# taz.de -- Syrische Flüchtlinge in der Türkei: Warten auf das Geisterschiff | |
> Für 150.000 syrische Flüchtlinge ist die türkische Stadt Mersin das Tor | |
> nach Europa. Für andere ist ihr Schicksal ein Millionengeschäft. | |
Bild: Flüchtlinge in Mersin. Das Schiff, das einläuft, ist eine Fähre, die F… | |
MERSIN taz | Schaadi raucht und wartet. Im Foyer des Hotels, das zu seiner | |
zweiten Heimat geworden ist, steckt er sich eine Zigarette nach der anderen | |
an und schaut nervös aufs Handy, wartet auf den entscheidenden Anruf. „Ich | |
hab gehört, dass morgen ein Schiff fahren soll“, sagt er, die Stimme halb | |
hoffnungsvoll, halb resigniert. Der Buchhalter aus Damaskus mit dem | |
erloschenen Lächeln ist vor ein paar Tagen 34 Jahre alt geworden und er hat | |
den Schleusern schon 6.000 Dollar gezahlt, für eine Passage nach Italien – | |
und „von dort nach Deutschland, da werde ich Asyl erhalten und meine | |
Familie nachholen“. | |
Schaadi ist einer von denen, die eine Passage auf dem nächsten | |
„Geisterfrachter“ Richtung Italien gebucht haben. Die bevorstehende Abfahrt | |
ist ein offenes Geheimnis hier in Mersin, der südtürkischen Hafenstadt, die | |
für die Syrer, die vor dem Krieg geflüchtet sind, zum Tor nach Europa | |
geworden ist. In den Kebab-Restaurants, in den etwas heruntergekommenen | |
Hotels beim Busbahnhof, in den Cafés an der Strandpromenade, in denen man | |
mittlerweile mehr Arabisch als Türkisch hört – alle sagen es hinter | |
vorgehaltener Hand: Ein etwa 100 Meter langes Schiff stehe schon zur | |
Abfahrt bereit und warte bloß auf besseres Wetter. | |
In diesem kleinen Viertel, das sich faktisch in einen Transitbereich | |
verwandelt hat, trifft man viele Menschen. Sie sind einfach da, sie hängen | |
rum, sie warten auf nichts anderes als den Anruf und dann die Abfahrt. Vor | |
allem Männer sind es, aber auch reichlich Frauen und Kinder, bisweilen | |
ganze Familien. Nicht die Habenichtse, die man in den Flüchtlingslagern | |
jenseits der Grenze trifft, sondern die Mittelklasse prägt hier das Bild – | |
Akademiker, Händler, Handwerker. | |
Sie haben Häuser, Autos, Schmuck verkauft, um das Geld zusammenzukratzen, | |
das für die Reise nach Italien fällig ist, der Preis liegt zwischen 5.500 | |
und 6.500 Dollar, je nach Vermittler und Verhandlungsgeschick. Die Fahrt | |
nach Deutschland, Holland oder Dänemark kostet extra | |
## Eine letzte Mahlzeit | |
## | |
Zum Beispiel Kamil, 16 Jahre alt, Bartflaum und ein schüchternes Gesicht, | |
das in merkwürdigem Kontrast steht zu dem Unternehmen, zu dem er sich | |
anschickt. Nach Mersin ist er mit seinem Vater gekommen, doch abfahren soll | |
er allein. Der Vater wird zur Frau und den anderen Kindern zurückkehren. | |
Die beiden verzehren ihr letztes gemeinsames Mittagessen. Vater Ahmed hat | |
alles Nötige geregelt, er hat den Vermittler bezahlt und ist dabei, sich | |
auf die Rückreise zu machen. Er umarmt Kamil und sagt, als wolle er sich | |
selbst überzeugen, dass es richtig ist, einen Minderjährigen an Bord eines | |
illegalen Frachters zu schicken, mit lauter Stimme: „Er hatte keine Zukunft | |
in Syrien, seine einzige Chance ist Europa. Und der einzige Weg dorthin ist | |
das Schiff.“ | |
Kamil nickt, gibt sich optimistisch, doch man sieht ihm die Angst an, die | |
ihm den Magen zusammenschnürt. „Alles wird gut“, versichert der Vater. Dann | |
fragt er, warum die ganze Welt den Syrern die Tür zuschlägt. „Sogar der | |
Libanon verlangt jetzt ein Visum für die Einreise. Die Türkei ist das | |
einzige Land, das uns noch aufnimmt.“ Etwa 1,8 Millionen syrische | |
Flüchtlinge leben mittlerweile in der Türkei, und allein in Mersin sind es | |
nach Schätzungen aus dem Rathaus 150.000. Wenigstens tausend von ihnen | |
sollen bereit sein, an Bord des nächsten abfahrenden Schiffs zu gehen. | |
Die neue Türkei-Italien-Route ist im letzten Herbst entstanden, auch weil | |
Italien die humanitäre Mare-nostrum-Mission erst reduziert, dann komplett | |
eingestellt hat. Der erste Frachter aus der Türkei traf am 28. September | |
2014 in Italien ein. Seitdem kamen zwölf weitere Schiffe mit insgesamt etwa | |
6.500 Flüchtlingen. Das letzte, die „Ezadeen“, wurde in der Nacht vom 2. | |
auf den 3. Januar in den Hafen Corigliano Calabro geleitet. | |
## Einkalkulierter „Totalverlust“ | |
Das Vorgehen ist immer gleich: Die Schleuser kaufen billig schrottreife | |
Frachter, stopfen sie mit Passagieren voll und schicken sie – bei | |
einkalkuliertem „Totalverlust“ des Schiffs – Richtung Italien. Nach fünf, | |
sechs Tagen schaltet die Besatzung den Autopiloten ein, setzt einen | |
Hilferuf ab und verdrückt sich. Dann greifen italienische Hilfseinheiten | |
ein und bugsieren das Schiff in den nächsten Hafen. | |
Am 31. Dezember 2014 hätte ein verspätet abgesetzter Hilferuf beinahe zu | |
einer Tragödie geführt, als die „Blue Sky M“ bloß fünf Seemeilen vor der | |
Küste Apuliens führerlos aufgebracht und dann mit ihren 970 Passagieren, | |
die meisten Syrer, in den Hafen Gallipoli gebracht wurde. | |
In den sozialen Netzen wird für die Reisen geworben – mit Tarifen, | |
Informationen und den Mobilnummern der Vermittler. Die Annoncen sind | |
unmissverständlich: „Schiff mit Länge von 75-120 Meter, Abfahrt Richtung | |
Italien, ohne Pass und Visum“. „Wir organisieren eine Reise von Mersin | |
aus“, sagt am Telefon ein Schlepper, der behauptet, derzeit in Istanbul zu | |
sein. „Alles ist sicher. Decken, Essen, die Unterbringung in den Hotels bis | |
zum Abfahrtstag, alles geht auf unsere Kosten. Das ist so wie bei einer | |
Kreuzfahrt.“ | |
## Fast sechs Millionen Dollar Einnahmen | |
Die Telefonnummern sind unverschlüsselt, die Mittelsmänner agieren so, als | |
arbeiteten sie für ein normales Reisebüro. Etwa 15 sollen es sein, allesamt | |
über die Türkei verstreute Syrer, angeblich bekommen sie eine | |
Vermittlungsgebühr von 500 Dollar pro Passagier. Der Profit, der für die | |
Chefs anfällt, ist immens. Die Rechnung ist einfach: Bei 6.000 Dollar für | |
jeden der 970 Passagiere hat ein Schiff wie die „Blue Sky M“ fast sechs | |
Millionen Dollar eingebracht. Und auch wenn man die Kosten für das Schiff, | |
für die Mittelsmänner und für die Crew abzieht, bleibt eine gewaltige | |
Summe. | |
Die neue Reiseroute hat beste Chancen, in naher Zukunft weiter zu | |
expandieren. Ein anderer Vermittler, der seine Leistungen auf Facebook | |
anpreist, verkauft Tickets für „eine Yacht, Abfahrt von der türkischen | |
Küste, die euch direkt zu einem italienischen Strand bringt, 40 Plätze, | |
Preis 6.000 Dollar. Reduzierte Tarife für Kinder und Alte“. Am Telefon | |
teilt der Mann mit, dass "das Boot von Istanbul, von Izmir oder Antalya | |
abfahren könnte. Das wird kurz vorher mitgeteilt." Außerdem hat er Plätze | |
auf einem anderen Schiff, das „für nur 7.000 Dollar die Passagiere in | |
Tripolis im Libanon an Bord nimmt“. | |
Die Probleme auf der Libyenroute – sie wird immer gefährlicher wegen der | |
Situation im Land und des schlechten Wetters im Winter – haben dazu | |
geführt, dass die Ostmittelmeerroute wichtiger geworden ist. Und die | |
Einstellung der italienischen Mare-nostrum-Mission, deren Schiffe bis Ende | |
2014 auch bis unmittelbar vor die libysche Küste fuhren, um Booten in | |
Seenot zu helfen, hat diesen Effekt verstärkt. Die Syrer sind zudem bereit, | |
wesentlich mehr zu zahlen, nicht zuletzt um sich so eine höhere Sicherheit | |
auf der Reise zu erkaufen. | |
## Man muss sich auf Arabisch durchfragen | |
Die Zahlung erfolgt in einem Büro, das nur zwei Schritte von der | |
Meerespromenade entfernt ist. Es kostet Mühe, das Büro zu finden – es gibt | |
keinen Hinweis, kein Schild an der Tür. Aber man muss sich bloß auf der | |
Straße umhören. Kaum fragt man auf Arabisch, wissen alle Bescheid. Eine Tür | |
im ersten Stock eines anonymen Gebäudes, zwei einfach eingerichtete Zimmer, | |
und man ist am Ticketschalter für die klandestinen Reisen. | |
Es ist wie bei einem informellen Money-Transfer-Dienstleister. Sie sammeln | |
das Geld ein, sie legen es ins Depot und sie geben dem Einzahler einen | |
Nummern-Code. Einmal nach Italien gelangt, ruft der Flüchtling dann die | |
Schleuser an und teilt ihnen den Code mit. Gezahlt wird also bei Ankunft – | |
gleichsam mit Geld-zurück-Garantie, wenn die Reise scheitert. | |
In Mersin werden die Passagiere nachts auf Boote geladen und zum Frachter | |
gebracht, in dessen Bauch sie die Reise verbringen. „Sie bringen dich mit | |
dem Auto zu einem Ort etwa 50 Kilometer von der Stadt entfernt. Dann machen | |
die Leute einen Fußmarsch von etwa einer Stunde durch einen Wald, bis zum | |
Strand, wo 20 bis 30 Meter lange Boote warten“, erzählt Wassim. | |
## „Ich kann es kaum erwarten“ | |
Der 27-Jährige war früher einmal Uhrmacher. Er floh aus Syrien, nachdem er | |
mehrere Monate in den Gefängnissen Baschar al-Assads verbracht hatte, da er | |
es abgelehnt hatte, in den Kampf zu ziehen. Nachdem er auf allen | |
erdenklichen Wegen versucht hatte, ein Visum für Europa zu bekommen, ließ | |
er seine schwangere Frau in Damaskus zurück, kam nach Mersin und | |
kontaktierte die Schleuser. Ein Freund, der auf der „Blue Sky M“ war, hatte | |
ihm den Kontakt zu einem „vertrauenswürdigen Vermittler“ verschafft und ihm | |
erzählt, wie die Reise verläuft. „Auf den kleinen Booten schiffen sie jedes | |
Mal etwa 50 Leute ein“, erklärt Wassim. „Ich bin jetzt seit zwölf Tagen in | |
Mersin und kann es kaum erwarten, endlich abzureisen.“ | |
Neben ihm schüttelt Schaadi, der Buchhalter, den Kopf. Seit nunmehr drei | |
Wochen lebt er in ewigem Warten, verbringt immer gleiche, leere, | |
aufreibende Tage, und die Anspannung findet ihr Ventil bloß in | |
fatalistischem Nichtstun. Während die beiden am Tisch beim hundertsten Tee | |
weiterdiskutieren, kommt ein vielleicht dreijähriger Knirps heran und ruft | |
laut: „Ich will das Schiff nehmen und nach Deutschland reisen!“ | |
„Er wiederholt bloß, was er hier seit Tagen hört“, sagen die beiden, | |
während sie kräftig lachen. So wird es sein: Auch der kleine Junge wird auf | |
einen Frachter steigen, und wenn alles gut geht, wird er sich noch in | |
Jahren an Mersin, die Durchgangsstadt, und an die Reise übers Meer | |
erinnern, einem neuen Leben entgegen, fern von seinem Land, fern von einem | |
Krieg, der ausbrach, als er noch nicht einmal geboren war. | |
Aus dem Italienischen von Michael Braun | |
27 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Stefano Liberti | |
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