Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Tierschutz und Massentierhaltung: Schweine als Inneneinrichter
> Der Verbraucher will billiges Fleisch. Er bekommt ein Tierschutzlabel,
> das das Kupieren noch erlaubt und fehlende Liegeflächen toleriert.
Bild: Spaltenböden sollen Schweine krank machen.
Man vergisst ja so leicht, wie kreativ Schweine sind. „Die haben uns
schnell klargemacht: Was wir machen, entscheiden wir selbst!“, sagt Karl
Harleß. Schweine wollen „ihr Zuhause selbst gestalten. Wo ist meine Küche,
mein Esszimmer, mein Schlafzimmer?“
Landwirt Harleß besitzt in seinen Ställen bei Uelzen 864 Mastplätze für
Schweine, die den Minimalkriterien für das Tierschutzlabel entsprechen. Das
Tierschutzlabel ist eine Kooperation des Fleischriesen Vion und des
Deutschen Tierschutzbunds und existiert seit 2012.
Wir sind gespannt auf die Wohnlandschaften, die wir gleich zu Gesicht
bekommen werden. Wir, das sind etwa 40 Journalisten auf einer Pressefahrt
mit dem niedersächsischen Landwirtschaftsminister Christian Meyer, mit
Vertretern von Vion und Tierschutzbund sowie diversen fachlichen Beratern.
Wir stehen vor Harleß’ Stall, hier konnten er und seine Frau 2009 „die
ersten Ferkel begrüßen“. Bevor wir den Stall betreten, müssen wir
Einwegoveralls anziehen. Diese Hygiene sei wichtig, sagt der Landwirt, „wir
haben hier Lebensmittel im Stall!“ Ja, der Ferkelbegrüßer sagt jetzt
tatsächlich Lebensmittel statt Lebewesen.
## Liegefläche später
Drinnen die nächste Überraschung: Entweder sind Schweine als
Inneneinrichter doch nicht so toll, oder sie haben noch nicht losgelegt. Im
Inneren dieser Ställe findet sich kein Stroh, keine Erde, nichts zum
Wühlen, keine unterscheidbaren Bereiche; der Stall ist durchgängig mit
Spaltenboden ausgelegt – also Beton, durch dessen Ritzen Kot und Urin in
die darunter liegende Grube abfließen können. Ammoniak liegt in der Luft;
einen Journalistenkollegen drängt es rauszugehen, um durchzuatmen.
Wo die Toilette ist, ist klar – aber wo sind denn jetzt Küche und
Esszimmer?, fragen wir den Landwirt. Wo ist das Schlafzimmer? Haben wir
nicht vorher noch im Internet nachgelesen: Bedingung für die Aufnahme ins
Tierschutzlabel ist das Vorhandensein einer Liegefläche – also ein
Stallbereich ohne Spaltenboden?
Dreimal fragen wir Gesine Harleß nach dieser Liegefläche, dreimal antwortet
die Landwirtin ausweichend: „Wir probieren noch aus …“ Später erfahren w…
den Grund: Die Übergangsfrist für den Einbau der Liegeflächen, die Ende
2013 ablaufen sollte – und die immer noch auf der Internet-Seite des
Tierschutzlabels steht –, wurde bis Ende 2015 verlängert. Und noch etwas
anderes hat bisher nicht geklappt, nämlich aufs Kupieren der Schwänze zu
verzichten. Auch das erlaubt das Label, anders als angekündigt, noch bis
2015.
Ein kleiner Skandal, denn es geht hier nicht um den Wert der Ringelschwänze
als solche. Sondern dass die Schweine einander die Schwänze beknabbern, ist
Zeichen dafür, dass insgesamt vieles bei der Haltungsform im Argen liegt.
Ein intakter Schwanz an sich ist noch kein Grund, über „Tierwohl“ zu
jubeln, aber ein kaputter Schwanz ist ein Negativindiz.
## „Deutlich mehr Platz“
Worin bestehen also die Unterschiede zwischen Tierschutzlabel- und anderen
Schweinemastställen? Zum einen werden die männlichen Tiere immerhin nicht
mehr ohne Betäubung kastriert; zum Zweiten erhalten die Tiere „mehr
Beschäftigungsmaterial“, und zum Dritten: „deutlich mehr Platz“. Dass es
wirklich „deutlich“ mehr Platz ist, wird an diesem Nachmittag so oft
gesagt, dass, wenn wir für jedes „deutlich“ ein Schwein bekommen hätten,
die Ställe jetzt leer wären. Aber wie deutlich ist „deutlich“? Tatsächli…
handelt es sich um knapp 50 Prozent mehr Platz pro Schwein. Das macht statt
den 0,75 Quadratmetern, die gesetzlich vorgeschrieben sind, etwa 1,1
Quadratmeter.
Da bleibt nur zu hoffen, dass die Schweine gut rechnen können. Die
„Initiative Tierwohl“ übrigens, die von anderen Vertretern der
Fleischbranche kürzlich vorgestellt wurde, stellt noch höhere Ansprüche –
an die Rechenkünste der Schweine: 10, 20 oder 40 Prozent mehr Platz als
gesetzlich vorgeschrieben haben sie dort. Es empfiehlt sich, den Ferkeln
zusätzlich zum Ikea-Küchenstarterset noch einen Zollstock in die Klaue zu
drücken, wenn sie „begrüßt“ werden.
Die Sonne scheint, der Pressebus fährt zum nächsten Tierschutzlabel-Stall.
Es gibt Schnittchen und noch mehr Euphemismen: Vor Besichtigung seines
„Außenklimastalls“ kündigt Christoph Becker an, dort bekämen wir „sch�…
Komfortliegeflächen“ zu sehen.
## Heilmittel Sonne
Tatsächlich gemeint sind: durchgängige Betonböden, also ohne Spalten. Ja,
solche gibt es in Beckers Stall, da können die Schweine total schön und
komfortabel liegen. Bedauernd sagt er gleich zu Beginn, auch bei ihm
könnten die Schweine nicht auf Stroh gehalten werden. Allerdings gehe er
einmal pro Tag durch die Ställe und werfe etwas Silage oder Körner hinein,
damit können sich die Schweine einige Minuten beschäftigen.
Aber halt, was sehen wir denn da drüben? Ein Abteil im Freien, ausgelegt
mit Stroh, die Schweine baden in der Sonne … Das sei das Krankenabteil,
erklärt der Landwirt. Meistens würden die Tiere von allein wieder gesund,
sobald sie eine Zeit lang im Krankenabteil verbracht haben. Warum? Vor
allem, weil das Stroh die Gelenke entlastet. Gern würde Becker den
Schweinen immer Stroh bieten oder häufiger eine Handvoll Stroh hineinwerfen
– aber wer bezahlt das? Alles, was man hineinwirft, macht beim Herausholen
Arbeit, das kostet Geld, und der Verbraucher will billig.
Ein fachlicher Berater erklärt uns später, dass im Grunde alles nicht so
schlimm sei. „Für das Schwein ist am wichtigsten, dass es satt ist. Da ist
es ganz wie die Kerle.“ (Er meint männliche Menschen.) „Wenn sie
vollgegessen sind, sitzen sie auf dem Sofa.“
Uns fallen einige Schweine auf, deren Rücken mit pinker Farbe markiert
sind. Das sind die Schweine „kurz vor der Suppe“, erklärt derselbe
Fachmann, „das ist wie bei Bäumen, die markiert man vor dem Fällen ja
auch.“ Ja, danke, das haben wir jetzt verstanden.
Schweine sind Inneneinrichter, Couch-Potatoes oder zum Fällen bestimmter
Bäume. Nur eines dürfen Schweine hier nicht sein: Schwein.
19 Apr 2015
## AUTOREN
Hilal Sezgin
## TAGS
Schweinefleisch
Mastbetriebe
Massentierhaltung
Marketing
Sachsen-Anhalt
Stuttgart
Gedöns
Schafe
tazlab 2012: „Das gute Leben“
## ARTIKEL ZUM THEMA
Debatte Manipulation durch Werbung: Die Kraft der Argumente
Bei einem Workshop über Heimtierzubehör kann man leicht zur Erkenntnis
kommen: Marketing macht Meinung zur Lüge.
Massentierhaltung in Deutschland: Das Schweine-Imperium
Im Osten Deutschlands herrscht Adrianus Straathof über Abferkelboxen,
Futtersilos, Gülletanks. Eine Tierfabrik soll nun geschlossen werden.
Alternatives Einkaufszentrum: Mall ganz anders
Innenstädte müssen nicht aus einer Ansammlung immer gleicher Shopping-Malls
bestehen. In Stuttgart probiert man es mit einem Alternativkonzept.
Plädoyer für politischen Konsum: Boykott für den Klimaschutz
Die abstrakte Kapitalismuskritik muss zur politischen Kampagne werden. Eine
Weltbürgerbewegung sollte den Konzernen auf die Pelle rücken.
Eine Weihnachtsgeschichte mit Schaf: Und alles wegen dir
Was macht man, wenn das liebste Schaf krank zu sein scheint? Alles. Eine
Weihnachtsgeschichte über hunderte Autobahnkilometer und tote Kühe im
Nebel.
Pro und Kontra Fleischkonsum: Tiere aufessen oder Tiere streicheln?
Warum man Fleisch isst, erklärt der eine mit schamanischen Argumenten.
Warum sie dem fleischessenden Tischnachbarn das Salz nicht reicht,
erläutert die andere.
Kommentar Dioxin: Der Alltag ist der Skandal
Ein reines Gewissen kann man sich nicht erkaufen. Darum bleiben uns nur die
Skandale als das bisschen Realität, das ans Tageslicht kommt.
Das Verhältnis zum Tier: Aufessen oder streicheln?
Das Bekenntnis zu einem veganischen Lebensstil ist längst mehr als ein
Spleen: Auch wer nur Bio-Fleisch kauft, kann kein gutes Gewissen haben.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.