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# taz.de -- Schlagloch Sicherheit: Freiheit und Handschellen
> Die Hysterie nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ war unerträglich. Der
> Terror in Nordnigeria bleibt dagegen ohne Folgen.
Bild: „Die größte Gefahr für die freie Meinungsäußerung ist die Regierun…
Auf den Schock über die Anschläge in Paris folgte der Schock über die
öffentlichen und privaten Debatten. Selbst ansonsten vernünftige Menschen
reagierten mit Äußerungen, die unter der Last ihrer Panik torkelten. Die
Wiener Tageszeitung Der Standard betitelte ihren Kommentar „Freiheit
braucht Sicherheit“, ohne diese Losung in ihrer perfiden Logik
durchzudeklinieren: Freiheit braucht Belauschung, Freiheit braucht
Handschellen.
Mit anderen Worten: Wir brauchen keine Freiheit. Keine Überraschung, dass
Politiker, Experten und Law-and-Order-Befürworter die Morde
instrumentalisierten, um ihre schon oftmals diskreditierten Behauptungen zu
dringlichen Forderungen zu schmieden. Die Vorratsdatenspeicherung wurde von
den Toten wiederauferweckt, ungeachtet dessen, dass sie sowohl vom
Bundesverfassungsgericht als auch vom Europäischen Gerichtshof
abgeschmettert wurde, so als hätten die Morde in Paris die Gerichte
überstimmt.
Der Rechtsstaat soll gewährleistet werden, indem er ausgehöhlt wird, gemäß
dem seit Jahren befolgten Prinzip, die Freiheit durch die Einschränkung der
Freiheit zu verteidigen. In einigen Ländern wurde Aufrüstung des
Sicherheitsapparats im Eilverfahren beschlossen, unabhängig davon, ob die
Maßnahmen ihren behaupteten Zweck überhaupt erfüllen können. Ganze
Gesellschaften gossen sich einen potenten Cocktail aus Angst, Blindheit und
Aktionismus hinter die Binde.
Dabei sollte die erste Bürgerpflicht in Zeiten wie diesen das Nachdenken
sein. Zorn, Trauer und Schmerz entledigen uns nicht der Verantwortung,
möglichst nüchtern zu analysieren, Gründe auszuloten, nachhaltige, gerechte
Lösungen zu suchen. Fakten sind wichtiger als Gesten, wenn man nicht möchte
– wie geschehen –, dass Heuchelei auf dem Trauma aufsattelt. Auch eine
ritualisierte Trauergestik bedarf blasphemischer Einwürfe. Das wäre ein
Zeichen jener Stärke, jenes Muts, der allenthalben eingefordert wird. Die
Militarisierung, die intensivierte Durchherrschung unserer Gesellschaften
hingegen ist eine feige Reaktion, ebenso wie das Anwachsen von Islamophobie
und Rassismus.
## Blindes Vertrauen
Wie kann man etwa hierzulande nach den ausgiebig dokumentierten
Erkenntnissen des NSU-Untersuchungsausschusses blind darauf vertrauen, dass
die im Geheimen operierenden Sicherheitsbehörden unser aller Menschen- und
Bürgerrechte schützen werden?
Darf man sich das Recht herausnehmen, trotz der Verbrechen von Paris, die
Zeitschrift Charlie Hebdo, die sich von ihren anarchistischen Wurzeln schon
weit entfernt hatte, zu kritisieren? Nicht wegen der antireligiösen
Haltung, sondern wegen der intellektuell dürftigen plakativen Provokation,
die oft gerade das nicht leistete, was Satire in gelungenen Fällen vermag:
die Herrschenden, die Selbstgerechten zu entlarven. Sich über die
Schwächsten in einer Gesellschaft lustig zu machen, nur weil sie einem
vermeintlichen archaischen Glauben anhingen, ist billig und unwürdig.
Wie kann man so tun, als sei Terrorismus der größte Feind der freien
Meinungsäußerung, da sie doch vor allem von ökonomischen Zwängen (Charlie
Hebdo war de facto pleite, die Überlebenskämpfe der freien Printmedien sind
Leserinnen und Lesern dieser Zeitung bestens bekannt) sowie von staatlicher
Repression bedroht ist?
Ein bemerkenswerter Artikel in der Washington Post war betitelt: „Die
größte Gefahr für die freie Meinungsäußerung ist die Regierung, nicht der
Terrorismus.“ Der Autor Jonathan Turley schildert darin eine Reihe von
Fällen der Zensur unter Zuhilfenahme von Antidiffamierungsgesetzen. Die
Verhaftung des Komikers Dieudonné M’Bala M’Bala wenige Tage später wegen
seines Ausspruches „Je suis Charli Coulibaly“ war Beleg für diese
Behauptung. Mörder können Journalisten umbringen, der Staat allein kann ein
Recht zu Grabe tragen.
## Selektive Einfühlung
Müssen wir unsere Empathie nicht hinterfragen, wenn sie als intimes Gefühl
politisch enggeführt und ausgebeutet wird? Irritation, Misstrauen,
letztlich Feindseligkeit entstehen aufgrund einer vermeintlich selektiven
Empathie, die das Prinzip universeller Rechte infrage stellt. Ich werde nie
vergessen, wie ich mit einigen Ulema, islamischen Rechtsgelehrten, zufällig
an jenem Tag in Bombay zusammensaß, als der Angriffskrieg gegen den Irak
begann, live übertragen von CNN.
Ich werde nie vergessen, wie einer der jungen Männer angesichts der
schrecklich abstrakten Bilder, die der Fantasie viel Raum ließen, ausrief:
„Wieso tun sie uns das an?“ Und ein anderer zu weinen begann. Viele Stimmen
haben in den letzten Wochen Zeichen der Anteilnahme und der Solidarität von
muslimischen Organisationen und Respektspersonen gefordert. Das ist
verständlich, ebenso verständlich ist die schwelende Frage im Herzen vieler
Muslime: Wie viel Anteilnahme und Solidarität habt ihr gezeigt, als
grauenvolle Kriegsverbrechen in Falludscha oder in Gaza begangen wurden?
Man mag ein solches Gegenüberstellen von Opfern verwerflich finden, aber
man sollte sich nicht darüber täuschen, dass es die Wahrnehmung in den
ehemals kolonialisierten Gesellschaften (nicht nur in den islamischen)
dominiert, wo genau darauf geachtet wird, wie die moralische Schere immer
wieder auseinandergeht.
Der genozidale Angriff von Boko Haram auf das Dorf Baga, dem wohl
zweitausend schutzlose Menschen zum Opfer fielen (überwiegend Frauen,
Kinder und Alte), wurde medial viel weniger wahrgenommen, von massenhaften
Solidaritätskundgebungen ganz zu schweigen. Der Terror in Nordnigeria, wo
die Bevölkerung zwischen obskurantistischen, blutrünstigen Fanatikern und
einer korrupten, brutalen Armee zerrieben wird, ist für uns unvorstellbar,
also bleibt er ohne Folgen. Angesichts der inszenierten Trauerarbeit im
freien Westen kann ich durchaus verstehen, dass ein afrikanischer Kollege
ausrief: „Je ne suis pas Charlot.“
29 Jan 2015
## AUTOREN
Ilija Trojanow
## TAGS
Freiheit
Terrorismus
Boko Haram
Charlie Hebdo
Große Koalition
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Katzen
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