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# taz.de -- Wohnungsmarkt in Großbritannien: Beziehungsweise obdachlos
> Rosie Walker hat einen festen Job, aber keine Wohnung. Verdeckte
> Obdachlosigkeit kommt in London immer häufiger vor.
Bild: Der Wohnungsmarkt in London ist eng. 1500 Pfund berappt der Londoner durc…
LONDON taz | Alle paar Monate kommt sie hierher, an den Ort, an dem Rosie
Walker vor zwölf Monaten ihr Leben und ihre Identität wegschließen musste,
ein verlassenes Industriegebiet im Osten Londons.
154 mal 120 Zentimeter gehören ihr dort, ihr ganz allein. Zweites
Stockwerk, siebte Tür auf der rechten Seite. Die Feuerschutztüren sind alle
im gleichen glänzenden Blau gestrichen. „Die Zelle“ nennt sie das, was von
ihrem Zuhause geblieben ist, liebevoll. Gerade so passt Rosie Walkers
zierliche Gestalt in den vollgestellten Raum, nur nach oben ist dann noch
etwas Luft.
„Zum Leben reicht es nicht ganz“, sagt sie lachend und dreht sich
vorsichtig um die eigene Achse. Ganz unten stehen ein Schubladencontainer
und der Korbstuhl. Darauf türmen sich stapelweise Papier, Schuhkartons,
Säcke voll mit Wäsche.
Das letzte Mal war Rosie Walker im September hier, als sie den Schlafsack
und die Pumpe für die Fahrradtour holen wollte. Jetzt bringt sie die
Sommersachen zurück, es ist Zeit für Wintermantel und gefütterte Stiefel.
Das ist nun schon das zweite Jahr, dass es so kommt.
## Zwischen zwei Jobs
Rosie Walker ist 35 Jahre alt und mietet seit 17 Jahren in London. Viermal
wurde sie seitdem grundlos gekündigt. Zuletzt lebte sie in einer
Wohngemeinschaft in Hackney, einem Bezirk im Osten Londons. Als sie den
damaligen Vermieter baten, notwendige Reparaturen zu veranlassen,
ignorierte er sie zunächst und warf sie dann raus. Rosie hat sich nichts
vorzuwerfen. Sie habe immer ihre Miete bezahlt und sich sogar um die
Pflanzen im Garten gekümmert, sagt sie.
Rosie und ihren Mitbewohnern blieb trotzdem keine Wahl. Artikel 21 der
englischen Wohnungsverordnung von 1988 erlaubt Vermietern die
„unverschuldete Zwangsräumung“. Damals befand Rosie Walker sich genau
zwischen zwei Jobs und konnte es sich nicht leisten, eine neue Wohnung
anzumieten. Also zog sie zu ihrem Freund. Ihre Sachen mussten in die
Lagerhalle. Und da befinden sie sich nun seit über einem Jahr.
Nein, obdachlos ist sie nicht. Niemand würde sie so nennen. Genau gesagt
lebt Rosie Walker jetzt in der frisch renovierten WG ihres Freundes in
zentraler Lage. Sie teilen sich ein 15-Quadratmeter-Zimmer, und es gibt
eine große Küche mit Balkon.
## Keine freie Entscheidung
Auf dem kleinen Balkon sitzen sie manchmal zusammen, trinken Rotwein und
träumen von einer Wohngenossenschaft, einem Leben an einem Ort, wo sie
selbst entscheiden dürfen und kein Vermieter sie rausschmeißen kann. Sie,
das sind Rosie, ihr Freund und ein befreundetes Pärchen. Auch das kann sich
kein eigenes Zimmer leisten und teilt Bett, Schrank und Schreibtisch. Es
könnte viel schlimmer sein, das weiß Rosie.
„Wir haben eine gute Beziehung, aber es war einfach keine freie
Entscheidung, zusammenzuziehen. Wenn ich die Beziehung beende, bin ich ohne
Zuhause“, stellt Rosie Walker fest. Wenn sie über ihre Situation spricht,
wirkt sie, als könne sie immer noch nicht recht glauben, dass gerade ihr
das jetzt passiert.
Von ihren Eltern hat die 35-Jährige früh gelernt, dass Anstrengung sich
lohnt. Wer arbeiten geht und Verantwortung für sich übernimmt, der wird
sich auch ein eigenes Zuhause leisten können. Ihre Eltern haben das
vorgelebt. Dass diese Gleichung heute nicht mehr aufgeht und ihre Tochter
mit 35 Jahren noch immer von Wohngemeinschaft zu Wohngemeinschaft ziehen
muss, ist Rosies Eltern nur schwer begreiflich zu machen.
Denn Rosie Walker arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an ihrer
ehemaligen Uni, der London School of Eonomics (LSE), einer der
renommiertesten Universitäten Englands. Die Uni wirbt damit, dass die
Einstiegsgehälter des akademischen Nachwuchses ein gutes Drittel höher sind
als die des Durchschnitts. Die LSE ist eine Universität der Elite.
Doch der Mietmarkt in London macht es selbst der Elite nicht leicht, Leuten
mit erstklassigem Uni-Abschluss, mit Job und ohne familiäre Probleme im
Nacken. Mindestens 36.000 Wohnungen müssten jährlich gebaut werden, damit
ausreichend Wohnraum für alle vorhanden ist. Nur ein Bruchteil dessen
entsteht tatsächlich. Und deshalb steigen die Mietpreise – achtmal so
schnell wie die Gehälter. Im Schnitt zahlen Londoner derzeit knapp 1.500
Pfund monatlich für ihre Unterkunft.
## Gentrifiziertes Hackney
Rosie Walker ärgert das. Weil sie sich selbst kein eigenes Zuhause mehr
leisten kann. Und weil es ungerecht ist für all diejenigen, die seit Jahren
in London arbeiten und es sich plötzlich nicht mehr leisten können, dort
auch zu leben. Vor zehn Jahren war Hackney noch ein typisches
Arbeiterviertel. Heute gibt es hier Vintageläden und ein Restaurant, in dem
man Gourmet-Burger aus biologischer Landwirtschaft essen kann. Höchstens
reiche Ausländer können sich die Restaurants und Mieten in Hackney noch
leisten. Aber Rosie Walker will unbedingt bleiben. Denn hier leben ihre
Freunde, hier kennt sie ihren Abgeordneten und hier engagiert sie sich.
Zusammen mit anderen Bewohnern von Hackney hat sie die Let-Down-Kampagne
gestartet – in Anlehnung an die beiden englischen Wörter für to let gleich
mieten und let down für enttäuschen. Oberste Priorität sei die Abschaffung
von Maklergebühren, sagen die Aktivisten. Denn immer mehr Makleragenturen
machen sich auf den Geschäftsstraßen in Hackney breit. Ihre Gebühren haben
keine Grenzen nach oben, das Schild „Keine Sozialhilfeempfänger“ hängt bei
vielen an der Eingangstür.
Die Let-Down-Aktivisten wollen vor allem eins: Bewusstsein schaffen. Sie
stellen Petitionen ins Internet, schreiben offene Briefe an Politiker und
ziehen alle paar Wochen von einem Maklerbüro zum nächsten. Das Housing
Crisis Monopoly ist einer ihrer Klassiker. Passanten können Ereigniskarten
ziehen, wer mitspielt, bekommt einen Zylinderhut aus schwarzer Pappe auf
den Kopf gesetzt. Mike, ein Freund von Rosie, mimt den Moderator als
raffgierigen Makler. Er trägt Anzug, gegeltes Haar und ein schweres
Megafon: „Sie sind Sozialhilfeempfänger?“, fragt er. „Dann gehen Sie zur…
auf Los. Sie ziehen keine Miete ein.“
Zu gewinnen gibt es beim Housing Crisis Monopoly ein „luxuriöses
Einzimmerapartment“ – so groß wie ein Einmannzelt im Spielzeugformat. Das
Angebot ähnelt den Wohnungsanzeigen, die in den Schaufenstern der Makler in
bunten Lettern angepriesen werden. Jeder, der in London schon mal auf
Wohnungssuche war, kennt die Diskrepanz zwischen den vielversprechenden
Wohnungsbeschreibungen und der Realität von fensterlosen Abstellkammern und
verschimmelten Badezimmern.
## Die Eltern helfen
Diskrepanzen gibt es auch zwischen Rosie Walker und ihren Freunden. Richtig
spürbar wird das erst jetzt, da sich manche in den sicheren Hafen der
Eigentumswohnung zurückziehen. „Wir haben alle mal den gleichen Abschluss
gemacht und sind mit ähnlichen Gehältern gestartet, aber jetzt leben wir in
total verschiedenen Welten“, sagt Rosie Walker und zuckt dabei leicht mit
den Schultern. Fast, als müsse sie sich dafür entschuldigen.
Wer keine reichen Eltern hat oder es auf dem freien Wohnungsmarkt nicht
schafft, dem bleibt nur, sich um eine der begehrten Sozialwohnungen zu
bewerben. Doch Sozialwohnungen gibt es seit der Ära Thatcher nicht mehr
viele in London, die Listen sind lang und ebenso die Wartezeiten.
„Dringende Fälle, etwa eine Familie, die ihr Haus durch einen Brand
verloren hat, warten im Schnitt 30 Wochen auf eine Sozialwohnung“, sagt
James Willsher auf dem Sozialamt in Hackney.
Rosie Walker kann nicht mehr zählen, wie oft sie den Weg zu Mr Willsher im
Sozialamt schon hinter sich gebracht hat. Es ist immer der gleiche Ablauf:
am Eingang eine Nummer ziehen, dann das Lächeln der Sekretärin, das lange
Warten in den blauen Plastikschalstühlen, das Ausfüllen der gleich
bleibenden Formulare, Fragen über Fragen und dann das energische
Kopfschütteln von James Willsher.
## Pendeln lohnt nicht
„Ich stehe seit acht Jahren auf der Warteliste des Sozialamts, aber sie
haben mir schon mehrmals klargemacht, dass ich keine Chance habe, wenn ich
nicht plötzlich alleinerziehende Mutter oder schwerkrank werden sollte.“
Manchmal denkt Rosie Walker deshalb darüber nach, aus London wegzuziehen.
Doch die Jobs sind und bleiben in London. Pendeln aus den Randgebieten
Londons lohnt sich finanziell auch nicht. Knapp 3.000 Pfund kostet ein
Monatsticket in die Außenbezirke Londons im Jahr.
Vor ein paar Wochen haben die Eltern von Rosies Freund angerufen und
angeboten, den beiden dabei zu helfen, eine Wohnung zu kaufen. Rosie Walker
weiß: Wer das nötige Geld für eine Anzahlung aufbringt, der kann dem
Albtraum von willkürlichen Mieterhöhungen und unverschuldeten Räumungen
entkommen. Die Eltern meinen es gut. Rosie Walker seufzt. Bald wird sie
auch zu den Privilegierten in ihrem Freundeskreis gehören. Viel lieber
hätte sie es allein geschafft.
5 Jan 2014
## AUTOREN
Luisa Jacobs
## TAGS
Wohnungsmarkt
London
Mietpreise
Buch
Sachsen
Gentrifizierung
Schwerpunkt Olympische Spiele 2024
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