# taz.de -- Krawalle in Großbritannien: Londons heißer Sommer | |
> Die britische Metropole ist zwar nicht sozial und geografisch segregiert, | |
> Arme und Reiche leben nebeneinander. Aber es sind Parallelgesellschaften | |
> entstanden. | |
Bild: Brenzlig: Die aktuelle Situation in London – und um London herum. | |
BERLIN taz | Jede Metropole der Welt hat ihre unsichtbaren mentalen | |
[1][Landkarten], innerhalb derer sich der Alltag von Millionen | |
strukturiert. Wenn jetzt London brennt, brennt nicht einfach London. Es | |
finden gezielte Angriffe statt, meist auf Ladenzeilen in einigen wenigen | |
Straßen an einer überschaubaren Anzahl von Orten. | |
London ist weniger segregiert als beispielsweise Paris. Wenn die Pariser | |
Banlieue brennt, kann der Problembezirk faktisch abgeriegelt werden und der | |
Rest des Großraums Paris bekommt davon nichts mit. London hingegen ist eher | |
durchmischt. Es ist keine Stadt aus Zentrum und Peripherie, sondern ein | |
Moloch, eine geografisch schier endlose Aneinanderreihung zunehmend | |
gleichförmiger Ortschaften, die ineinander übergehen und jeweils ihre | |
eigenen Zentren und sozialen Brennpunkte haben. Damit ist das riesige | |
London zugleich auf kleinstem Raum durchaus konfrontativ, mit scharfen | |
lokalen Gegensätzen zwischen Arm und Reich, zwischen Geschäftswelt und | |
Sozialgettos, innerhalb weniger Straßenzüge. Man lebt nebeneinander, | |
benutzt dieselben Verkehrsmittel, lässt sich gegenseitig in Ruhe und sieht | |
einander nicht in die Augen. | |
Das kann jahrelang gutgehen. Und dann kommt von irgendwo eine | |
Initialzündung, die den Normalzustand gewaltsam aufhebt. | |
Viel ist im vergangenen Jahrzehnt gesagt worden darüber, wie | |
Großbritanniens Muslime sich von der Gesellschaft entfremden und eine | |
gewaltbereite Subkultur hervorbringen. Oft wurde vergessen, dass die | |
zugrundeliegenden Trends auch für andere Teile der Gesellschaft gelten. In | |
London ist in den letzten Jahrzehnten eine entwurzelte Generation | |
entstanden, deren Angehörige in Privatleben und Arbeitswelt von Provisorium | |
zu Provisorium ziehen. Sie fühlt sich wenig respektiert, wenig | |
heimatverbunden und wenig politisch vertreten. Gerade unter karibischen | |
schwarzen Jugendlichen ist das Gefühl sehr verbreitet, nicht dazuzugehören, | |
und groß ist die Versuchung, in der Schattenwirtschaft alternative | |
Hierarchien aufzubauen, für die Außenwelt unsichtbar. So entstehen | |
Parallelgesellschaften. | |
## Knotenpunkt des globalen Finanzkapitals | |
London ist in den letzten dreißig Jahren fundamental umgekrempelt worden, | |
auf dem Rücken seiner Bewohner. Es ist schon lange nicht mehr das Zentrum | |
des größten Weltreichs wie zu der Zeit des 19. Jahrhunderts, als die | |
Arbeitersiedlungen von Hackney und Tottenham entstanden. London hat sich | |
neu erfunden als Knotenpunkt des globalen Finanzkapitals. Land ist | |
Spekulationsobjekt, nicht Lebensraum. | |
Gerade erst hat der Londoner Autor Iain Sinclair in seinem Buch "Ghost | |
Milk" die Metamorphose ganzer Stadtteile in Vorbereitung auf die | |
Olympischen Spiele 2012 gegeißelt, die Milliardensummen verschlungen hat | |
und die Lebenszusammenhänge Zehntausender Menschen gleich mit. In den | |
1980er Jahren hatte die Errichtung des Geschäftsviertels Docklands im | |
ehemaligen Londoner Hafenviertel eine ähnlich traumatische Auswirkung auf | |
das Selbstverständnis des nordöstlichen London. | |
In den Jahrzehnten zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg wurden im Rahmen der | |
Slumräumung alte Reihenhäuser durch Hochhaussiedlungen ersetzt, die statt | |
Modernisierung Gettoisierung mit sich brachten. Es sind ganze Viertel des | |
sozialen Wohnungsbaus entstanden, die zu Billigmieten sozial Schwache | |
beherbergen, oft inzwischen kulturell in sich gekehrt, deren Bestand heute | |
durch Sozialabbau bedroht ist; nebenan muss allerdings schon längst eine | |
neue, prekäre, multikulturelle Jugendgeneration ohne Absicherung auf einem | |
der teuersten Wohnungsmärkte der Welt bestehen. | |
Die Menschen zerstören ihre eigene Gemeinschaft, klagen jetzt britische | |
Kommentatoren. Die Frage ist, ob die Zerstörer diese Gemeinschaften | |
überhaupt als ihre eigenen wahrnehmen. | |
9 Aug 2011 | |
## LINKS | |
[1] http://maps.google.co.uk/maps/ms?msid=207192798388318292131.0004aa01af67487… | |
## AUTOREN | |
Dominic Johnson | |
## TAGS | |
Buch | |
Wohnungsmarkt | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Buch über Elite in Großbritannien: „Thatcherismus“ als Common Sense | |
Owen Jones beschreibt, wie dreist die Mächtigen Großbritanniens ihre | |
Interessen durchsetzen – auf Kosten derer, die nichts haben. | |
Wohnungsmarkt in Großbritannien: Beziehungsweise obdachlos | |
Rosie Walker hat einen festen Job, aber keine Wohnung. Verdeckte | |
Obdachlosigkeit kommt in London immer häufiger vor. | |
Straßenschlachten in Großbritannien: "Aufstand der Konsumgesellschaft" | |
Großbritannien wartet darauf, ob Gewalt und Plünderungen in der Nacht | |
weitergehen. Ladenbesitzer in London wappnen sich mit Holzscheiten und | |
Metallstangen. | |
Straßenschlachten in britischen Städten: Rechtsextreme wollen eingreifen | |
Die rechtsextreme "English Defence League" kündigt an, gegen die | |
Randalierer vorgehen zu wollen. In Birmingham hat die Polizei Ermittlungen | |
wegen Mordes eingeleitet. | |
Blackberrys beim Aufruhr in Großbritannien: Die böse, böse Brombeere | |
Früher galt er als Pflicht für Manager, doch iPhone & Co. liefen ihm den | |
Rang ab. Nun wird ausgerechnet der Blackberry zum Werkzeug der britischen | |
Randalierer. | |
Über 1.100 Festnahmen nach Krawallen: Straßenschlachten weiten sich aus | |
Die Krawalle in Großbritannien weiten sich aus. In mehreren Städten ist es | |
zu schweren Ausschreitungen gekommen. Hunderte Jugendliche wurden | |
festgenommen. | |
Auslöser für Londoner Krawalle: Mark Duggan hat nicht geschossen | |
Bei der Untersuchung des Todes von Mark Duggan, der am Donnerstag bei einem | |
Polizeieinsatz starb, fand sich kein Hinweis, dass er auf die Polizei | |
geschossen hat. | |
Reportage aus Tottenham: Kein Friede ohne Gerechtigkeit | |
Randalierende Jugendliche, betende Priester, überforderte Polizisten: In | |
Tottenham nahmen die Riots in Großbritannien ihren Ursprung. | |
Kommentar Krawalle in London: Die unregierbare Weltstadt | |
Die britische Regierung reagiert hilflos auf die Gewalt in London, die mit | |
Sozialprotest nichts zu tun hat. Die lokale Zivilgesellschaft reagiert | |
erfindungsreicher. | |
Cameron verdreifacht Polizeikräfte: Erster Toter bei Krawallen in London | |
Ein 26-Jähriger erlag am Dienstag Schussverletzungen, die er sich bei den | |
Unruhen zugezogen hatte. David Cameron nennt die Proteste kriminell und | |
holt sein Parlament aus dem Urlaub zurück. | |
Ausschreitungen in Großbritannien: Sie twittern, randalieren und plündern | |
Liverpool, Birmingham, Bristol – in immer mehr Städten in Großbritannien | |
gibt es Krawalle. "Wir verteilen den Wohlstand um", sagt einer. 334 | |
Personen wurden festgenommen. | |
Brände in fünf Stadtteilen: Krawalle in London eskalieren | |
Randalierer stecken in vielen Stadtteilen Autos und Häuser an. An vielen | |
Stellen brennt es lichterloh. Damit erreichen die Krawalle am Tag drei | |
einen neuen Höhepunkt. Auch Birmingham betroffen. | |
Krawalle in London gehen weiter: Funken der Gewalt in der ganzen Stadt | |
Nach den Unruhen in Tottenham kommt London nicht zur Ruhe: Die Krawalle | |
weiten sich auf andere Viertel aus. Auch am Montagabend wurde wieder | |
gezündelt und geplündert. | |
Kommentar Ausschreitungen in London: London calling | |
Das arrogante Verhalten und die Lügen der Polizei in London haben zur Wut | |
der Anwohner beigetragen. Die Ereignisse erinnern sehr an einen ähnlichen | |
Fall von 1985. |