# taz.de -- Debatte Zukunft der SPD: Volkspartei ohne Volk | |
> Angeblich hält SPD-Chef Sigmar Gabriel den Kampf ums Kanzleramt für | |
> aussichtslos. Ist das verrückt oder einfach nur realistisch? | |
Bild: Traut der SPD nur noch 27 Prozent zu und ist trotzdem gut drauf: Sigmar G… | |
Mensch, SPD. Gibst du den Kampf ums Kanzleramt verloren, bevor er begonnen | |
hat? Sigmar Gabriel traut der SPD nur noch ein Potenzial von 27 Prozent zu, | |
will der Spiegel erfahren haben. Daher könne es sehr lange dauern, bis die | |
SPD wieder einen Kanzler stelle. Natürlich bestreiten Spitzengenossen diese | |
Sätze, weil sie so schrecklich mutlos klingen. Wir beteiligen uns gern an | |
der Debatte, liefern ein bisschen Politikberatung und sechs Thesen zur | |
Heilung der SPD. | |
■ Die SPD muss die Schrumpfung endlich akzeptieren, um sie zu organisieren. | |
In all der Aufregung geht unter, dass es sich bei dem Satz – ob gesagt oder | |
nicht – um eine realistische Einschätzung handelt. Viel spricht dafür, dass | |
Angela Merkel 2017 wieder antritt. Und ebenso viel dafür, dass die SPD dann | |
chancenlos bleibt. | |
Die SPD ist eine schrumpfende Großorganisation. Ihr laufen seit Jahren die | |
Mitglieder weg, ihre Wählermilieus sind zersplittert oder ganz | |
verschwunden. Diese Schrumpfung muss die SPD organisieren. Stattdessen | |
findet man bei vielen Spitzengenossen eine bizarre Mischung aus | |
Überheblichkeit und Selbstzweifeln. | |
■ Ja, die Mitte ist wichtig. Wahlen werden in der Mitte gewonnen. Diese | |
Binse darf in keinem konservativen Kommentar fehlen. Ergo soll die SPD noch | |
weiter nach rechts rücken, noch wirtschaftsfreundlicher werden und | |
Gutverdiener schonen. | |
Diese Analyse greift zu kurz. Gerhard Schröder schaffte es 1998 nur ins | |
Kanzleramt, weil ihn auch die Unterschicht wählte. Heute aber wählen die | |
Marginalisierten nicht mehr. Wenn die SPD nur auf die Mitte setzt, wird sie | |
in der Konkurrenz zur CDU nie hegemoniefähig. Sie verkommt zur | |
Scheinalternative im Wartestand. Warum sollten die Bürger nicht gleich das | |
Original wählen? | |
Ein Angebot für das aufgeklärte Bürgertum ist elementar, auch und gerade | |
für die SPD. Eben weil nur noch die Mittel- und Oberschichten wählen, | |
bestimmen sie die Agenda. Die Menschen interessieren sich für gute Schulen, | |
für ihren Arbeitsplatz, die Pflege und die Vereinbarkeit von Familie und | |
Beruf. Hier hat die SPD Nachholbedarf, Manuela Schwesig wird wichtiger | |
werden, als viele Genossen heute denken. | |
Die SPD muss den Bogen zwischen dem progressiv denkenden Bürgertum und dem | |
Prekariat spannen, und dafür kann sie die Mittelschicht sogar bei ihrem | |
Egoismus packen. Denn das schnelle Auseinanderdriften der Milieus schadet | |
ihr. Aber auch die Abgehängten sind wichtig. Die vielen frustrierten | |
Nichtwähler im Mitte-links-Spektrum sind für die Partei die einzige Chance, | |
die CDU auf lange Sicht ernsthaft zu attackieren. Die SPD muss also | |
Volkspartei bleiben, auch wenn ihr im Bund das Volk abhandenzukommen | |
scheint. | |
■ Der Mindestlohn heilt den Schaden durch die Agenda 2010 nicht. Am | |
liebsten würde die SPD über dieses Kapitel ihrer Geschichte schweigen, aber | |
es beeinflusst ihr Schicksal bis heute. | |
So richtig manches an der Agenda 2010 war, so zerstörerisch wirkte sie für | |
die Partei. Die SPD konterkarierte ihre zentralen Werte, den Kampf für | |
Arbeitnehmerrechte und den Schutz des Sozialstaats. Sie förderte | |
Niedriglöhne, senkte Steuern für Reiche und schuf einen misstrauischen | |
Apparat, der Arbeitslosen mit Zwang und Kontrolle begegnet. | |
Vertrauensbrüche sind verheerend in einer Zeit, in der Vertrauen zur | |
wichtigsten Ressource der Politik geworden ist. Der Mindestlohn repariert | |
Auswüchse, aber er wird den identitären Schaden durch die Agenda-Politik | |
nicht heilen. Indem sie die Linkspartei stärkte und die Unterschicht | |
enttäuschte, hat sich die SPD ihr 24-Prozent-Verlies selbst gebaut. | |
■ Die Abgrenzung von der CDU ist für die SPD überlebenswichtig. Sigmar | |
Gabriel schleift gerade Kanten ab, die die SPD von der Union unterscheiden. | |
Vorratsdatenspeicherung, TTIP oder die Steuerpolitik, überall gleicht er | |
die Parteilinie an Merkel an, teils aus Überzeugung, teils aus Nervosität. | |
Diese Weichzeichnung ist gefährlich. Wenn die SPD als Alternative zu Merkel | |
erkennbar sein will, braucht sie 2017 ein hart konturiertes Profil. Sie hat | |
2009 die Erfahrung gemacht, dass sich Merkel SPD-Erfolge auf ihr Konto | |
bucht. Warum nicht den Streit über die Vorratsdatenspeicherung eskalieren? | |
Liberal denkende Bürgermilieus hätte die SPD hinter sich, und für den Rest | |
ihrer Wählerschaft ist das Thema nicht identitär. Wenn Gabriel der Union | |
den Vortritt ließe, könnte er später zuschauen, wie Gerichte den | |
Unions-Entwurf zerpflücken. | |
■ Die SPD darf Reformen nicht Reformen nennen. Eine Spätfolge der Agenda | |
2010 wird in allen Parteien links der Mitte zu wenig reflektiert. Die SPD | |
hat unter Gerhard Schröder einen Begriff diskreditiert: den der Reform. | |
Reformen waren vor der rot-grünen Regierung bei vielen Menschen positiv | |
besetzt, sie verhießen Aufbruch und Verbesserung. Seit der Agenda 2010 sind | |
Reformen etwas, was man auch als Angehöriger der Mittelschicht besser | |
fürchten sollte, weil man schneller zur Ich-AG wird, als man denkt. Wenn | |
Menschen sich vor Veränderung ängstigen, ist das für eine linke Volkspartei | |
tödlich. Die SPD täte gut daran, eine Sprache zu entwickeln, die den | |
Deutschen die Furcht vor Veränderung nimmt. | |
■ Auch für die SPD sind Menschen wichtiger als die Inhalte. Welch eine | |
bittere Erkenntnis für eine papierverliebte Partei. In postdemokratischen | |
Verhältnissen wird das Personal immer wichtiger. Die CDU hat die | |
Entpolitisierung des Politischen im Bundestagswahlkampf auf die Spitze | |
getrieben. Merkel streute private Details wie ihre Leidenschaft für | |
Streuselkuchen und verabschiedete sich im TV-Duell mit dem kongenialen | |
Satz: „Sie kennen mich.“ | |
Die SPD sah der Inszenierung hilflos zu. Sie sollte deshalb die Bedeutung | |
des Menschlichen endlich anerkennen. In den Ländern ist die SPD | |
erfolgreich, wo sie mit einer starken Persönlichkeit auf eine schwache CDU | |
trifft, siehe Olaf Scholz in Hamburg. Auch im Bund wird sich die SPD fragen | |
müssen, wer die habituellen Qualitäten hat, die die Deutschen schätzen. | |
Sigmar Gabriel, der zu schlecht gelaunter Ungeduld neigt, hat als | |
Parteichef große Erfolge vorzuweisen. Aber ist er der Richtige, um Merkel | |
2017 zu kontern? Vielleicht geht es in Wirklichkeit darum, mit Anstand zu | |
verlieren, um einen Kandidaten oder eine Kandidatin für die Nach-Merkel-Ära | |
aufzubauen. | |
22 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Schulte | |
## TAGS | |
Der Spiegel | |
Volkspartei | |
SPD | |
Sigmar Gabriel | |
Familie | |
Wahlkampf | |
Germanwings | |
Schwerpunkt TTIP | |
Gehalt | |
SPD | |
Datenschutz | |
Schwerpunkt TTIP | |
Schwerpunkt TTIP | |
Thomas Oppermann | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Behörden wollen sozialer werden: Relaxter im Ministerium | |
Der Kanzleramtschef radelt ins Büro, Ökostrom gibt es bald auch im | |
Verteidigungsministerium. Die Bundesbehörden wollen sozialer und grüner | |
werden. | |
Bürgerdialog der Bundesregierung: Wir müssen reden | |
Kanzlerin und Vizekanzler wollen wissen, was die Wähler wichtig finden. | |
Doch beim Dialog auf Augenhöhe geht es vor allem um schöne Bilder. | |
Ex-Justizministerin über Flugkatastrophe: „1.000 Prozent Sicherheit gibt's n… | |
Nach dem Absturz der Germanwings-Maschine kämpft Sabine | |
Leutheusser-Schnarrenberger weiter gegen die Lockerung des Datenschutzes | |
an. | |
Sigmar Gabriel zu TTIP: Die SPD hat das letzte Wort | |
Keine Liberalisierung, keine Privatisierung, kein Absenken von Umwelt- und | |
Sozialstandards. Sigmar Gabriel zieht rote Linien für TTIP-Verhandlungen. | |
Mindestlohn in Deutschland: Nur 4,4 Prozent sind betroffen | |
Laut einer Studie profitieren vom Mindestlohn deutlich weniger Menschen als | |
gedacht. Bundesweit ist das neue Gesetz nur für jeden achten Betrieb | |
relevant. | |
SPD und Vorratsdatenspeicherung: Erklären, glätten, verkaufen | |
SPD-Chef Gabriel wirbt für das umstrittene Projekt. Damit brüskiert er die | |
parteiinternen Kritiker. Allen voran seine eigene Generalsekretärin. | |
Kommentar Vorratsdatenspeicherung: SPD mit falscher Strategie | |
Das Thema scheint, Umfragen zufolge, für die Wähler nicht so wichtig. Was | |
tun die Sozialdemokraten? Sie bieten es der Union als Kanonenfutter an. | |
SPD-Justiziarin zu Freihandelsabkommen: „Bestehende Gerichtshöfe nutzen“ | |
Katarina Barley ist Justiziarin der SPD-Fraktion. Sie sieht eine | |
Alternative zu den umstrittenen Schiedsgerichten in den Freihandelsabkommen | |
TTIP und Ceta. | |
Deutsche Charme-Offensive für TTIP: „Nebelkerzen“ aus Berlin | |
TTIP-Gegner machen vor dem Besuch von Merkel und Gabriel in Brüssel mobil. | |
Der Chef des Handelsausschusses im EU-Parlament wird harsch kritisiert. | |
Zukunft der SPD: Tücken des Smartphones | |
Was zündet gegen 25 Prozent? Die SPD-Fraktion sucht Themen für die zweite | |
Hälfte der Regierungszeit. Motto: möglichst alltagsnah, bitte. |