# taz.de -- Protest gegen Zwangsräumungen: Anecken – und dafür bezahlen | |
> Vor einem Jahr starb die 67-jährige Rosemarie Fliess. Ist sie Einzelfall | |
> oder Symbol für die Brutalität von Zwangsräumungen? | |
Bild: Trauerkundgebung zum Tod von Rosemarie Fliess am 12.4.2013. | |
Sie ist noch angeeckt, als sie schon tot war. Als die 67-jährige Rentnerin | |
Rosemarie Fliess am 11. April 2013 zwei Tage nach ihrer Zwangsräumung in | |
einer Obdachlosenunterkunft starb, wurde sie von stadtpolitischen | |
Initiativen rasch zu einem Symbol erklärt. Für all die Menschen, die für | |
Gentrifizierung und steigende Mieten bezahlen müssen – im schlimmsten Fall | |
mit ihrem Leben. Hunderte Menschen demonstrierten deshalb in Kreuzberg, ein | |
Demonstrant wurde von einem Polizisten bewusstlos geschlagen und wegen | |
Landfriedensbruch und Körperverletzung angezeigt. Sein Prozess findet | |
nächsten Mittwoch statt, am Wochenende rufen Initiativen zu Demonstrationen | |
auf – gegen Zwangsräumungen und im Gedenken an Rosemarie Fliess. | |
Doch ob diese sich tatsächlich zur Symbolfigur für zunehmend in Bedrängnis | |
geratene Mieter eignet, stand bereits wenige Tage nach ihrem Tod infrage. | |
Die Vermieterin verwies auf die Hilfsmöglichkeiten, die sie Fliess | |
angeboten und die diese ausgeschlagen habe. Medien zeichneten das Bild | |
einer alten, verwirrten Frau, die isoliert in einer vermüllten Wohnung | |
gelebt und sämtliche Kontaktversuche von Behörden abgeblockt habe. Eines | |
Menschen also, bei dem nicht die hohen Mieten, nicht die Gentrifizierung | |
schuld seien an der Räumung – sondern die persönliche Geschichte und das | |
eigene Verhalten. | |
## Selbst schuld? | |
Sicher ist: Fliess war ein Mensch, mit dem es das Leben nicht gut gemeint | |
hatte. Ein Mensch, der sich schwertat, sich einzufügen in die Gesellschaft, | |
der aneckte und dafür immer wieder bezahlte. Sie war ein Kriegskind, 1945 | |
geboren, pflegte lange ihre kranke Mutter. Als diese verstarb, weigerte | |
sich Fliess, aus der gemeinsamen Wohnung in Thüringen auszuziehen. Als die | |
Polizei die Wohnung räumen wollte, fand sie einen Zettel an der Wand vor. | |
Auf dem bezeichnete Fliess die DDR als „das größte Gefängnis“. | |
Fliess selbst war da schon weg: Sie versuchte über Prag in den Westen zu | |
fliehen, wurde auf der Flucht aber gefasst. Die Wirbelsäulenverletzung, die | |
sie bei der Verhaftung erlitt und die offenbar nie richtig behandelt wurde, | |
machte ihr bis zuletzt Probleme. Sie kam nicht ins Gefängnis, sondern | |
zwangsweise in die Psychiatrie. Wie lange sie dort war, was sie dort | |
erlebte, das hat sie auch Tatjana Sterneberg nicht erzählt, die eine | |
Beratungsstelle für SED-Opfer betreute und bei der Fliess Ende 2003 vor der | |
Tür stand. | |
Auch damals ging es schon um das Wohnen – Fliess’ Ehe war zerbrochen, das | |
gemeinsame Haus wurde verkauft. Sterneberg half Fliess, Haftentschädigung | |
und Sozialhilfe zu beantragen, Fliess wurde offiziell rehabilitiert. Aber | |
weil sie den Kontakt zum Sozialamt nicht hielt, wurden die Zahlungen | |
eingestellt. „Ich kenne viele Fälle, in denen sich traumatisierte Menschen | |
isolieren“, sagt Sterneberg. Es sei schwierig, an sie heranzukommen, weil | |
das Vertrauen fehle. | |
Fliess fehlte wohl vor allem das Vertrauen in staatliche Hilfe: Als sie | |
merkte, dass sie akut räumungsbedroht war, suchte sie die Kampagne | |
„Zwangsräumung verhindern“ auf. Sie nahm noch im hohen Alter an der | |
Demonstration gegen die Räumung der Gülbos teil, an Plenen, Blockaden. „Sie | |
war ein sehr politischer Mensch“, sagt David Schuster von der Kampagne. | |
„Sie wusste, dass sie geräumt würde. Und sie hat das als Unrecht empfunden | |
und wollte sich wehren.“ Man könne so ein Verhalten als stur bezeichnen – | |
oder als entschlossen und widerständig. | |
Fliess, sagt Schuster, sei schon deshalb ein Symbol, weil sie mehrere Arten | |
von Diskriminierung erlitten habe. Sie hatte ein geringes Einkommen, | |
Probleme, mit ihren Papieren klarzukommen, sie war körperlich | |
beeinträchtigt. Und sie galt als nicht ganz normal, als störend. „Ein | |
großer Teil der Menschen, die wir unterstützen, hat solche oder ähnliche | |
Probleme“, sagt er. | |
## Neue Formen von Armut | |
Räumungen treffen eben selten diejenigen, die über entsprechende Bildung | |
und Netzwerke verfügen, um sich wehren oder rechtzeitig andere Unterkünfte | |
finden zu können, sondern vor allem Menschen, die am Rand der Gesellschaft | |
leben. Auch Thomas Specht von der Bundesarbeitsgemeinschaft | |
Wohnungslosenhilfe (BAG) beobachtet, dass sich neue Formen von Armut und | |
Obdachlosigkeit ausbilden – unter jungen Menschen, aber auch älteren | |
Frauen. | |
Weder in Deutschland noch in Berlin gibt es offizielle Zahlen zu | |
Zwangsräumungen oder Wohnungsverlusten. Im Jahr 2010 meldeten die Berliner | |
Sozialämter rund 10.000 Räumungsklagen. Wie viele davon durchgesetzt | |
wurden, ist nicht bekannt. Dass sie zunehmen, steht indes außer Frage: Die | |
Schätzungen, die die BAG regelmäßig veröffentlicht, verzeichnen allein von | |
2010 bis 2012 eine Zunahme der Wohnungsverluste um 15 Prozent. Eine | |
detaillierte Studie, die derzeit in Nordrhein-Westfalen durchgeführt werde, | |
so Specht, weise auf noch dramatischere Entwicklungen hin. | |
Es habe sich durchaus einiges bewegt seit dem Tod von Fliess, sagt Schuster | |
von der Kampagne „Zwangsräumungen verhindern“. Die landeseigenen | |
Gesellschaften hätten Räumungen zumindest vorübergehend ausgesetzt. Auch | |
bei den Gerichten beobachte er eine sorgfältigere Prüfung der Anträge auf | |
Räumungsschutz. Bei Rosemarie Fliess war der Antrag trotz ärztlichen | |
Attests abgelehnt worden. | |
12 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Juliane Schumacher | |
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