| # taz.de -- Flüchtlingsprotest auf dem Dach: Abendmahl auf der Straße | |
| > Polizei bringt Oranienplatz-Flüchtlingen etwas Wasser aufs Dach, Pfarrer | |
| > zelebriert Messe auf der Straße. Proteste bei einer Rede von Senatorin | |
| > Dilek Kolat. | |
| Bild: Pfarrer Ringo Effenberger feiert ein improvisiertes Abendmahl in der Gür… | |
| Es ist ein Moment von Rührung in dieser angespannten Situation: Der | |
| evangelische Pfarrer Ringo Effenberger aus Rüdersdorf feiert mit | |
| Flüchtlingen auf der Friedrichshainer Gürtelstraße das Abendmahl - und | |
| sogar die autonomen Unterstützer singen teilweise mit und essen vom | |
| symbolischen Brot. "Keiner weiß, wo ihr künftig leben werdet in Frieden", | |
| sagt der Mann in seiner schwarzen Soutane. Aber er wolle ihnen helfen, | |
| stark zu bleiben, indem er Wein und Brot mit ihnen teile, "stellvertretend | |
| für die auf dem Dach". Effenberger liest aus der Bibel die Geschichte von | |
| Elia, "der auch auf der Flucht war", und dem ein Engel erschienen sei und | |
| sagte: "Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir." | |
| Das Gleichnis mit Elia passt nur zu gut zur Situation in der Gürtelstraße: | |
| Seit vier Tagen verbarrikadieren sich neun Männer in einem Zimmer mit | |
| Dachzugang aus Protest gegen ihren Rauswurf aus dem Hostel. Seit | |
| Mittwochnachmittag haben sie weder Wasser noch Strom, auch Essen, sowie | |
| Kontakt mit Anwälten oder Pfarrern wird ihnen seitens der Polizei | |
| verweigert. Die Besetzung hatte am Dienstagmittag begonnen, weil 108 | |
| Oranienplatz-Flüchtlinge kurzfristig aufgefordert worden waren, ihre | |
| Unterkünfte zu verlassen. Ihre Anträge auf Aufenthaltserlaubnis oder | |
| Umverteilung aus anderen Bundesländern nach Berlin seien negativ beschieden | |
| worden, erklärte das für die Unterkunft von Flüchtlingen zuständige | |
| Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso). Die anderen Flüchtlinge in | |
| den vier betroffenen Heimen sind laut Lageso dieser Aufforderung auch | |
| gefolgt. Die Besetzer in der Gürtelstraße aber fordern eine erneute Prüfung | |
| ihrer Anträge, da bisher gar keine echte Einzelfallprüfung stattgefunden | |
| habe. | |
| Dieselbe Kritik kommt auch von kirchlicher Seite. Die Ausländerbehörde habe | |
| nur formal geprüft und die Menschen viel zu kurzfristig auf die Straße | |
| gesetzt. "Das lehnen wir ab", sagen am Donnerstag Caritasdirektorin Ulrike | |
| Kostka und Diakonievorstand Martin Matz, so dürfe man nicht mit | |
| verzweifelten Menschen umgehen. Am Freitagmorgen kommen drei Pfarrer zur | |
| Gürtelstraße, da einige Flüchtlinge vom Dach um christlichen Beistand | |
| gebeten hatten. Die Polizei lässt jedoch bis zum Nachmittag keinen Besuch | |
| der Geistlichen zu. | |
| Nachdem gegen Mittag bekannt wird, dass auch Pfarrer Effenberger vorerst | |
| nicht zu den Besetzern gehen darf, veranstalten die Flüchtlinge auf der | |
| Straße vor der Polizeiabsperrung eine Pressekonferenz. Eine Unterstützerin | |
| verliest die Forderungen der Besetzer, [1][die bei Facebook veröffentlicht | |
| wurden], und berichtet vom Angebot der Polizei an die Männer auf dem Dach: | |
| Wenn sie das Dach verließen, dürften sie eine Woche im Hostel bleiben und | |
| danach frei abziehen. "Das wurde abgelehnt", sagt sie knapp. Außerdem warte | |
| man noch immer auf eine Stellungnahme der Senatoren Henkel und Kolat zu den | |
| Forderungen. | |
| Dann tritt Kokou Theophil vor die versammelte Presse. Der junge Mann aus | |
| Togo erzählt in einer Mischung aus Deutsch und Englisch, dass auch er seit | |
| April in dem Haus gewohnt habe, "weil der Senat mit uns verhandelt hat und | |
| sagte, wenn wir den Oranienplatz räumen, können wir in Berlin bleiben." Mit | |
| zitternder Stimme sagt er, sie seien nach Deutschland gekommen, um zu | |
| arbeiten und zu überleben, nicht um zu sterben. "Unsere Länder sind | |
| zerstört vom Kapitalismus, wir mussten kommen wegen der Kriege." Die | |
| meisten hätten einen Beruf und könnten sich selbst versorgen. "Aber jetzt | |
| sind viele von uns obdachlos, ich auch." | |
| Nach der Rede versuchen die Geflüchteten, einen Telefonkontakt zu den | |
| Protestlern herzustellen - vergeblich. Die Akkus der Handys auf dem Dach | |
| sind schon fast leer, erst nach zwei Stunden gelingt eine Verbindung. | |
| Solange bleibt auch die Behauptung der Polizei gegenüber Pfarrer | |
| Effenberger, man werde den Männern nun doch etwas Wasser zukommen lassen, | |
| unbestätigt. Dann gegen halb vier die erlösende Nachricht: Es stimmt, drei | |
| Flaschen Wasser sind auf dem Dach angekommen. So kann der an Tuberkulose | |
| erkrankte Mohamed S. auch seine dringend benötigten Medikamente einnehmen. | |
| Nach der Pressekonferenz und dem improvisierten Abendmahl geht es an der | |
| Polizeiabsperrung an der Ecke Gürtelstraße/Scharnweberstraße weiter wie | |
| zuvor: Knapp 50 Flüchtlinge und Autonome sitzen und stehen in Gruppen | |
| zusammen, misstrauisch beäugt von der Kundschaft der Eckkneipe "Zum Igel", | |
| die hin und wieder vor die Tür tritt. Hier hält man wenig vom Protest der | |
| Flüchtlinge, wie Wirt und Gäste der taz schon am Mittwoch freimütig | |
| erklärten. Bei den Autonomen ist die Kneipe auch als feindlicher "Nazi-Ort" | |
| verschrien. Auf [2][Twitter] werden am Nachmittag mehr Unterstützer für die | |
| Nacht angefordert, weil es da immer wieder "Probleme mit Nazis" gebe. | |
| Außerdem benötige man "Becher, Pappteller, einen Besen, psychologische | |
| Unterstützung, Mülltüten, Schirme und Menschen, die Flaschen entsorgen". | |
| Kein Thema ist dagegen das [3][Bekennerschreiben von "autonomen Gruppen"] | |
| zu dem Anschlag auf einen Kabelschacht der S-Bahn am Donnerstagmorgen. | |
| Darin hatte man den Brand, der den S-Bahnverkehr teilweise noch am Freitag | |
| lahmgelegt hat, mit dem Kampf der Flüchtlinge für ein Bleiberecht | |
| begründet. Während die Aktion im Netz auch unter Linken umstritten ist, | |
| distanzieren sich die Autonomen in der Gürtelstraße nicht davon. Sie zeige | |
| bei den Flüchtlingen vor Ort Solidarität, erklärt eine Unterstützerin, | |
| "aber wenn andere Leute andere Aktionsformen wählen, werde ich mich davon | |
| nicht entsolidarisieren". Ein junger Mann erklärte, er könne zwar | |
| verstehen, wenn sich Menschen ärgern, weil sie zur spät zur Arbeit kommen | |
| und deswegen Stress mit ihrem Chef bekommen, aber wichtiger sei ja wohl, | |
| "dass hier Menschen um ihr Leben kämpfen". | |
| Am späteren Nachmittag dann wird Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD), | |
| die sich bislang nicht zu den an sie adressierten Forderungen der | |
| Flüchtlinge geäußert hat, doch damit konfroniert. In der Neuköllner | |
| Werkstatt der Kulturen feiert am Nachmittag der Migrationsrat seinen | |
| zehnten Geburtstag. Als Kolat zur Bühne geht, um eine Rede zu halten, steht | |
| ein knappes Dutzend Menschen im Publikum auf und skandiert "Kein Mensch ist | |
| illegal". Der Moderator vom Migrationsrat nutzt die Gelegenheit, um seine | |
| Dankbarkeit für den Protest in der Gürtelstraße zum Ausdruck zu bringen. | |
| Auch Kolat erklärt daraufhin, dass sie Protest "ganz richtig" findet, das | |
| gehöre zu "unserer Kultur". "Wir haben in der Flüchtlingspolitik in Berlin | |
| einiges bewegt", auch wenn die Protestierenden zu Recht sagen, das reiche | |
| nicht. Dann gibt sie sogar zu, dass nicht alle Vereinbarungen mit den | |
| Oranienplatz-Leuten umgesetzt würden, aber einige - Deutschkurse, | |
| Eingliederungshilfen in den Arbeitsmarkt - schon. "Aber die Leute werden | |
| doch gerade abgeschoben!", schallt es ihr aus dem Publikum entgegen. | |
| Dennoch, meint Kolat, könne Berlin "Vorreiter" werden bei der Behandlung | |
| von Flüchtlingen. Sie erntet Gelächter. | |
| 29 Aug 2014 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://www.facebook.com/LampedusaBerlin?fref=ts | |
| [2] http://twitter.com/search?f=realtime | |
| [3] http://linksunten.indymedia.org/de/node/121501 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Memarnia | |
| Alke Wierth | |
| ## TAGS | |
| Tuberkulose | |
| Flüchtlingspolitik | |
| Flüchtlinge | |
| Flüchtlinge | |
| Flüchtlingspolitik | |
| Flüchtlinge | |
| Flüchtlinge | |
| Flüchtlinge | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Langes Wartes auf Tuberkulose-Test: Der Gesundheitsdienst ist völlig überlast… | |
| Steigende Zahl von Flüchtlingen bringt hohe Wartezeiten bei Untersuchungen | |
| mit sich. Ohne Untersuchung dürfen Flüchtlingskinder in Spandau nicht in | |
| die Schule gehen. | |
| Flüchtlingsproteste in Berlin: Kirche in Kreuzberg besetzt | |
| Aus Protest gegen die deutsche Asylpolitik haben sich 120 Flüchtlinge in | |
| der Kreuzberger Thomaskirche niedergelassen. Politikern werfen sie Betrug | |
| vor. | |
| Berliner Flüchtlingsproteste: Am Ende ihrer Kräfte | |
| Jetzt haben auch die letzten Flüchtlinge in der Gürtelstraße aufgegeben – | |
| zermürbt von falschen Versprechungen. An ihrer Situation ändert das nichts. | |
| Flüchtlingsprotest auf dem Dach: Ärzte kritisieren Senat | |
| Die Verweigerung von Wasser für demonstrierende Flüchtlinge sei | |
| verantwortungslos, kritisieren Ärzteorganisationen. Vier Männer geben | |
| Protest auf. | |
| Flüchtlingsprotest auf dem Dach: Polizei verbannt Mahnwache | |
| Unterstützer dürfen nicht mehr in Sichtweite der Dachbesetzer demonstrieren | |
| - angeblich aus Sicherheitsgründen. | |
| Kommentar Berliner Flüchtlingspolitik: Es gibt Wasser, aber kein Essen mehr | |
| Politik und Polizei testen an den Flüchtlingen aus, inwieweit sie Menschen | |
| als reine Verwaltungssache behandeln können. Dabei wird es nicht bleiben. | |
| Aufnahmeprogramm für Flüchtlinge: Schwarz-rote Abwehrreflexe | |
| Die Innenminister der Länder sehen sich kaum noch in der Lage, neue | |
| Unterkünfte für Flüchtlinge zu besorgen. Diakonie und Linke widersprechen: | |
| Es gibt genügend Platz. | |
| Protest der Oranienplatz-Bewegung: Flüchtling erringt Teilsieg vor Gericht | |
| Polizei dreht Flüchtlingen auf dem Dach eines Hostels Strom und Wasser ab. | |
| Unterdessen gibt das Sozialgericht einem Mann Recht: Berlin muss ihn weiter | |
| unterstützen. | |
| Dachbesetzung in Berlin: Polizei will Flüchtlinge aushungern | |
| Bis zu zehn Oranienplatz-Flüchtlinge harren auf dem Dach eines Hostels aus, | |
| um gegen die Einstellung aller Leistungen zu protestieren. | |
| Flüchtlinge: „Es geht hier um Menschen!“ | |
| Der Senat hat die Asylbewerber vom Oranienplatz hängen lassen, sagt Evi | |
| Gülzow von der Diakonie. | |
| Flüchtlinge in Berlin: Am Ende bleibt nur Angst | |
| Aus Furcht vor einer Abschiebung besetzen Bewohner das Dach einer | |
| Unterkunft. Der Flüchtlingsrat kritisiert den Senat scharf. | |
| Oranienplatz-Flüchtlinge wieder obdachlos: Flüchtlinge fordern ihren Platz | |
| Flüchtlingsprotest auf dem Oranienplatz nach Kündigung der Heimplätze. | |
| Geflüchtete befürchten Obdachlosigkeit. Kritik von Parteien am Senat. | |
| Rausschmiss aus Wohnheimen: Flüchtlinge sollen ins Nachtasyl | |
| Das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) setzt Flüchtlinge aus | |
| dem Oranienplatz-Verfahren auf die Straße. Die Prüfung ihrer Fälle sei | |
| "abgeschlossen". |