plötzlich, dass sie zum Maidan möchte. | |
Wortlos gingen beide zum Platz und legten Blumen nieder. Ein Mann kam auf | |
sie zu, bat um einer Zigarette. Als er hörte, dass die beiden Russinnen | |
seien, fragte er: „Glaubt ihr in Russland wirklich, dass wir hier alle | |
’Faschisten‘ sind?“ Selbst das wenige, was vom Maidan geblieben ist, hat | |
auf beide einen tiefen Eindruck gemacht. Es war wie eine Versöhnung, bevor | |
sich Mutter und Tochter wieder trennten. | |
Vor ein paar Jahren kriselte es in Marfas Ehe. Ihr Mann sagte plötzlich, er | |
könne sich ein Leben nur in Moskau vorstellen. Marfa ließ sich scheiden und | |
blieb in Lemberg. Sie kann sich sehr gut vorstellen, als Opernsängerin in | |
Lemberg zu leben. Ihr Traum? Von Zeit zu Zeit im Ausland zu singen, dann | |
aber immer wieder nach Lemberg zurückzukehren. Und wenn ihr traurig zumute | |
ist, kann sie sich in die alte Tram setzen und hoffen, dass es dem Land | |
bald besser geht. | |
23 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Juri Durkot | |
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