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# taz.de -- Zwangsräumung in Sachsen: „Ich habe nur noch Angst“
> Zwei nervenkranke Frauen konnten zeitweise die Miete nicht zahlen, sie
> sollen zwangsgeräumt werden. Das Landgericht unterstellt ihnen
> Passivität.
Bild: Einen Dom und eine Burg gibt es in Meißen, behindertengerechten Wohnraum…
MEISSEN taz | Im Kalender stand der Frühlingsanfang, aber für Mutter und
Tochter S. im sächsischen Meißen endete am vergangenen Freitag der letzte
Aufschub ihrer Zwangsräumung. Tags zuvor hatte das Amtsgericht in einem
eiskalten Beschluss, der den beiden nervenkranken Frauen Passivität bei der
Wohnungssuche und überzogene Ansprüche unterstellt, die Zwangsvollstreckung
bestätigt.
Das Räumungsurteil wegen rückständiger Mietzahlungen stammt schon vom
Oktober 2012. Zuvor waren mehrere Versuche von Mutter Ute gescheitert, in
Meißen und Umgebung eine behindertengerechte bezahlbare Wohnung zu finden.
Den Glauben an ein wirksames soziales Netz in der Bundesrepublik haben die
beiden Frauen längst verloren.
Mutter Ute und die jetzt 27-jährige Tochter Anne-Christin leiden an
Myalgischer Enzephalomyelitis. Die organische Hirnstörung hat Folgen für
das Nerven- und Immunsystem und die meisten Körperfunktionen. Die
Belastungsfähigkeit sinkt rapide, chronische Müdigkeit, Überempfindlichkeit
und Lähmungserscheinungen stellen sich ein. Anne-Christin, die sehr klar
über sich und ihr Schicksal sprechen kann, hat ihr Bett seit Januar 2011
nicht mehr verlassen. Sie ist vollständig auf die Pflege durch die Mutter
angewiesen, deren Erkrankung noch nicht so weit fortgeschritten ist. Eine
Assistenz ist bislang nicht bewilligt worden.
Aber auch Mutter Ute klagt über Gedächtnisprobleme, wird offensichtlich der
Papiere und amtlichen Schreiben nicht mehr Herr, die verstreut auf dem
Boden liegen oder an Wände geheftet sind. Mit Mühe hat sie einige
Umzugskartons gepackt. Sie bezieht Erwerbsunfähigkeitsrente, Tochter
Anne-Christin erhält monatlich 283 Euro Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB
XII. Nur für ihren Mietanteil kommt das Sozialamt auf. „Wir haben lange zu
zweit von 800 Euro gelebt“, schildert die Mutter ihre finanzielle Lage.
Davon schluckte allein die Miete für die 70 Quadratmeter im dritten Stock
465 Euro.
## Sozialamt warf Frauen mangelnde Mitwirkung vor
Das Dilemma begann 2007, als beide einige Monate in Mietrückstand gerieten.
Sozialhilfe musste erst beantragt werden, Mutter Ute hatte wegen
Formfehlern zeitweise keine Rente erhalten. Das Sozialamt warf der teils
überforderten Frau mangelnde Mitwirkung vor. Der Vermieter aus Heidelberg
kündigte, obschon nach Angaben der beiden Frauen mittlerweile alle
Kaltmietrückstände beglichen sind. Nur Betriebskostennachzahlungen von etwa
1.000 Euro seien noch offen.
Mutter und Tochter würden gern in eine andere behindertengerechte Wohnung
ziehen. Doch das Angebot an sozialem Wohnraum ist im Landkreis Meißen
generell sehr dürftig, wie eine Studie des Eduard-Pestel-Instituts aus
Hannover feststellte. Bei drei in Frage kommenden Wohnungen von
Privatvermietern hätten Umbauten vorgenommen werden müssen, deren Kosten
die beiden Frauen allein nicht tragen können. Das Sozialamt schlug entweder
ungeeignete Wohnungen vor oder bemängelte in einem Fall eine nicht den
Vorschriften entsprechende zu schmale Badtür.
„Ich habe eigentlich nur noch Angst“, äußert die von einem einstündigen
Gespräch schon sehr erschöpfte Anne-Christin: auch Angst vor einer Trennung
von der Mutter und der Einweisung in eine Pflegeeinrichtung, die das
Sozialamt vorschlägt. Das Betreuungsgericht Meißen wiederum lehnt die
Prüfung einer gesetzlichen Betreuung ab, „da die Voraussetzungen aktuell
zweifelhaft erscheinen“, und nur ein Vorwand zur Verhinderung der
Zwangsräumung vermutet wird. Beistand geben den Frauen nur der
gemeinnützige Verein „Freiraum Elbtal“ und ihr Anwalt Jan Winter, der jetzt
beim Landgericht Beschwerde einlegen will.
27 Mar 2014
## AUTOREN
Michael Bartsch
## TAGS
Sachsen
Zwangsräumung
Miete
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Wohnungsmarkt
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