| # taz.de -- Kundgebung gegen Verdrängung: „Das Wort Kiez macht alles kaputt�… | |
| > Seit Jahrzehnten wohnt Familie A. in Kreuzberg. Nach einem Rechtsstreit | |
| > mit dem Vermieter muss sie nun ausziehen – wenn sich nicht doch noch was | |
| > machen lässt. | |
| Bild: Immer wieder kommt es in Berlin zu Zwangsräumungen. Bei Familie A. ist e… | |
| Es ist etwas zu dunkel in der Wohnküche von Familie A. Man muss sich | |
| anstrengen, um die vielen Papiere im Ordner auf dem Tisch lesenzu können. | |
| Gerichtsurteile, Kündigungsschreiben. Beata A., eine freundliche Frau mit | |
| langem blonden Zopf, zeigt zu den Halogenleuchten oben an der Decke. „Der | |
| Trafo ist kaputt. Wir reparieren den nicht, weil wir ja nicht wissen, ob | |
| wir morgen ausziehen müssen.“ | |
| Die A.s leben seit sieben Jahren in einer Zweizimmerwohnung in der | |
| Reichenberger Straße 73 in Kreuzberg, zu fünft auf 86 Quadratmetern. In der | |
| gepflegten Küche steht neben dem Esstisch eine hellgraue Ausziehcouch. Der | |
| Raum dient den Eltern tagsüber auch als Wohn- und nachts als Schlafzimmer. | |
| Damit der 14-jährige Sohn ein eigenes Zimmer haben kann und sich nicht mit | |
| den beiden Kleinen einen Raum teilen muss. | |
| Die Kinder gehen nebenan in die Schule und in die Kita. Freunde und | |
| Bekannte leben im Viertel. Hier sind die A.s zu Hause. Doch seit Jahren | |
| haben sie Streit mit ihrem Vermieter, erst wegen der Miethöhe, dann wegen | |
| eines angeblichen Erpressungsversuchs. Jetzt müssen sie raus. Wenn sich | |
| nicht doch noch etwas machen lässt. | |
| Viele Mieter im Viertel rund um die Reichenberger Straße leiden unter dem | |
| aufgeheizten Wohnungsmarkt. Auch die Familie Gülbol, deren Zwangsräumung | |
| vor einem Jahr für Proteste sorgte, lebte direkt um die Ecke. Die | |
| Mietpreise zogen hier besonders stark an. Für Haus- oder Wohnungsbesitzer | |
| lohnt es sich, wenn die alten Mieter mit ihren günstigen Verträgen gehen. | |
| Wer neu einzieht, zahlt laut dem GSW-Wohnmarktreport heute im Schnitt 10,50 | |
| Euro pro Quadratmeter Kaltmiete. Die Familie A. kommt auf 5,85 Euro pro | |
| Quadratmeter kalt. | |
| Mit Betriebs- und Heizkosten macht das 703 Euro pro Monat. Die Kosten trägt | |
| das Amt: Sowohl Beata A. als auch ihr Mann Ibrahim beziehen Hartz IV. Er | |
| hat Parkettleger gelernt, ist aber schon lange arbeitslos und verdient sich | |
| nur gelegentlich etwas dazu. Beata A. kam vor 17 Jahren von Polen nach | |
| Berlin, ist gelernte Bürokauffrau und war zuletzt vor allem Hausfrau. | |
| Ibrahim A., ein schmaler Mann mit Dreitagebart, ist 44 Jahre alt. Als | |
| Dreijähriger zog er mit seinen Eltern aus der Türkei nach Kreuzberg und | |
| wuchs in der Falckensteinstraße auf. Ein Kind des Wrangelkiezes, könnte man | |
| sagen. Doch Ibrahim verzieht bei dieser Bemerkung das Gesicht. „Das Wort | |
| Kiez ist nicht gut“, sagt er. „Das macht alles kaputt. Es holt die | |
| Alternativcafés und die Reichen hierher.“ | |
| Der Ärger um die Wohnung der A.s begann 2010 mit dem Lärm. Früher gab es im | |
| Erdgeschoss des Hauses eine Kneipe, der Wirt veranstaltete Konzerte. Die | |
| A.s wohnen direkt über diesen Räumen. Die Livemusik sei unglaublich laut | |
| gewesen, erzählt Beata A. „Wir haben gesagt: Wir zahlen nur noch die Hälfte | |
| der Miete, bis es leise ist“, so Ibrahim A. Kurz darauf kam das erste | |
| Kündigungsschreiben. | |
| Sie nahmen sich einen Anwalt. Der habe aber den Verhandlungstermin | |
| versäumt, berichten die A.s. In Abwesenheit wurden sie verurteilt, die | |
| Mietschulden zurückzuzahlen. Auch die Gerichtskosten mussten sie tragen. | |
| Sie zeigen ein Papier, das die einzelnen Posten auflistet – alles in allem | |
| über 5.000 Euro. | |
| Beim Jobcenter bewilligte man ihnen ein Darlehen, das sie nach wie vor vom | |
| Regelsatz abstottern. Hausbesitzer ist der Rechtsanwalt Ernst Brenning aus | |
| Steglitz mit seiner Familie. Mit ihnen konnten sich die A.s damals noch | |
| einigen – und durften vorerst in der Wohnung bleiben. | |
| Dann kam der nächste Ärger. Im November 2012 wollten die Brennings erneut | |
| kündigen. Der Grund: Die A.s hätten zu wenig Miete bezahlt. „Die hatten | |
| sich in der Monatsabrechnung um 20 Euro vertan“, erzählt eine Nachbarin, | |
| die Beata A. und ihren Mann unterstützt. In dieser Sache gewannen sie. | |
| Schwieriger wurde es, als die Brennings im Sommer vergangenen Jahres den | |
| Vorwurf erhoben, Ibrahim A. habe versucht, Schutzgeld zu erpressen. Die Bar | |
| im Erdgeschoss war zu der Zeit bereits ausgezogen, ein italienisches | |
| Restaurant eröffnete. Im Prozess sagte die Betreiberin – nach Angaben der | |
| A.s und der anderen Nachbarin eine Bekannte der Brennings –, Ibrahim A. | |
| habe ihr gedroht. „Ab 22 Uhr ist Ruhe, oder du zahlst“, soll er gesagt | |
| haben. Kurz vor Weihnachten urteilte das Amtsgericht: Der Tatbestand der | |
| versuchten Erpressung sei erfüllt, der Hausfrieden nachhaltig bedroht. Die | |
| Konsequenz: fristlose Kündigung. | |
| Ibrahim A. bestreitet die Vorwürfe vehement. Er sagt, er habe mit der Frau | |
| gesprochen, ihr aber nicht gedroht. Auch Beata A. regt sich auf. „Einen | |
| türkischen Mann kann man schnell kriminell machen.“ Besonders schlimm sei | |
| die Sache für ihren 14-jährigen Sohn. Der wolle Polizist werden. Und erlebe | |
| nun, dass man seinen Vater durch den Schmutz ziehe. | |
| Die Brennings verweisen nach einer taz-Anfrage auf das Urteil des | |
| Amtsgerichts, das ihre Position bestätigt hat. Dort steht wörtlich, die | |
| Kündigung sei aufgrund des Erpressungsversuchs „gerechtfertigt“. | |
| Die A.s wollen das nicht auf sich sitzen lassen. Sie haben beim Landgericht | |
| Berufung eingelegt. Parallel suchen sie nach einer neuen Wohnung. Für alle | |
| Fälle. Kreuzberg ist für sie zu teuer geworden. Sie schauen weiter draußen, | |
| in Rudow und Britz. „Ich gehe auf jede Besichtigung. Aber bis jetzt habe | |
| ich nur Absagen bekommen“, erzählt Beata A. | |
| Vielleicht müssen sie gar nicht umziehen. Wenn die Berufung vom Gericht | |
| angenommen wird, können sie vorerst in der Reichenberger bleiben. Beata A. | |
| wirft einen Blick zur Decke und sagt: „Erst wenn wir das wissen, reparieren | |
| wir auch die Lampe.“ | |
| 8 Feb 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Antje Lang-Lendorff | |
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