# taz.de -- Fluchtwege aus Syrien: Die letzte Reise der „Blue Sky M“ | |
> Menschen in Viehtransportern: Statt alte Frachter zu verschrotten, nutzen | |
> Schlepper sie als Flüchtlingsschiffe. | |
Bild: Ein Flüchtling beobachtet die Landung der „Ezadeen“ in Italien. | |
Selbst das UN-Flüchtlingswerk UNHCR war überrascht. „So etwas haben wir in | |
dieser Größenordnung in den letzten Jahren nicht gesehen. Das ist eine neue | |
Quantität“, sagt Deutschland-Direktor Hans Ten Feld. Die Rede ist von den | |
von den Medien „Geisterschiffe“ getauften Frachtern „Blue Sky M“ und | |
„Ezadeen“. | |
Sie waren vergangene Woche in italienischen Gewässern aufgegriffen worden. | |
An Bord waren keine Geister und keine Besatzung, aber insgesamt 1.300 | |
Flüchtlinge aus Syrien. Für Ten Feld ein „Beleg dafür, dass es zu wenig | |
legale Wege aus dem Krieg gibt“. | |
Nach Recherchen der italienischen Zeitung Corriere della Sera wurden die | |
359 Passagiere des unter sierra-leonischer Flagge fahrenden | |
Viehtransporters „Ezadeen“ per Flugzeug vom Libanon in die Türkei gebracht. | |
Der Preis: 8.000 Dollar. Der Startpunkt der Reise ist strittig: Teils ist | |
vom westtürkischen Hafen Didim die Rede, meist jedoch vom südtürkischen | |
Mersin. | |
Die Insassen berichteten, dass die Schleuser sich mit einem Rettungsboot | |
absetzten. Kurz darauf schleppte ein isländisches Patrouillenboot im | |
Frontex-Einsatz die „Ezadeen“ an Land. Die Insassen wurden in | |
Aufnahmezentren in Süditalien gebracht. Über den Verbleib der Schleuser ist | |
nichts bekannt. | |
Anders bei der in der Republik Moldau registrierten „Blue Sky M“. Der mit | |
900 Syrern besetzte Frachter wurde offenbar von einem 36-jährigen Syrer | |
namens Sarkas Rani gesteuert, der mit seiner Familie an Bord gekommen war. | |
Dafür erhielt er nach eigener Aussage freie Überfahrt, zudem waren dem | |
gelernten Kapitän 15.000 Dollar für die Navigation versprochen worden. | |
## Das Schleppergeschäft blüht | |
Der Frachter habe vor dem Hafen von Mersin geankert. Vier Tage lang seien | |
die Passagiere mit kleinen Booten an Bord gebracht worden. Andere Medien | |
nennen als Startpunkt der Reise hingegen Körfez nahe Istanbul. Rani hatte | |
das Schiff vor der Ankunft in Italien auf Autopilot gestellt, um sich | |
unerkannt unter die Passagiere zu mischen. Der Plan misslang. | |
Ein Stellungnahme der türkischen Behörden steht bisher aus. Doch | |
offensichtlich blüht das Schleppergeschäft – und zwar keineswegs im | |
Verborgenen. Plätze auf der „Ezadeen“ wurden auf Facebook angeboten – ein | |
Novum. Zwei italienische Journalisten nahmen vor wenigen Tagen telefonisch | |
Kontakt mit Schleusern in der Türkei auf. Sie wollten wissen, ob diese den | |
Transfer von zwei Syrern und einem 5-jährigen Kind übernehmen könnten. | |
Die Schleuser stellten die Abfahrt eines 120 Meter langen Frachters von | |
Mersin aus in Aussicht. Preis 6.000 Dollar pro Kopf, das Kind reise gratis. | |
Das Geld sei bei einer Agentur in Mersin zu deponieren, erst bei Ankunft in | |
Italien müssten die Flüchtlinge den Code mitteilen, um die Summe für die | |
Schlepper freizugeben. Einmal täglich während der Überfahrt, versprachen | |
die Schlepper, würden sie Informationen über den Reiseverlauf ins Internet | |
stellen. | |
Die türkische Küstenwache verweist darauf, dass sie sich bei der Verfolgung | |
von Flüchtlingen „vor allem auf die Ägäis konzentriert“ – also das | |
Seegebiet im Westen, vor Griechenland. Das dürfte ein Grund dafür sein, | |
dass jetzt Großfahrtschiffe direkt bis nach Italien fahren. | |
## Ein Hafen wie ein Sieb | |
Nach Angaben von Flüchtlingen sollen allein seit September 15 Frachter von | |
türkischen Häfen Richtung Italien ausgelaufen sein, berichtet ein | |
Flüchtling. Mersin sei wie ein Sieb, in dem die Flüchtlinge leicht | |
durchrutschen könnten. Der Hafen dort ist ein großer Umschlagplatz, der | |
2007 privatisiert wurde. | |
Von den mittlerweile 1,6 Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei | |
leben nur rund 250.000 in staatlichen Lagern. Alle anderen sind entweder | |
privat untergekommen oder leben auf der Straße. In Städten nahe der | |
syrischen Grenze sind die Mieten explodiert, weil Flüchtlinge, die sich das | |
leisten können, schnell bereit sind, überhöhte Mieten zu zahlen. Syrer mit | |
guten Beziehungen zur in Ankara regierenden AKP erhalten mittlerweile auch | |
Lizenzen, um Läden zu eröffnen. | |
In Gaziantep, der größten Stadt nahe der türkisch-syrischen Grenze, kam es | |
schon vor Monaten zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen | |
eingesessenen Ladenbesitzern und syrischen Konkurrenten. In Istanbul, | |
Ankara und den anderen Großstädten der Türkei verdingen sich die | |
Flüchtlinge zu Tausenden für einen Hungerlohn etwa auf Baustellen und | |
verdrängen einheimische Arbeiter. | |
## Geisterschiffe ohne Zukunft | |
Wirklich verstecken müssen sich die Schlepper in der Türkei offenbar nicht. | |
Deshalb macht die italienische Regierung jetzt Druck auf Ankara. Die Türken | |
sollen „die Schiffe blockieren“, sagte Innenminister Angelino Alfano. Auch | |
Griechenland wirft er Untätigkeit vor. Die „Blue Sky M“ war am 30. Dezember | |
nahe der Insel Othonoi der griechischen Küstenwache aufgefallen, die das | |
Schiff jedoch passieren ließ. | |
„Die Schleuser können sich auf einen konstanten Strom von Kunden | |
verlassen“, meint Joel Milman von der UN-Migrationsorganisation IOM. | |
Dadurch seien die Profite solcher Trips leicht kalkulierbar. Ist nun also | |
damit zu rechnen, dass künftig dauernd „Geisterschiffe“ in der EU anlanden? | |
Eher nicht, sagt der deutsche Abwrackexperte Henning Gramann. Alte Schiffe | |
seien auch zum Schrottwert noch „sehr attraktiv“, pro Tonne liege der | |
Stahlpreis derzeit bei bis zu 450 Dollar – auch ein kaum noch seetüchtiges | |
Schiff sei Millionen wert. Infrage für solche Deals kämen höchsten Schiffe | |
mit unklaren Besitzansprüche, die unter der Hand verkauft würden. Die IOM | |
dagegen glaubt, dass die Passagiere der „Blue Sky M“ insgesamt etwa drei | |
Millionen Dollar bezahlt haben. | |
## Risikoreiches Geschäftsmodell | |
Hinzu kommt: Schiffe unkenntlich zu machen, ist sehr schwierig. Die | |
Besitzer sind leicht zu ermitteln und wenigstens theoretisch für | |
Strafverfolgung greifbar. Die „Blue Sky M“ etwa gehört nach Registerangaben | |
der im rumänischen Constanta ansässigen Fairway Navigation Ltd. Die | |
„Ezadee“ ist in Besitz des syrischen Unternehmers Youssef Mohamad Lebbadi. | |
Dessen Reederei ist in der Hafenstadt Tarus ansässig. | |
Das Geschäftsmodell ähnelt dem eines Autovermieters, der seinen Wagen für | |
einen Banküberfall hergibt. Dabei wurden die Strafen für Schlepperei in den | |
vergangenen Jahren empfindlich erhöht: In Griechenland müssen Fluchthelfer | |
mit 15 Jahren Gefängnis für die erste Person und zwei weiteren Jahren für | |
jede weitere Person rechnen. Höchststrafe: 25 Jahre. | |
Auch in Italien hatten die Postfaschisten 2002 mit dem „Bossi-Fini-Gesetz“ | |
die Strafen erhöht. Allein seit Mitte Juni 2014 finden sich in | |
italienischen Zeitungen Berichte über die Festnahme von insgesamt 260 | |
Fluchthelfern. Es sind keineswegs nur „Professionelle“, sondern auch | |
Flüchtlinge, die Boote steuern, selbst wenn sie, anders als der „Blue Sky | |
M“-Kapitän Rani kein Geld nehmen. | |
7 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Christian Jakob | |
Jürgen Gottschlich | |
Michael Braun | |
## TAGS | |
Flüchtlinge | |
Syrien | |
Italien | |
Schlepper | |
Asylrecht | |
Flüchtlingspolitik | |
Flüchtlinge | |
Flüchtlinge | |
Bürgen | |
Flüchtlingspolitik | |
Libanon | |
Mittelmeer | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Urteil des Bundesgerichtshofs: Schleuser müssen mit Haft rechnen | |
Fluchthelfer können sich nicht auf Rechte der Flüchtlinge berufen, so der | |
BGH. Asylberechtigten von Griechenland nach Deutschland zu helfen, ist | |
strafbar. | |
Syrische Flüchtlinge in der Türkei: Schule als Therapie | |
Viele syrische Flüchtlinge sind minderjährig. In einer Schule in der Türkei | |
können sie sich für ein paar Stunden wie normale Kinder verhalten. | |
Engagement für syrische Flüchtlinge: EU sagt verstärkte Finanzhilfe zu | |
Der für humanitäre Hilfe und Krisenmanagement zuständige EU-Kommissar | |
Christos Stylianides kündigt die Bereitstellung zusätzlicher Mittel an. | |
Syrische Flüchtlinge in der Türkei: Warten auf das Geisterschiff | |
Für 150.000 syrische Flüchtlinge ist die türkische Stadt Mersin das Tor | |
nach Europa. Für andere ist ihr Schicksal ein Millionengeschäft. | |
Zuwanderungspolitik im Libanon: Die Bürgschaft | |
Die Regierung hat die Einreise erschwert: Nun müssen alle syrischen | |
Flüchtlinge Bürgen vorweisen, um die Grenze übertreten zu dürfen. | |
Kommentar Europas Flüchtlingspolitik: Druck auf Transitländer | |
Den Schleppern das Handwerk legen. Das ist für die EU ein Hauptziel. Doch | |
es ist die Totalabschottung, die das Schlepperbusiness am Laufen hält. | |
Libanon führt Visumpflicht für Syrer ein: Flüchtlinge sollen draußenbleiben | |
Beirut will die Flüchtlinge aus dem Bürgerkriegsland Syrien mit einer | |
Visumpflicht stoppen. Der UNHCR-Sprecher ruft zu Hilfe für den Libanon auf. | |
Führerloses Flüchtlingsschiff „Ezadeen“: 360 Menschen sind in Sicherheit | |
Die „Ezadeen“ ist in Italien gelandet. Das Frachtschiff trieb ohne | |
Besatzung und mit hunderten Flüchtlingen an Bord im Mittelmeer. Die meisten | |
von ihnen stammen aus Syrien. |