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# taz.de -- Plädoyer für politischen Konsum: Boykott für den Klimaschutz
> Die abstrakte Kapitalismuskritik muss zur politischen Kampagne werden.
> Eine Weltbürgerbewegung sollte den Konzernen auf die Pelle rücken.
Bild: Ohne Wasser: Dürre in Kalifornien.
Kapitalismus versus Klima: Das ist eine pseudoheroische Rahmung der
aktuellen Problemlage – auch wenn die Ursächlichkeit von Klimawandel in der
kapitalistischen (und nebenbei sozialistischen) Industrialisierung seit dem
19. Jahrhundert unbestreitbar ist. Ebenso klar ist das Unvermögen dieser
Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in ihrem aktuellen Zustand
Klimaschutz zu organisieren.
Der Markt kann die Kosten von Umweltschäden nicht korrekt abbilden; viele
Ökonomen sehen im menschengemachten Klimawandel den Ausdruck kapitalen
Marktversagens. Und marktwirtschaftliche Instrumente, die – wie etwa der
Handel mit Emissionszertifikaten für Treibhausgase – den Klimaschutz
beflügeln sollen, funktionieren bisher nur auf dem Papier.
Insofern ist Kapitalismuskritik berechtigt und Skepsis gegenüber einem
Wachstumsprojekt angesagt, das diverse Grün-Rote zur Rettung von Umwelt und
Klima aufbieten. Die gar nicht wenigen Unternehmen, die diesen Weg mit
alternativen Investitionsmustern beschreiten wollen, werden das Ziel, die
Erderwärmung auf zwei Grad zu beschränken, nicht schaffen; so ist das
Zwei-Grad-Ziel nicht zu erreichen. Auch werden erfreulich veränderte
Konsummuster dafür nicht ausreichen; ebenso wird die staatliche
Wirtschaftspolitik, die auf alternative Energien setzt, die
Klimaschutzziele deutlich verfehlen.
Im weltweiten Maßstab ist grüner Kapitalismus ein Nischenprojekt; seine
Signalwirkung blieb bisher schwach. Die seit der deutschen „Energiewende“
2013 noch gestiegene Bedeutung der Kohleverstromung und der unselige Pakt
europäischer Volkswirtschaften mit Gazprom und anderen fossilen Unternehmen
zeigen das an. Doch fast alle westlichen Regierungen schmeißen sich den
DAX-Konzernen an den Hals, allen voran den Exxons und Googles, die auch
klimapolitisch nicht unschuldig sind.
Abstrakte Kapitalismuskritik spart allerdings noch kein Milligramm
Treibhausgas ein. Eine Weltbürgerbewegung zur Unterzeichnung eines
bindenden Klimavertrags im Herbst dieses Jahres muss jetzt säumige
Regierungen unter Druck setzen; die Perspektive sollten Null-Emissionen im
Jahr 2070 sein.
## Konsumentscheidungen als Distinktion
Die Kapitalismuskritik konkretisiert sich dabei in Boykott- und
Buykottaktionen, die Konsumentscheidungen nicht ausschließlich anhand von
Preis, Qualität oder Distinktionsgewinn treffen, sondern
Produktionsbedingungen und sonstige wirtschaftliche Tätigkeiten von
Herstellern in Betracht ziehen. Boykotts trafen Shell-Tankstellen nach der
Abwrackung der Brent-Spar-Bohrinsel im Jahr 1995 und Waren aus Südafrika
zur Zeit des Apartheidregimes – warum ist die Praxis des Boykotts im Blick
auf den Klimaschutz nicht stärker verbreitet?
Buykott ist darüber hinaus eine „positive“ Variante des politischen
Konsums, der spezifische Anbieter oder ein spezielles Produkt bevorzugt, um
bestimmte Produktionspraktiken zu fördern. Auch dieses Mittel wird zu wenig
genutzt, um Konzerne und Handelsketten klimapolitisch unter Druck zu
setzen.
Ein weiteres Mittel praktischer Kritik sind Desinvestitionen, also die
politisch-ethnisch motivierte Veräußerung von Unternehmensbeteiligungen wie
Aktien, privaten Beteiligungen oder Unternehmensanleihen. Was in fossile
Energien investiert wurde, kann abgezogen und in nachhaltige Anlagen
reinvestiert werden. So soll die Kapitalanlage und Kreditvergabe an
Unternehmen ausgeschlossen werden, deren Geschäftsfeld die Ausbeutung,
Verarbeitung und der Vertrieb fossiler Energieträger ist. Grund: Um das
Zwei-Grad-Ziel zu erreichen, müssen rund 80 Prozent der nachgewiesenen
fossilen Energieträger im Boden bleiben – sie werden, so das Kalkül, für
die Firmen wertlos, ihre Aktien verlieren an Wert.
## Kapital als Hydra
Privatanleger haben früher schon unethische Aktien aus der Tabak- und
Rüstungsindustrie abgezogen. Doch wer besitzt schon Aktien? Mehr, als viele
denken! Als potenzielle Kapitalrückzieher kommen nicht zuletzt
institutionelle Anleger infrage – wie Kirchen und Religionsgemeinschaften,
Städte und Gemeinden, Kredit- und Entwicklungsbanken, Stiftungen und
Universitäten.
Die Desinvestitionskampagne startete in Harvard und anderen
US-Universitäten, in Oxford bildete sich die Initiative Academics for
Fossil Fuel Divestment. Ihr Credo: Schaut euch die Portfolios der
Organisationen an, mit denen ihr zusammenarbeitet! Potenziert würde die
Desinvestitionskampagne, wenn die Staaten Subventionen und
Steuererleichterungen für fossile Brennstoffunternehmen radikal abbauen
würden. Ihre Höhe wird unter Einschluss von externen Effekten weltweit auf
unglaubliche 1.900 Milliarden US-Dollar geschätzt.
Wer es mit dem Kapital aufnehmen will, hat es mit einer Hydra zu tun, deren
herabfallende Köpfe durch neue ersetzt werden. Kapitalismuskritikern ist
historisch kaum mehr gelungen als die Selbstaufklärung der Marktwirtschaft,
doch daraus haben sich menschenfreundlichere Kapitalismen entwickelt. Dem
steht aktuell insbesondere die Investmentbranche im Wege. Es wird Zeit, ihr
auf dem eigenem Terrain auf die Pelle zu rücken.
24 Apr 2015
## AUTOREN
Claus Leggewie
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