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# taz.de -- 100 Tage Rot-Rot-Grün in Thüringen: Und immer wieder geht die Son…
> In Erfurt regieren Linkspartei, SPD und Grüne 100 Tage. Die erste
> Koalition dieser Art findet mehr Zuspruch in der Bevölkerung als zur
> Wahl. Eine Bilanz.
Bild: Bodo Ramelow auf der 25. Thüringen Ausstellung im Februar in Erfurt
ERFURT taz | Von Volkspolizisten kontrollierte Schlagbäume sind weder auf
der A4 noch auf der A71 zu entdecken. Geht es um innerdeutsche
Migrationsströme, gilt Thüringen nach wie vor als sicheres Herkunftsland.
Von einer Verstaatlichungswelle, von neuen Volkseigenen Betrieben ist
nichts bekannt, beim Bäcker bezahlt man weiterhin mit dem Euro und nicht
mit DDR-Alu-Chips.
Es gibt sogar noch Bananen, wie in diesen Tagen Politiker und Journalisten
häufig witzeln. Denn 100 Tage nach der Wahl von Bodo Ramelow zum ersten
Ministerpräsidenten der Linkspartei wird besonders genau auf den Start der
Koalition von Linken, SPD und Grünen geschaut.
Vor Weltuntergangsszenarien im kleinen 2,2-Millionen-Einwohner-Land
zwischen Rhön und Eichsfeld aber hatten noch im vorigen Oktober
CDU-Altministerpräsident Bernhard Vogel, der frühere stellvertretende
Ministerpräsident Gerd Schuchardt von der SPD oder der Schriftsteller
Reiner Kunze gewarnt. Etwa 4.000 Demonstranten sorgten sich auf dem
Erfurter Domplatz um die Zukunft des Landes.
„Die Wähler haben im September 2014 nicht den Wechsel gewählt“, verblüfft
hingegen Staatskanzleichef Benjamin-Immanuel Hoff. „Sie wollen nur gut
regiert werden!“ Der 39-jährige Professor für Sozialwissenschaften aus
Berlin und Linken-Stratege mag nicht einmal von einem Thüringer Modell
sprechen. „Wir könnten auch eine Fußnote der Geschichte bleiben …“
Was ihn nicht daran hindert, im Restaurant Rossini gegenüber der früheren
Mainzer Statthalterei in Erfurt für eine mindestens zehnjährige Amtszeit
Ramelows zu plädieren und Strategien einer „doppelt sozialdemokratischen
Hegemonie“ von SPD und Linken zu entwerfen.
## Ramelow empfängt Sternsinger und Elferräte
Ministerpräsident Ramelow speist am Nebentisch. Während draußen auf dem
Vorplatz Bürger sehr gelassen auf die Frage nach spürbaren Veränderungen
reagieren, ist an seiner Person vielleicht der deutlichste Wandel zu
beobachten. Die Kämpfernatur des Gewerkschafters trat schon im Wahlkampf
zugunsten des designierten Landesvaters zurück. Seiner Zustimmung zu Sätzen
wie „Die DDR war eine Diktatur, kein Rechtsstaat“ in der Präambel des
Koalitionsvertrages folgten bei weitem nicht alle Parteimitglieder.
Jetzt redet er mit Wirtschaftsvertretern zu Hause und CSU-Politikern im
Bundesrat, empfängt Sternsinger und Elferräte. Und in seiner
niedersächsischen Geburtsstadt Osterholz-Scharmbeck haben unbekannte Fans
kurzerhand einen Platz nach ihm benannt.
Der Keil des russischen Kunstrebellen El Lissitzky, der an Stelle des
i-Punktes auch im Logo der Linken zu finden ist, ist vom Revers seines
Anzugs verschwunden – obschon der Anstecker eine Sonderanfertigung für ihn
war. Dort leuchtet jetzt das Thüringen-Wappen mit dem blau-roten Löwen.
Versöhnen statt spalten?
Langsames, bedeutsames Nicken. Als die Rede auf die hysterische sächsische
Justiz kommt, die ihn wegen einer angeblichen Blockade eines Nazi-Aufzugs
im Februar 2010 in Dresden belangen will, kommt die schlagfertige Rampensau
von einst wieder durch. „Wenn ich schon einsitzen muss, dann standesgemäß
auf der Festung Königstein“, bittet er sich aus.
## Im Herzen bleibt der Bodo ein Linker
Die öffentliche Wahrnehmung Ramelows als Staatsmann mag dazu beigetragen
haben, dass die Linke laut Februar-Umfrage [1][der Thüringer Landeszeitung]
gegenüber dem Landtagswahlergebnis sogar noch einen knappen Punkt auf 29
Prozent zugelegt hat. Trotz leichter SPD-Verluste bleibe die knappe
Mehrheit von Rot-Rot-Grün stabil. Diese Mehrheit von 1 Stimme ist in den
ersten beiden Arbeitssitzungen des Landtages allerdings noch nicht
strapaziert worden.
Für die Opposition ein Grund mehr, ein paar Keile in die Koalition treiben
zu wollen. „Wie lange hält die Linke Bodo Ramelow aus?“, fragt
CDU-Fraktions- und Landesvorsitzender Mike Mohring. Damit spekuliert er auf
den alten Zwist zwischen Realos und Fundis. „Die Partei ist für das linke
Profil der Landesregierung zuständig, Ramelow ist für alle da“, entschärft
Susanne Hennig-Wellsow, Landes- und Fraktionschefin der Linken. Im Herzen
bleibe der Bodo aber ein Linker, fügt sie ihre Überzeugung hinzu.
Aber selbst beim scharfzüngigen Mohring wirkt die 100-Tage-Kritik der
Linksregierung wie eine Pflichtübung. Nur die Hälfte ihrer Sofortvorhaben
habe sie umgesetzt. Dinge, die der CDU wenig passen, wie der
Winterabschiebestopp für Flüchtlinge, die Gesetzentwürfe zur Abschaffung
des Landeserziehungsgeldes, zum Wahlrecht mit 16 Jahren und zur
Bildungsfreistellung für Arbeitnehmer. Das frei werdende Geld aus der
„Herdprämie“ soll ab 2017 einem beitragsfreien Kitajahr zugutekommen. Der
erstmals in dieser Woche tagende Koalitionsausschuss hat sich auf eine neue
Festbetragsfinanzierung für Freie Schulen verständigt. Mit deren jährlicher
Steigerungsrate von 0,25 Prozent sind die Träger allerdings unzufrieden.
Hauptbaustelle ist derzeit das „Kommunalfinanzierungsübergangsgesetz“, das
noch vor den ausstehenden Haushalt gezogene Sofortprogramm für die
Kommunen. Die Kommunalfinanzen sind bei auffallend kämpferischen Gemeinden
ein Dauerbrenner in Thüringen. Erst im kommenden Jahr soll eine gerechtere
Neustrukturierung des Kommunalen Finanzausgleichs erfolgen, die
Hilfsprogramme überflüssig macht. Nach Gesprächen erwartete der Städte- und
Gemeindebund frische 135 Millionen Euro für 2015. Aber Innenminister Holger
Poppenhäger und sein SPD-Landeschef und Erfurter Oberbürgermeister Andreas
Bausewein fielen im Kabinett damit durch.
Nun sollen effektiv 94 Millionen fließen. „Immer noch das größte
Nachschusspaket seit 25 Jahren“, findet Bausewein. Geschäftsführer Ralf
Rusch beim Gemeindebund ist damit nicht zufrieden, aber auch nicht mit der
derzeitigen Kommunikation nach intensivem Austausch in der Planungsphase.
Und er hält es für einen Rechtsbruch, dass die Koalition auch solchen
Kommunen Investitionsmittel verspricht, die nicht einmal einen
ausgeglichenen Verwaltungshaushalt vorweisen können.
## Grüne sehen sich nicht in der Schlichterrolle
RRG kommt in der Realität und in der Normalität an. So, wie die grüne
Umwelt- und Energieministerin Anja Siegesmund den dritten Bauabschnitt der
„Thüringer Strombrücke“ Richtung Bayern nicht mehr verhindern kann. Und
auch in Thüringen murren Landräte gegen die Lasten der
Flüchtlingsunterbringung, obschon das Land nach Angaben von
Grünen-Fraktionschef Dirk Adams dafür extra 42 Millionen Euro bereitstellt.
Die CDU-Opposition erwartet ihrerseits Irreales, wenn sie jetzt schon auf
ein Leitbild für das Großprojekt einer Funktional- und Gebietsreform
drängt. Die knappe Mehrheit werde die Koalition aber nicht von diesem
Vorhaben abbringen, bekräftigt Linken-Chefin Hennig-Wellsow. Der
Landeshaushalt, den vor allem Zuwendungsempfänger dringend erwarten, wird
nicht vor April das Kabinett passieren. Schuldenfrei soll er sein und kaum
wachsen.
Das ginge so langsam, weil die Ministerien mit ihrer Neustrukturierung und
Umzügen beschäftigt sind, kritisiert nicht nur die Opposition. Die ist
sowohl eine Folge vernünftiger Modernisierungsabsichten als auch des
Interessenausgleichs bei den Koalitionsverhandlungen, bestätigen der Grüne
Adams und Staatskanzleichef Hoff. Adams verteidigt ein
„Migrationsministerium, wo es auch noch Justiz gibt“, Hoff hält
Kombinationen wie Arbeit und Soziales, Wirtschaft und Wissenschaft oder
Umwelt und Energie für sehr zukunftsfähig.
„Wer hätte gedacht, dass die ersten 100 Tage so reibungslos laufen“, klopft
sich Andreas Bausewein trotz des fortbestehenden Dilemmas für seine SPD auf
die Schulter. Susanne Hennig-Wellsow spricht von „umtriebiger
Gelassenheit“. Das konstruktive Klima der Koalitionsverhandlungen, das dem
anderen auch seine Erfolge gönnt, hält offenbar an. Die Grünen sehen sich
jedenfalls nicht in einer Schlichter- oder Vermittlerrolle, sagt Dirk
Adams. Und im Bundesrat hocke Bodo Ramelow keineswegs nur am Katzentisch
der SPD-geführten Länder. „Keiner ist so blöd, mit uns nicht zu reden“,
versichert Benjamin Hoff.
Diese Koalition ist zum Erfolg verurteilt, erklären in beachtlicher
Übereinstimmung SPD-Landeschef Bausewein und sein CDU-Kollege Mohring.
Letzterer zieht daraus den Schluss, dass sich die Union auf fünf Jahre
Opposition einstellen solle. „Ich rate meiner Partei, diese Rolle beherzt
anzunehmen“, empfiehlt der Oppositionsführer.
13 Mar 2015
## LINKS
[1] http://www.thueringer-allgemeine.de/web/zgt/politik/detail/-/specific/Wahlu…
## AUTOREN
Michael Bartsch
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