| # taz.de -- DDR-Autor Scherzer über Haltung: „Ich bin wohl doch Sozialist“ | |
| > Der Schriftsteller Landolf Scherzer gab in seinen Reportagen Einblicke in | |
| > die bröckelnde DDR. Ihr Ende aber sah er bis zum 9. November nicht | |
| > kommen. | |
| Bild: „Wer vorher Fahnen schwenkte, hat es danach auch getan.“ – Scherzer… | |
| taz: Herr Scherzer, verstehen Sie, dass viele Menschen der | |
| 25-Jahre-Mauerfall-Gedenkfeiern überdrüssig sind? | |
| Landolf Scherzer: Ja, geht mir auch so. Es erinnert mich manchmal an die | |
| Propaganda der DDR, in der ja auch immer das gute Heute gegen das böse | |
| Gestern gefeiert wurde. Das Ritual ist ähnlich, die Ermüdung auch. | |
| Sie meinen, das Gedenken soll dem Publikum etwas einbläuen wie in der DDR? | |
| Nein, so weit gehe ich nicht. Aber der Jubel, dass die heutige Gesellschaft | |
| demokratisch, gut und frei ist, die DDR aber die Verkörperung allen | |
| Unrechts und des Bösen, geht mir auf die Nerven. Das Wort Wende kann ich | |
| nicht mehr hören. Die Menschen waren nach dem 9. November 1989 doch die | |
| gleichen. Wer vorher nur an die Karriere dachte, hat es danach auch getan. | |
| Die Wende hat die DDR-Bevölkerung nicht verändert? | |
| Wer vorher Fahnen schwenkte, hat es danach auch getan. Das wird in den | |
| Jubelfeiern ausgeblendet. Mir ist das zu einseitig. | |
| Sie haben mit Ihrer Reportage „Der Erste“ 1988 ein Endzeitpanorama der DDR | |
| geschildert. Das Buch beschreibt den ersten SED-Kreissekretär von Bad | |
| Salzungen in seinem Bemühen, trotz widriger Umstände die moralisch und | |
| ökonomisch richtigen Entscheidungen zu treffen. Auszüge wurden sogar im | |
| Spiegel abgedruckt. Warum konnte das Buch damals erscheinen? | |
| Weil ein Hauch von Gorbatschows Glasnost auch in der DDR wehte. Das | |
| Politbüro war nicht mehr homogen. Fünf Jahre zuvor wäre dieses Buch kaum | |
| erschienen. | |
| Haben Sie damals verstanden, dass es mit der DDR zu Ende geht? Sie | |
| beschreiben ja detailliert den sozialen und ökonomischen Zusammenbruch. | |
| Nein, nein. Ich habe das geschrieben, um die DDR zu verändern, nicht um den | |
| Sozialismus zu zerstören. Ich habe geglaubt, wenn wir die Wirklichkeit | |
| beschreiben, wenn wir die Lügen aufdecken, dann können wir den Sozialismus | |
| verändern. | |
| Sie waren naiv. | |
| Mein Freund Günter Wallraff hat mir damals gesagt: „Landolf, du kannst | |
| nicht rechnen. Zähl doch alle Details aus ’Der Erste‘ zusammen, dann siehst | |
| du doch, dass der Sozialismus nicht funktioniert.“ Das konnte ich nicht. | |
| Warum nicht? | |
| Weil ich überzeugt war, dass wir die Gesellschaft selbst verändern müssen, | |
| wir und nicht der Westen … | |
| … der Klassenfeind … | |
| Ja, so hieß das damals. | |
| Wann wurde Ihnen klar, dass die DDR untergeht? | |
| Ich war ein Spätzünder. Ich bin im Oktober 1989 in die Sowjetunion | |
| gefahren, um ein Reportagebuch zu schreiben. Um zu beschreiben, wie dort | |
| Pressefreiheit wirkt und Arbeiterräte funktionieren. Weil ich dachte, dass | |
| wir davon etwas lernen können. | |
| Haben Sie mitbekommen, was am 9. November passierte? | |
| Ich schlief damals in einer Bauarbeiterunterkunft in Sibirien. Abends | |
| schauten wir immer „Wremja“, die sowjetischen Nachrichten. Allerdings war | |
| der Ton des Fernsehers kaputt, und das Bild lief von unten nach oben. Da | |
| sah ich trotz Flimmern, dass Leute mit Sektflaschen auf der Berliner Mauer | |
| standen. | |
| Und dann? | |
| Habe ich mich betrunken. | |
| Warum? | |
| Weil klar war, dass dies das Ende der DDR war. Als ich im November 1989 | |
| zurück in die DDR kam, habe ich gesehen, wie eine Familie einen alten Mann | |
| auf einer Tragbahre in einen Zug Richtung Kassel verfrachtete. Der Opa | |
| musste mit, damit der auch 100 D-Mark Begrüßungsgeld bekam. | |
| Herr Scherzer, darf man Sie sich noch als Sozialisten vorstellen? | |
| Eher nicht. Aber mich interessiert noch immer die Perspektive der kleinen | |
| Leute. Ich versuche mit dem, was ich schreibe, auf der richtigen Seite zu | |
| stehen. | |
| Was meinen Sie denn mit der richtigen Seite? | |
| Ich habe zuletzt ein Buch über Griechenland geschrieben. Dort habe ich | |
| Arbeiter getroffen, die in der Krise ihre Fabrik selbst verwalten. Und ich | |
| freue mich natürlich, wenn in Brasilien eine Linke Präsidentin bleibt. Ich | |
| bin ein großer Freund des solidarischen Gemeinwesens. Von daher bin ich | |
| wohl doch Sozialist. | |
| Sind Sie Mitglied einer Partei? | |
| Nein. Als 1989 der Parteisekretär unseres Bezirksverbandes Suhl sein | |
| Parteibuch abgab, der vorher zuverlässig jede Idee abgewürgt hatte, bin ich | |
| spontan in der SED geblieben. Später war ich beim Parteitag dabei, als die | |
| SED in SED-PDS umbenannt wurde. Ich hatte mir gewünscht, wir hätten eine | |
| ganz neue Partei gegründet. Warum das nicht ging, haben mir Gregor Gysi und | |
| Hans Modrow beim Pinkeln auf der Toilette erklärt. Die sagten: „Versteh | |
| doch mal, wenn wir den Namen SED aufgeben, haben wir keinen Pfennig Geld | |
| mehr. Nichts, gar nichts!“ Damit hatten sie nicht unrecht. | |
| Später bin ich in den Parteivorstand gewählt worden. Aber im Frühjahr 1990 | |
| bin ich dann ausgetreten. Das war, als einige Millionen Mark Parteivermögen | |
| in die Schweiz verschoben worden waren. Zu einer Zeit, als es vor allem um | |
| Ehrlichkeit ging. Ich habe gesagt, das kann ich nicht, Leute. Da habe ich | |
| natürlich noch nicht gewusst, dass Kohl das ganz genauso machte. Seither | |
| bin ich parteilos. | |
| Können Sie erklären, warum die DDR-Führung ein so großes Problem mit | |
| Intellektuellen und Künstlern hatte? | |
| Wenn du, sagen wir, als Kfz-Meister deine Arbeit gegen Badezimmerkacheln | |
| getauscht hast, bewegten sich nur materielle Dinge. Bei den Intellektuellen | |
| bewegten sich geistige Dinge, das war nicht zu kontrollieren. Da konnte man | |
| weder eingreifen noch etwas ausnutzen. Als ich später meine Stasi-Akte | |
| gelesen habe, habe ich gedacht: Mein Gott, Scherzer, was hast du denn | |
| gemacht? Du warst ein guter Genosse, du wolltest den Sozialismus verändern. | |
| Und man hat dich als Feind des Sozialismus bezeichnet. | |
| Warum eigentlich? | |
| In der DDR hatte man ein vollkommen falsches Verhältnis zu Kritik. Kritik | |
| war immer gegen die Gesellschaft gerichtet. Ich aber meinte, reine | |
| Tatsachenbeschreibungen seien keine Kritik. Sondern Hilfe, um etwas zum | |
| Guten zu verändern. Aber wenn die ganze Gesellschaft verklärt wird, werden | |
| Tatsachenbeschreibungen etwas Schlimmes, Unerhörtes. Und genau das war das | |
| Problem: Intellektuelle haben keine Kacheln verschoben, sondern Tatsachen | |
| benannt. | |
| Sie haben als Journalist Parteistrafen bekommen, Bücher von Ihnen wurden | |
| vom Markt genommen. Ohne Ihnen eine Widerstandsbiografie andichten zu | |
| wollen – was für ein Gefühl war das, als Sozialist vom sozialistischen | |
| Staat verschmäht zu werden? | |
| Ich habe nicht begreifen wollen, dass es am System lag. Ich habe immer | |
| gedacht, es liegt an einzelnen Leuten. Deshalb habe ich auch immer gedacht, | |
| man kann den Sozialismus retten, indem man zum Beispiel die Führungsebene | |
| austauscht. | |
| Erstaunlich. Als die Mauer fiel, waren Sie schon 48 Jahre alt. | |
| Ich könnte Ihnen auch was anderes erzählen. Heute machen das ja viele: dass | |
| sie schon immer alles gewusst haben, und weiß der Kuckuck was. Das werden | |
| Sie von mir nicht hören. Es war meine eigene Unfähigkeit. | |
| Woher rührte die? | |
| Ich bin aufgewachsen mit diesem Glauben, dass der Sozialismus die | |
| Alternative zum Kapitalismus ist. Und als ich begriffen hatte, was Scheiße | |
| war, dachte ich: Also musst du ihn verändern. Du wirst nicht das, wogegen | |
| du dein ganzes Leben warst, als Alternative für dein Leben wählen. Ich | |
| konnte diesen Schritt nicht gehen. Denn sonst hätte ich alles wegtun | |
| müssen, alles. Und das ist für einen Menschen immer ganz schwierig. Für | |
| mich auch. | |
| Zum Abschluss noch diese Frage: Kennen Sie noch einen DDR-Witz? | |
| Honecker, Jaruzelski und Schiwkow, die Parteichefs der DDR, Polens und | |
| Bulgariens, sind bei Breschnew in Moskau eingeladen. Sie sitzen Breschnew | |
| gegenüber. Da steht der Bulgare auf: Oh Scheiße, so eine lange Reißzwecke | |
| im Arsch! Der Pole steht auf und zieht sich ebenfalls eine Reißzwecke raus. | |
| Nur Honecker bleibt sitzen und keucht: „Der Genosse Breschnew wird sich | |
| schon was dabei gedacht haben!“ | |
| 6 Nov 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Anja Maier | |
| Stefan Reinecke | |
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