# taz.de -- Journalistische Ethik und Katastrophen: Es ist furchtbar | |
> Der Umgang mit dem Germanwings-Crash ist eine journalistische | |
> Herausforderung. An ihr zeigt sich, wie weit der Boulevard zu gehen | |
> bereit ist. | |
Bild: Wen die Fotografen dort im Visier haben? Angehörige der Opfer des German… | |
Mein Bruder war noch nicht wieder zu Hause, da rief schon RTL bei uns an: | |
„Hallo, wir würden gern Herrn Schmidt sprechen. Er war doch in der Schule | |
eingeschlossen.“ Ich war fassungslos. Ja, mein Bruder war im | |
Gutenberg-Gymnasium in Erfurt eingeschlossen. Ja, er hatte dort Furchtbares | |
erlebt. Aber warum, zur Hölle, wusste RTL das schon? Und wieviel | |
Schamlosigkeit muss dieser Reporter besessen haben, jemanden sprechen zu | |
wollen, der gerade dabei war, als seine Lehrer erschossen wurde, der über | |
Leichen gestiegen ist und Angst um sein Leben hatte. Einen 14-Jährigen. | |
Eigentlich war es absehbar, in dem Moment, als die Eilmeldung kam: Eine | |
solche Katastrophe, in Frankreich, mit so vielen deutsche Opfern, das ist | |
eine mediale Herausforderung, wie es sie lange nicht mehr gab. Eine, die | |
nicht jeder Journalist, nicht jede Journalistin gleich bewältigt. Eine, bei | |
der die journalistische Ethik von Kollegen manchmal leichtfertig unter | |
Voyeurismus und Sensationsheischerei begraben wird. | |
Nach nur wenigen Stunden hatten alle großen Nachrichtenseiten einen | |
Live-Blog eingerichtet und fluteten ihn mit jedem Schnipsel, mit jeder | |
Nicht-Nachricht, die man kriegen konnte: Zehn Polizisten bewachen den | |
schwer zugänglichen Unglücksort. Am Flughafen Düsseldorf sind die Fluggäste | |
verunsichert. Das Wetter in den Alpen schlägt schnell um. Joachim Löw ist | |
betroffen. Die Bergungsarbeiten werden schwer. Haltern im Ausnahmezustand. | |
Wir wollen nicht spekulieren, aber … | |
Ich wollte Journalistin werden, seit ich ein Kind bin. Aber was im April | |
2002 in den Tagen und Wochen nach dem Erfurter Amoklauf passierte, hat mich | |
an diesem Beruf stark zweifeln lassen. Am Abend, da waren die Leichen noch | |
nicht aus der Schule getragen, hatten sich schon Journalisten, Kameraleute | |
und Ü-Wagen aus der ganzen Welt vor der Schule aufgebaut. Ihre Scheinwerfer | |
tauchten das Schulgebäude in grelles Licht – wie in einer Leichenhalle. Als | |
hätten wir das auch noch gebraucht. | |
Wenn es keine Nachrichten gibt, müssen welche produziert werden. Für | |
Journalisten ist es in der Tat nicht immer einfach abzuschätzen, wo die | |
Grenze zwischen Berichtenswertem, berechtigtem Interesse und dem „zu viel“ | |
verläuft. Wird so viel berichtet, weil die Zuschauer und Leser so viel | |
wissen wollen? Oder lesen und schauen sie so viel, weil so viel berichtet | |
wird? Für das „wie viel“ gibt es keine klare Antwort. Für das „wie“ | |
hingegen schon. | |
Und bei dieser Frage zeigt sich in den letzten Tagen einmal mehr, wie weit | |
der Boulevard bereit ist zu gehen. Was die Bild-Zeitung seit Dienstag | |
zeigt, hat mit Journalismus nicht mehr viel zu tun. Das ist auch kein guter | |
Boulevard, das ist einfach ekelhaft. Da wurden schon am Tag nach dem | |
Absturz Fotos der Todesopfer gezeigt – mit vollem Namen und ohne | |
Unkenntlichmachung, Facebook-Einträge der Schüler aus Spanien, „XYs letzte | |
Fotos aus Barcelona“, weinende Schüler und Flugbegleiter. | |
„Eltern versuchten, ihre toten Kinder auf dem Handy zu erreichen“, schrieb | |
Bild unter ein Klassenfoto. „Angehörige brechen weinend zusammen.“ Ja, was | |
denn sonst? Wer schon einmal einen Menschen plötzlich verloren hat, der | |
kennt den Impuls: Handy raus, anrufen, vielleicht ist das alles nur ein | |
Missverständnis? Wo also ist die Nachricht? Ist der Crash nicht schon | |
schlimm genug? Muss man wirklich so tief graben, spekulieren, Schmerz | |
befeuern? | |
Um an die große Eingangstreppe des Gutenberg-Gymnasiums zu treten, Blumen | |
niederzulegen, Freunde und Bekannte zu treffen, zu schweigen und zu | |
gedenken, musste man durch die Pressemeute durch. „Entschuldigung, darf ich | |
Sie kurz was fragen?“, „Sind Sie Schülerin?“, „Kannten Sie jemanden?�… | |
haben Sie erlebt?“ Es gibt Interviews mit Schülern von damals, die zum Teil | |
in Tränen aufgelöst, zum Teil ganz ruhig, erzählen, was sie erlebt haben. | |
Ein Schuss, ein Mann in schwarz, Frau X tot, Herr Y tot. Manchen wurde Geld | |
dafür gegeben. Manche konnten sich einige Tage später nicht mehr daran | |
erinnern, das Interview gegeben zu haben. Sie standen unter Schock. | |
Der Deutsche Presserat [1][appelliert an die Medien], sich an den | |
Pressekodex zu halten. Die Opfer und ihrer Angehörigen hätten einen | |
„Anspruch auf den besonderen Schutz ihrer Identität“. Es ist furchtbar, | |
dass der Presserat Journalisten daran erinnern muss, jetzt und nach jeder | |
großen Katastrophe wieder. Zum journalistischen Handwerk gehört neben | |
Recherche, einem schönen Texteinstieg und einer gewieften Interviewtechnik | |
auch Medienethik. Aber selbst wenn einige Journalisten nicht viel von | |
Handwerk halten, sollten sie wenigstens eine Minuten darüber nachdenken, | |
wie es ihnen gehen würde, wenn ihr Kind, ihre Mutter, ein Freund oder | |
Kollege in diesem Flugzeug gesessen hätte – oder dieses gar gesteuert | |
hätte. | |
Denn die Art und Weise wie über den Copiloten berichtet wird, ist der | |
bisherige Gipfel der Geschmacklosigkeit in dieser Katastrophe. Sein | |
vollständiger Name war schnell draußen und zirkulierte sogar in den | |
sogenannten seriösen Medien. Sein Wohnhaus und das seiner Eltern wird | |
belagert, Journalisten filmen, wie Ermittler das Haus betreten. Nachbarn | |
werden befragt, Freunde ausfindig gemacht. Die Bild zeigt sein Foto am | |
Freitag vollständig über die ganze erste Seite gezogen. Schlagzeile: „Der | |
Amok-Pilot“. | |
Der B.Z.-Chefredakteur Peter Huth [2][erklärte dem Branchendienst Meedia], | |
eine solche Katastrophe könne man nur über Emotionalität vermitteln. Aber | |
wessen Emotionalität ist uns Journalisten denn wichtiger: Die der Leser | |
oder die der Hinterbliebenen? | |
Wenn ich jetzt die Bilder von der Schule in Haltern sehe, denke ich wieder | |
an die Tage nach dem Amoklauf von Erfurt. Auch in Erfurt standen die | |
Kameras dicht an dicht. Gesichter in Großaufnahme. Tränen, Umarmungen, | |
Zusammenbrüche. | |
Aber ich habe damals auch andere Journalisten erlebt: Welche, die | |
beobachtet haben, und ihr Mikro irgendwann weggepackt haben – weil sie | |
sprachlos waren. Welche, die lange zugehört haben und Aussagen dann doch | |
nicht verwendet haben. Ich wünsche den Schülern in Haltern, den Angehörigen | |
der Opfer und des Copiloten mehr solche Journalisten. | |
27 Mar 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.presserat.de/presserat/ | |
[2] http://meedia.de/2015/03/25/bz-chefredakteur-zum-germanwings-absturz-nur-em… | |
## AUTOREN | |
Anne Fromm | |
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