# taz.de -- Unpolitische Studierende: Heute mal nicht die Welt retten | |
> Die Studierenden sind unpolitisch geworden, sagen zwei neue Studien. Doch | |
> die Geschichte zeigt: Sie lassen sich politisieren, wenn das Thema akut | |
> ist. | |
Bild: Proseminar statt Protest. Interessieren sich Studierende heute noch für … | |
BERLIN taz | Das Foyer der Berliner Humboldt-Universität wird nach wie vor | |
von Karl Marx beherrscht: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden | |
interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“ Die elfte | |
Feuerbach-These des Hausphilosophen der Linken prangt unübersehbar | |
gegenüber dem Eingang. Zum Büro der Studentenvertretung | |
„Referent_innenrat“, kurz ReFRat genannt, die die Interessen der | |
Studierenden vertritt, muss man sich erst mal durchfragen. | |
„Puh, der ReFRat, sagt ein Mädchen, die in einem Tross junger Leute die | |
Stufen erklimmt, „keine Ahnung, wo die sind, mit denen hatte ich noch nie | |
zu tun“. Auch die Umstehenden schütteln bedauernd den Kopf. | |
Die Studierenden von heute wollen nicht mehr die Welt verändern, sondern | |
flott durchs Studium kommen und Karriere machen. So legt es jedenfalls | |
[1][der aktuelle Studierendensurvey] der Universität Konstanz nahe, den die | |
Wissenschaftler zusammen mit der Bundesbildungsministerin vergangene Woche | |
vorstellten. 2013 sei ein Tiefstand zu verzeichnen, nur noch ein Viertel | |
der Studierenden hält Politik und öffentliches Leben für sehr wichtig. Eine | |
vom Bundespresseamt in Auftrag gegebene Befragung von Studierenden kommt | |
zum ähnlichen Fazit: Das Interesse an Politik sei nur mäßig ausgeprägt. | |
Bundesbildungsministerin Johanna Wanka ist von diesen Befunden irritiert – | |
sie sehe dieses Desinteresse bei den künftigen Eliten mit großer Sorge, | |
sagte sie bei der Vorstellung des Konstanzer Surveys. | |
Janina Reichmann hat nach dem bundesweiten Bildungsstreik im Jahre 2009 | |
angefangen zu studieren. Sie ist auf ein Jahr gewählte Studentenvertreterin | |
im Referent_innenrat – dessen Büro im Erdgeschoss des HU-Seitenflügels dann | |
doch leicht zu finden ist. | |
Wenn es um ihre unmittelbaren Belange geht, seien die Kommilitonen nach wie | |
vor zu begeistern, sagt Reichmann. Wenn es jedoch um allgemeine politische | |
Themen ginge, dann stelle sie ein bemerkenswertes Desinteresse fest. „Es | |
gibt vielleicht zehn, fünfzehn Leute, die sich engagieren und | |
beispielsweise bei den Flüchtlingsprotesten aktiv waren. Bei den restlichen | |
300 frage ich mich schon, warum sie ausgerechnet Sozialwissenschaften | |
studieren.“ | |
## Credit Points sind eine harte Währung | |
Eine RefRätin, die Jura studiert, hat einen anderen Eindruck. Die Menschen | |
in ihrem Umfeld seien eigentlich alle irgendwie politisch aktiv. Als die | |
Studierenden ihres Instituts ein Seminar zum Asylrecht organisierten, | |
hätten sich dort auch Kommilitonen angemeldet, ohne dafür Credit Points zu | |
kassieren. | |
Die Credit Points sind die harte Währung im Studiensystem. Für einen | |
erfolgreichen Bachelorabschluss braucht man 180 Punkte, 30 Punkte pro | |
Semester. Die Studierenden werden zu Jägern und Sammlern, jede Vorlesung, | |
jedes Seminar muss sich rechnen. | |
„Es ist schwierig, Menschen in einem so durchstrukturierten Studium für | |
Politik zu begeistern“, meint Erik Marquardt. Marquardt hatte 2008 | |
angefangen, in Berlin Chemie zu studieren. „Wenn man mal ein anderes Buch | |
als das Chemiebuch in die Hand nahm, dann musste man Angst haben, etwas zu | |
verpassen.“ Marquardt war das zu einseitig – er begann sich für | |
Hochschulpolitik zu interessieren, ging auf die Straße und wurde als | |
Sprecher des Zusammenschlusses der freien Student_innenschaften, fzs, auf | |
Podien eingeladen und zum Ansprechpartner für Politikerinnen und Rektoren. | |
## ASta der Uni Köln braucht Nachwuchs | |
Viele Studentenvertretungen haben dagegen mittlerweile Probleme, genügend | |
Aktive zu finden. „Wir suchen händeringend Nachwuchs“, meint Vincent | |
Schaenzer vom AStA der Universität Köln. | |
Die Uni der Domstadt gehört mit knapp 50.000 Studierenden zu den Top 3 der | |
deutschen Massenuniversitäten. Dass sich nicht jeder auf ein Jahr zum | |
Funktionär wählen lassen will, kann Schaenzer verstehen. „Das Studium | |
leidet darunter, und viele sagen: Ein Drittel der Regelstudienzeit für die | |
Selbstverwaltung – das ist es mir nicht wert.“ Bauchschmerzen bereitet dem | |
Finanzreferenten jedoch, dass nur eine Minderheit der Kommilitonen dem | |
jährlichen Aufruf zu den AStA-Wahlen folgt. | |
„Bei einer Wahlbeteiligung von 13 Prozent wird man nicht mehr so ernst | |
genommen“, befürchtet Schaenzer. Dabei kann der Kölner AStA über 1,1 | |
Millionen Euro in diesem Jahr verfügen. „Ich wundere mich, dass die | |
Studierenden so wenig Interesse zeigen, man könnte mit solchen Summen ja | |
auch Blödsinn anstellen“, sagt Schaenzer, der im fünften Semester | |
Wirtschaftsinformatik studiert. | |
## „Die 68er Bewegung wird heroisiert“ | |
Einer, der sich mit politisierenden Studierenden bestens auskennt, ist | |
Peter Grottian. Der umtriebige Professor lehrte bis zum Jahr 2007 am | |
Institut für Politikwissenschaften der Freien Universität Berlin und | |
stiftete seine Studierenden immer wieder zum zivilen Ungehorsam an: Er rief | |
zum Schwarzfahren gegen den Wegfall des Sozialtickets auf und zur Besetzung | |
ganzer Institute. | |
„Es war immer so, dass einige wenige politisierte Studenten die anderen | |
mitzogen“, sagt Grottian, der 2009 den bundesweiten Bildungsstreik gegen | |
die rigide durchgedrückte Bologna-Reform mit vorbereitete. Ein paar Dutzend | |
seien sie in den Vorbereitungsgruppen gewesen und unsicher, ob der Funke | |
überhaupt zündet. Auf dem Höhepunkt des Streiks im Wintersemester 2009 | |
gingen Hunderttausende auf die Straße. | |
Grottian kann also nicht erkennen, dass früher alles besser war. „Die 68er | |
Bewegung wird heroisiert“, meint er. Allerdings beobachtet Grottian, dass | |
der Anteil der Schüler und Studierenden bei gesellschaftlichen | |
Protestgruppen zurückgeht. „Schüler und Studenten waren früher immer eine | |
Bank bei sozialen Protesten, das ist heute nicht mehr so.“ | |
## Es gibt ein politisches Bewusstsein | |
Doch auch 1961 attestierte die Studie „Student und Politik“, an der auch | |
Jürgen Habermas beteiligt war, dass die Studierenden „kein Ferment | |
politischer Unruhe“ darstellten. Bekanntlich änderte sich das wenige Jahre | |
später. | |
„Es gab noch nie so viel politisches Bewusstsein unter Studierenden wie | |
heute“, meint Sandro Philippi, der für Erik Marquardt als Vorstandsmitglied | |
in den fzs nachgerückt ist. „Die jungen Leute gehen vielleicht nicht in | |
Parteien, aber sie machen sich Gedanken über Geschlechterverhältnisse und | |
gendern Sprache.“ Dass die Hochschulpolitik heute so wenig Konjunktur habe, | |
liege vor allem daran, dass es wenig demokratisch zugeht: In allen Gremien | |
entscheiden mehrheitlich die Professoren: „Da haben viele die Hoffnung | |
aufgegeben, noch etwas zu verändern.“ | |
Nicht so Vincent Schaenzer. Nach einem Jahr als AStA-Funktionär kann er | |
sich vorstellen, ein weiteres dranzuhängen: „Es ist reizvoll, Verantwortung | |
zu haben und zu sehen, dass man etwas verändern kann.“ | |
6 Nov 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://www.bmbf.de/pub/12._Studierendensurvey_barrierefrei.pdf | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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