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# taz.de -- Müll-Rekommunalisierung: Die SPD kippt beim Müll - zumindest halb
> Der Senat und die Grünen sind verärgert, die Linkspartei freut sich: Die
> SPD hat sich zur „vollständigen Rekommunalisierung“ bekannt. Aber was
> folgt daraus?
Bild: Verdi kämpft für gleichen Lohn bei gleicher Arbeit - auch beim Müll.
BREMEN taz | Eigentlich war alles klar und eingetütet: Die für den Senat
vorbereitete Beschlussvorlage sollte die Möglichkeit, dass die
Privatisierung der Bremer Müllentsorgung vollständig korrigiert wird,
überhaupt nicht enthalten - bis Mitte September Besuch aus Berlin kam.
Der Senat zeigt sich zufrieden mit der effektiven Art, wie die Firma
Nehlsen seit 1998 die Müllabfuhr managt. Die Gewerkschaft Verdi aber stößt
sich daran, dass es da eine „Zweiklassengesellschaft“ unter den Arbeitern
gebe: Die alten Müllwerker, die noch bei der Stadt vor dem Jahre 1998
angeheuert wurden, bekäemen den Tarif des öffentlichen Dienstes, die neuen
Müllwerker bei Nehlsen hingegen nur einen Haustarif, der oft sogar noch
unter dem Tarif der privaten Entsorger liege. So spare Nehlsen rund 20
Prozent der Lohnkosten, sagt Verdi. Nehlsen habe es geschafft, die
Müll-Gebühren stabil zu halten, argumentiert hingegen der Senat. Das
Gutachten, das er zur Entscheidungsfindung bestellt hatte, war allerdings
nicht wunschgemäß ausgefallen und sollte daher gar nicht mehr erwähnt
werden (taz berichtete).
Da reisten Mitte September die Verdi-Vertreter aus Berlin und Holger
Thärichen vom Verband Kommunaler Unternehmen (VKU) an und erklärten dem
SPD-Arbeitskreis „Müll-Entsorgung“, wie prima andernorts die kommunale
Entsorgung funktioniere. Nach dieser Sitzung sah die Welt ganz anders aus:
„Vollständige Rekommunalisierung“ steht seitdem als Punkt eins in einem
Beschluss des Landesvorstands der SPD, auch wenn danach die Punkte fünf bis
sieben die Bedenken auflisten.
Roland Pahl, der Geschäftsführer der SPD, kann das erklären: Das
„sozialdemokratische Herz“ schlage klar für eine vollständige
Rekommunalisierung, aber der Verstand formuliere die Bedenken. Vielleicht
sei es eine Lösung, dass erstmal nur ein Teil rekommunalisiert werde, zum
Beispiel die Straßenreinigung, und die Rekommunalisierung der Müllabfuhr
fest ins Auge gefasst werde für einen späteren Zeitpunkt, 2028 zum
Beispiel.
Im Oktober kommt das Thema Müll-Rekommunalisierung erstmals in die
Bürgerschaft – weil Verdi für sein Bürgerbehren erfolgreich Unterschriften
gesammelt hat. Eigentlich will Verdi ein Volksbegehren für die vollständige
Rekommunalisierung einleiten. Das würde derzeit aber aus formellen Gründen
abgebügelt – auf kommunaler Ebene gibt es keine rechtliche Grundlage für
die Gründung einer Anstalt öffentlichen Rechts. „Wir werden diese
rechtliche Grundlage zur Gründung einer Anstalt öffentlichen Rechts
schaffen, wenn wir sie brauchen“, sagt Roland Pahl. Also rasch, auch um der
Gewerkschaft jetzt ihre Initiative für ein Volksbegehren zu ermöglichen?
Nein, stellt der Arbeitskreis-Vorsitzende Wolfgang Grotheer klar – noch
stehe das Konzept der Koalition für die Müllentsorgung nach dem Jahre 2018
ja noch nicht. Das werde noch dauern, jedenfalls bis ins Jahr 2015.
Damit zwingt die SPD die Gewerkschaft Verdi, zunächst mit einem ersten
Volksbegehren diese rechtliche Lücke zu schließen. Erst in einem zweiten
könnte es danach zur Sachfrage gehen. Wenn dieses zweite Volksbegehren aber
erst 2016 stattfinden könnte, wäre es für eine vollständigen
Rekommunalisierung möglicherweise zu spät.
Anstalt öffentlichen Rechts
Der Landesvorstandsbeschluss der SPD geht in der rechtlichen Frage
eigentlich einen Schritt zu auf die von Verdi geforderte Lösung: Auch die
SPD stellt sich als Rechtsform für die kommunale Steuerung der
Müll-Entsorgung eine „Anstalt öffentlichen Rechts“ (AöR) vor. Die Linke,
die die Gewerkschaft Verdi bei ihrer Forderung nach vollständiger
Rekommunalisierung schon immer unterstützt hat, begrüßte den Beschluss der
SPD daher und fragte voller Verwunderung, warum die SPD gleichzeitig „neue
Vorwände sammelt, die auf eine mutlose Beteiligungslösung hinauslaufen
sollen“.
Offen ist, so erklärter der Leiter des SPD-Arbeitskreises Müll-Entsorgung,
Wolfgang Grotheer, ob unter diesem kommunalen Dach die Müllentsorgung
weitgehend wirklich stattfindet oder ob diese nur AöR als rechtliches
Konstrukt fungieren soll, die "operative" Entsorgung aber wieder an private
Firmen vergeben wird. Ob die Arbeiter unter solchen Bedingungen dann
denselben Lohn bekommen nach den Tarifen des Öffentlichen Dienstes, das sei
ebenfalls offen, so Grotheer – aus sozialdemokratischer Sicht sei nur klar,
dass es Tariflöhne geben muss. Die privaten Entsorger-Tarife liegen
allerdings deutlich unter denen der „alten“, noch vor 1998 von der Kommune
eingestellten Müllwerkern, die bei der Entsorgung Nord (ENO), heute
Nehlsen-Tochter, beschäftigt sind. Die „Zweiklassengesellschaft“, die Verdi
kritisiert, wäre damit nicht beendet.
Ein neues Gutachten, so fordert die SPD, soll die Bedenken-Fragen klären:
Woher könnte eine kommunale Müllabfuhr im Jahre 2018 die Arbeiter bekommen,
woher die Liegenschaften und das Management?
Fragen, die die Verfechter der Rekommunalisierung als Vorwände bewerten.
Bremens Verdi-Sekretär Rainer Kuhn könnte sich zum Beispiel vorstellen,
dass die Arbeiter von Nehlsen zur Stadt überwechseln, wenn ihnen dort
sichere Arbeitsplätze und mehr Lohn versprochen werden. Und die
Betriebshöfe der Müllabfuhr – warum sind die Verträge nicht längst
gekündigt im Hinblick auf 2018, fragt Klaus-Rainer Rupp von der Linken.
Und: Warum ärgern sich die Grünen über den SPD-Beschluss, anstatt die
Möglichkeit, einen kommunal betriebenen Entsorgungsbetrieb in Zukunft
umweltpolitisch steuern zu können, als Chance zu betrachten?
Die zuständige Umwelt-Staatsrätin Gabriele Friderich könnte sich das
durchaus vorstellen - sie war früher in München verantwortlich für die
kommunale Müll-Entsorgung. Aber sie ist in der Minderheit in ihrer Partei,
die Mehrheit traut es dem Senat nicht zu, ein kompetentes Management für
die Müllabfuhr einzustellen.
„Ständig neue Gutachten zu fordern, ist eine Art von Politik-Simulation,
die den Anschein erweckt, als wolle die SPD den Prozess der
Rekommunalisierung so lange verzögern, bis er aus zeitlichen Gründen
scheitert“ und dann doch nur die vom Senat favorisierte „mutlose“
Beteiligungslösung als Minderheiten-Partner infrage kommt, so interpretiert
Rupp die Situation.
Wenn im Oktober die Bürgerschaft auf Grundlage des Bürgerbegehrens von
Verdi das Thema diskutiert, wird es vermutlich nur weiter in die Ausschüsse
verwiesen – SPD, Grüne und Senat sind sich nicht einig.
Was die Econum-Gutachter sagen
„Aus wirtschaftlicher Sicht können Joint-Venture-Lösungen im besten Fall
trotz der steuerlichen Nachteile in etwa das Niveau einer AöR-Lösung
erreichen, wohingegen sie im schlechtesten Fall deutlich schlechter (10,3
Mio p.a.) als diese abschneiden“, so steht es in dem vom Senat bestellten
Econum-Gutachten. Das bedeutet: Die Müll-Entsorgung könnte bis zu 10
Millionen Euro pro Jahr teurer werden, wenn einerseits aus den Müllgebühren
wie bisher Umsatzsteuer und Gewinne finanziert werden müssen, gleichzeitig
die Kommune aber angemessene Löhne durchsetzt und selbst Fachkompetenz und
Einfluss aufbauen will, was als zusätzliche staatliche Parallel-Struktur
finanziert werden müsste. Klar ist nach diesem Gutachten: Nur wenn sich die
Stadt – wie in den letzten 20 Jahren – die Müll-Politik vollkommen privaten
Interessen überlässt, können die zu erwartenden Kosten-Risiken für die
Müllgebühren mit dem Szenario einer vollständigen Rekommunalisierung
mithalten. Wenn, wie der Senat vor dem SPD-Beschluss geplant hatte, das
Modell einer vollständigen Rekommunalisierung vollkommen ausschließen will
und formal offen lassen will, mit welchem Anteil sich die Stadt an einer
privaten Müll-Entsorgung beteiligen will, wird es für die Gebührenzahler
also auf jeden Fall teurer. Einigkeit gab es im Senat übrigens darüber,
dass im Falle der Gründung einer „Anstalt öffentlichen Rechts“ diese nur
als juristisches Dach fungieren sollte, nicht als „operative“ Gesellschaft.
Dass die Betriebshöfe der Müllabfuhr zum Teil bis ins Jahre 2041 an die
Firma Nehlsen verpachtet sind, obwohl die Übertragung des Müllabfuhr auf 20
Jahre – also 2018 begrenzt ist, ist für den Senat kein Problem. Solche
kleinen Merkwürdigkeiten verschlechtern die Position anderer Bewerber,
falls sich bei der europaweiten Neuausschreibung der Müll-Entsorgung nicht
nur die vom Senat gewünschte Firma Nehlsen bewerben sollte.
Falls andere Bewerber ein günstigeres Angebot machen, müsste Nehlsen seine
Tochterfirma ENO in Insolvenz gehen lassen – rund 300 alte Müllwerker haben
für diesen Fall ein Rückkehrecht in den Öffentlichen Dienst. Diese Option
stellt einen erheblichen Trumpf für Nehlsen dar - schon aus diesem Grund
müsste die Stadt im Interesse von Nehlsen verhindern, dass andere Bewerber
eine Chance haben.
„Manches ist da nicht nachvollziehbar“, sagt der SPD-Geschäftsführer Rola…
Pahl zu solchen Details der Vertragslage von 1998. „Wer auch immer diese
Verträge konstruiert hat – eine Seite wurde über den Tisch gezogen.“
Die Senats-Gutachter hatten das übrigens auch vermerkt. Im Entwurf des
Econum-Gutachtens stand zu lesen: „Insgesamt zeigt sich, dass sich aus den
Leistungsverträgen mit der ENO, in Abhängigkeit der zukünftig angestrebten
Organisationsgrundform, erhebliche Nachteile für die Stadtgemeinde Bremen
im Hinblick auf die Fortführung der Leistungen nach Ablauf der
Vertragslaufzeit und deren zukünftige Ausgestaltung ergeben können. Dies
betrifft neben der Regelung zum Rückkehrrecht insbesondere auch den Hinweis
zur Neuausschreibung der Leistungen und die fehlende Regelung zum Rückkauf
des Anlagevermögens.“
Damit gingen die Gutachter in die Endabstimmung mit ihrem Auftraggeber. In
der Endfassung des Gutachtens ist diese kritische Bewertung der
Privatisierungs-Verträge von 1998 nicht mehr enthalten.
5 Oct 2014
## AUTOREN
Klaus Wolschner
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