# taz.de -- Griechenland nach der Wahl: Jenseits des Merkelismus | |
> Gerade in Deutschland gibt es viel Kritik an Alexis Tsipras und seiner | |
> Partei Syriza. Wie aber beurteilen die Griechen ihre neue Regierung? | |
Bild: Vielen Deutschen unverständlich: die Griechen freuen sich über den Tsip… | |
Es ist wieder so weit: Ich komme am Wochenende aus Griechenland zurück und | |
stelle fest, dass die Welt von dort aus ganz anders wahrgenommen wird. | |
Während in Athen die radikale Aufkündigung der Zusammenarbeit mit der | |
demokratisch nicht legitimierten Troika begrüßt und die starke Präsenz von | |
Podemos in Madrid gefeiert wird, dominiert den Diskurs hier in Deutschland | |
noch die aufgewärmte Leier von den infantilen und unfähigen Griechen. | |
Bereichert wird die neue Welle antigriechischer Ressentiments jedoch | |
diesmal durch eine Diffamierung der neuen Syriza-Regierung. Vor allem wegen | |
ihrer Koalition mit der rechten Partei Anel (Unabhängige Griechen) und der | |
Außenpolitik mit Russland wird ihr die moralische Integrität abgesprochen. | |
Als jemand, die diese erste Woche nach dem Regierungsantritt in | |
Griechenland verbracht hat, muss ich konstatieren, dass selbst | |
fortschrittliche Kräfte dort nicht die moralische Empörung der deutschen | |
Medien über die Anel-Koalition teilen. Warum wird sich in Griechenland | |
darüber nicht auch aufgeregt? | |
Trotz des Gefühls, im bestehenden antigriechischen Klima nicht gehört zu | |
werden, möchte ich hier für diejenigen, die dafür bereit sind, ein paar | |
Eindrücke aus Gesprächen in Griechenland vermitteln. Dabei wird der | |
Unterschied zur deutschen öffentlichen Meinung klar, die in ihrer | |
Geschlossenheit und Undifferenziertheit bis ins linksliberale Milieu hinein | |
tief in die Dichotomiefalle „Griechen – Deutsche“ gefallen ist und | |
übersieht, dass es jenseits des Nationalen um neue Allianzen geht. Und um | |
eine möglich werdende soziale Hegemonie in Europa. | |
## Die Koalition mit Anel | |
Von Syriza-Funktionären wie Giorgos Chondros bis zu anarchistischen | |
Legenden aus dem autonomen Zentrum Diktio, wie Nikos Giannopoulos, wird die | |
Koalition mit Anel als schlechteste, aber auch einzig mögliche Option | |
wahrgenommen. Um mit einem gängigen Missverständnis aufzuräumen: Bei Anel | |
handelt es sich nicht um eine Abspaltung von der konservativen Partei ND | |
nach rechts außen. Anel hat sich im Februar 2012 gegründet, als Panos | |
Kammenos und andere Mitglieder der Konservativen nicht für das damals | |
anstehende Rettungspaket samt weiteren Kürzungsauflagen stimmen wollten. | |
„Ihre Haltung zu Kirche, Familie, Patriotismus und ihre | |
Verschwörungstheorien könnten einem nicht ferner liegen“, so der Tenor | |
meiner Gesprächspartner. Doch Anel teilt Syrizas Priorität, die | |
Aufkündigung der Austeritätsverträge, hat eine populäre, konservative Basis | |
und ist mit dem Versprechen angetreten, so schnell wie möglich die | |
drängende humanitäre Krise zu lösen – auch gegen korrupte Eliten. Zudem ist | |
Anel ein sehr kleiner Partner. Die Entscheidung, das Ministerium für | |
Verteidigung an sie abzutreten, wird auch als Versuch verstanden, eine | |
überparteiliche gesellschaftliche Hegemonie zu schaffen. | |
Alexis Tsipras weiß, dass sein Wahlergebnis von rund 36,5 Prozent keine | |
ausreichend breite Basis darstellt, und er hat mit dieser Koalition Kräfte | |
im Boot, durch die sich Konservative repräsentiert fühlen. Und auch wenn | |
eine ähnliche Überlegung zur Einbindung von fünf parteilosen | |
Universitätsprofessoren und -professorinnen geführt hat, spielten sie in | |
der Fragen der Frauenrepräsentation offensichtlich keine Rolle. Was | |
skandalös ist. | |
## Realpolitische Taktik | |
All diese Entscheidungen sind realpolitische Taktik, die nicht nur | |
Feministinnen und Linke offen kritisieren. Doch noch wollen viele | |
progressive Griechinnen und Griechen abwarten, zumal die Koalition mit Anel | |
keine Zugeständnisse in anderen, entscheidenden Fragen erfordert: Die | |
Migrationspolitik ist fest in den Händen der bei außerparlamentarischen | |
Linken bekannten Flüchtlingsanwältin Tassia Christodoulopoulou, die gleich | |
nach Amtsantritt den in Griechenland geborenen Kindern von Migrantinnen die | |
griechische Staatsbürgerschaft gewährt hat. Und Innenminister Nikos Voutsis | |
hat die Entwaffnung der Polizei bei Demonstrationen beschlossen. Angesichts | |
solcher Maßnahmen sind die in Deutschland kursierenden Vergleiche der | |
griechischen Regierung mit Pegida und der NSDAP eine Demonstration | |
unverschämter Unwissenheit. | |
Hinsichtlich Anel wird in Griechenland außerdem argumentiert, dass es in | |
der ehemaligen konservativen Regierungspartei ND viel radikalere Rechte mit | |
offen rechtsextremer und antisemitischer Vergangenheit gab. Was aus | |
deutscher Perspektive nie gegen eine Zusammenarbeit sprach. | |
## Der Russlandschreck | |
In der Russlandfrage demonstriert die griechische Öffentlichkeit Einheit | |
auf dem Boden von Merkels Außenpolitik. Dafür wird zur Not auch die | |
queer-feministische Karte gezückt, um für das gerade Opportune zu | |
argumentieren. „Nichts kann Putins Politik verteidigen“, so der bekannte | |
LGBT-Aktivist von Syriza, Antonis Sigalas, „und die mögliche | |
wirtschaftliche Zusammenarbeit wird unsere Kritik nicht schmälern.“ | |
Unverständnis herrscht in Griechenland aber dafür, dass dem Land kein Recht | |
auf eine eigenständige Außenpolitik gewährt wird. | |
Russland ist ein wichtiger Handelspartner von Griechenland, seit 2013 sogar | |
wichtiger als Deutschland. Die Sanktionen gegen Russland haben für die | |
griechische Wirtschaft, vor allem für kleine Agrarbetriebe, einen hohen | |
Preis. Bereits die Vorgängerregierung versuchte daher, mit den Russen über | |
eine Lockerung der Gegensanktionen zu verhandeln. Das ist für die | |
griechische Öffentlichkeit nichts Neues – ist aber eben nicht Außenpolitik | |
in deutschem Interesse. | |
## Eine deutsche mediale Einheitsfront | |
Subtil, aber bestimmt wird dieses Interesse nun in einer deutschen medialen | |
Einheitsfront gegen die griechische Regierung verteidigt. Nationalismus | |
wurde von dem US-Politikwissenschaftler Benedict Anderson einmal als | |
imaginäre Gemeinschaft definiert. Das Imaginäre dieser Gemeinschaft | |
artikuliert sich im Selbstbild des Saubermanns, der sich wirtschaftlich wie | |
politisch stets im Recht sieht und die eigenen Widersprüche ausblendet, | |
etwa bei der eigenen Außenpolitik oder bei der Verantwortung für das | |
deutschlandgeführte Krisenmanagement Europas der letzten fünf Jahre. | |
Geschlossen hinter Merkel stehen – das heißt für viele in Griechenland, | |
dass Deutschland auf dem nationalistischen Auge blind ist. Jeder Taxifahrer | |
in Athen kann dir erklären, dass die Wut auf Merkel nicht ethnisch, sondern | |
politisch motiviert ist – als Wut über diejenige, die Austerität diktiert. | |
Die deutschen Angriffe nimmt man als abfällig, entwürdigend und rassistisch | |
gegenüber der Gesamtheit der „Griechen“ an sich, ihrer Mentalität und ihr… | |
Habitus wahr. | |
Warum betreibt die restliche internationale Presse keine vergleichbare | |
Hetze? Die antigriechischen Ressentiments sind in ihrem Ausmaß ein | |
besonders deutsches Phänomen. Das sollte zu denken geben. | |
## Neues soziales Europa? | |
In den jüngsten Umfragen wird die Regierungsbilanz der vergangenen Woche | |
vom größten Teil der Griechinnen und Griechen positiv bewertet. Der | |
Privatisierungsstopp, die Wiedereinstellung von Entlassenen, die | |
Heraufsetzung des Mindestlohns wirken wie die nie geglaubte Realisierung | |
von Utopien. Vielleicht ist es zu viel verlangt, nachzuvollziehen, wie es | |
ist, wenn das Leben sich auflöst, für eine Krise, die kein genuin | |
griechisches Problem mehr ist, sondern Ergebnis der europäischen | |
Architektur und der Mechanismen im finanziellen Kapitalismus. | |
Vielleicht ist es aber nicht zu viel verlangt, die Konfrontation von | |
Griechenlands neuem Finanzminister Varoufakis mit den Troika-Technokraten | |
für ein Europa der radikalen Sozialreformen zu respektieren. Ein Europa, | |
das, wie er sagt, mit neuer Hoffnung den Hass stoppen könnte, von dem | |
überall in Europa nur rechtsextreme Kräfte profitierten. | |
Die progressiven Kräfte in Deutschland müssen entscheiden, ob sie in der | |
Griechenlandfrage weiterhin zum Lager des Merkelismus gehören wollen oder | |
zu diesem Europa, das gerade im Süden mit hohem Risiko versucht, sich einen | |
Spielraum zu schaffen. Statt antigriechischer Rhetorik gilt es in einer | |
transnationalen Logik, den letzte Woche begonnenen Riss im neoliberalen | |
Block der EU – ähnlich wie in Griechenland – zu nutzen. Nicht unkritisch, | |
aber doch produktiv. | |
2 Feb 2015 | |
## AUTOREN | |
Margarita Tsomou | |
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