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# taz.de -- Straßenschlachten in Großbritannien: "Aufstand der Konsumgesellsc…
> Großbritannien wartet darauf, ob Gewalt und Plünderungen in der Nacht
> weitergehen. Ladenbesitzer in London wappnen sich mit Holzscheiten und
> Metallstangen.
Bild: Bloße Kriminalität oder politischer Aufstand? Zerstörtes Wettbüro in …
LONDON taz | "Wir haben eure Gesichter gefilmt, und wir kriegen euch, egal
wie lange es dauert", sagte ein Polizeisprecher am Mittwoch nach [1][vier
Nächten der Gewalt] in britischen Städten. Die britische Polizei und die
Politik finden gegenüber den Randalieren eine klare Sprache. Auch von
"vorgeschobenen" menschenrechtlichen Bedenken werde man sich nicht abhalten
lassen, Bilder aus den Überwachungskameras zu veröffentlichen, sagte
Premierminister David Cameron.
"Die Reaktionen der Politiker sind total vorhersagbar", sagt der Soziologe
Paul Bagguley von der Universität in Leeds im Gespräch mit der taz. "Die
müssen das als bloße Kriminalität abtun." Jeden öffentlichen Versuch, die
Ursachen der Unruhen zu verstehen, würden die Boulevardblätter als
Führungsschwäche auslegen. "Der Boulevard bekommt den Unterschied zwischen
verstehen und rechtfertigen nicht hin", sagt Bagguley.
Die Aufstände hätten sich, sagt Bagguley, inzwischen zu einem breiten
Aufstand der jungen Generation aus ärmeren Bereichen der Gesellschaft
gewandelt. Das sei ein "Aufstand der Konsumgesellschaft". Die zunehmende
Jugendarbeitslosigkeit und die Kürzungen der Leistungen für Eltern und
Jugendliche seien zwar Gründe. Aber die Leute würden mit Werbung
bombardiert für Kleidung und Handys, seien aber nicht in der Lage, sich das
zu leisten. "Die nutzen jetzt die offensichtliche Schwäche der Polizei aus
in der Hoffnung, an diese beworbenen Güter zu kommen", sagt Bagguley.
## Die Gewalt als Symbol
Die [2][Menschen in Tottenham] bestätigen diese Sichtweise. "Die Politiker
sagen, die Unruhen stünden nicht für die Jugend", sagt der 30-jährige Max
Gamrat, der in Tottenham wohnt und aufgewachsen ist. "Müssen denn erst
tausend verhaftet sein, bis man merkt, dass es hier ein Problem gibt?"
Die Gewalt auf den Straßen sei ein Symbol für das, was aus der Gesellschaft
geworden ist. "Die Jungs hier fühlen, dass ihre Bedürfnisse, sich sozial
und wirtschaftlich zu entwickeln, komplett ignoriert werden." Nie sei ein
Politiker nach Tottenham gekommen, um wirklich zuzuhören, beklagt Gamrat.
Für Samstag ist ein Marsch durch Nordlondon geplant, ein Protest gegen die
Kürzungen der Regierung, "die die Krawalle verursacht hat", heißt es in dem
Aufruf zum Planungstreffen. Der Bürgermeister Londons fordert, noch mal zu
überdenken, ob bei der Polizei gespart werden solle.
Währenddessen warten die Briten, ob in der Nacht Gewalt und Plünderungen
weitergehen. David Cameron hat angekündigt, die starke Polizeipräsenz
aufrechtzuerhalten. Erstmals könnten bei Demonstrationen in England auch
[3][Wasserwerfer und Gummigeschosse zum Einsatz] kommen. Aber selbst wenn
es ruhiger wird, "die Probleme sind damit nicht vorbei", sagt Max Gamrat
aus Tottenham.
## Stille Nacht in London
Anders als in Manchester, Birmingham oder Nottingham blieb es in London in
der Nacht auf Mittwoch ruhig. Dort hatten sich die Krawalle seit Samstag
vom nördlichen Stadtteil Tottenham immer weiter über die gesamte
Metropolregion verbreitet. Am Dienstagnachmittag kursierten Gerüchte auf
Twitter, in diesen oder jenen Stadtteilen ginge es wieder los. "Sie kommen
gleich", warnten Ladenbesitzer in Dalston im Norden Londons ihre Kunden und
schlossen die Geschäfte, ließen Metallrollläden herab oder befestigten
Holzplatten vor ihren Ladenfenstern.
Kurz vor Mitternacht, wenn sich die Besucher der Pubs üblicherweise auf den
Heimweg begeben, waren Straßen und Bürgersteige verlassen. Die meisten Pubs
blieben geschlossen, selbst im trendigen Stadtteil Shoreditch, der direkt
nördlich an das Bankenviertel der City grenzt.
In vielen Stadtteilen, wie etwa im südlichen Clapham am Abend zuvor, hatte
die Bevölkerung vergeblich auf Schutz durch die der Polizei gewartet. Als
Boris Johnson, der Bürgermeister Londons, mit den Anwohnern reden wollte,
schlugen ihm die Vorwürfe der Ladenbesitzer so heftig entgegen, dass er das
Gespräch abbrach, obwohl die BBC seinen Auftritt live übertrug.
Die Polizei hatte ihre Einsatzkräfte in London von 6.000 auf 16.000
aufgestockt. Fußpatrouillen standen an größeren Kreuzungen und liefen die
Straßen ab. Am Mittwochmorgen verkündete der konservative Premierminister
David Cameron, es sei belegt, dass das erhöhte Polizeiaufgebot für Ruhe
gesorgt habe.
"Ich glaube die haben vielleicht einfach erst mal genug", sagt der
Mitarbeiter eines Plattenladens in Dalston. Er hat seine Metallrollladen
nur halb heruntergelassen, gebückt kann man den Laden noch betreten, jetzt
schon zu schließen könne er sich nicht leisten, der Laden habe erst vor
vier Wochen eröffnet.
## Rechtsextreme Verteidigung
Ein weiterer Grund für die Ruhe könnte sein, dass die Bevölkerung beginnt,
sich selbst zu verteidigen. Im türkischen Teil Dalstons hatten am
Montagabend gegen halb zehn mehr als hundert Männer und Jugendliche eine
Gruppe von rund zwanzig Randalieren aus dem Viertel gejagt, berichten
mehrere Medien. Auch am Dienstagabend waren sie vorbereitet.
"Schau hier", sagt Mus aus dem Friseursalon Altin Makas, "die Jungs gehören
zu uns", und zeigt auf eine Fünfergruppe, die auf der gegenüber liegenden
Straßenseite entlangschlendert, "und die auch, und die", und deutet auf
Männer vor den Nachbarläden. Hinter ihren Ladentüren haben sie Holzscheite
und Metallstangen bereitgestellt. "Also: kein Problem", sagt Mus.
Die BBC berichtete, dass sich später am Dienstagabend rund 200 Anhänger der
Sikh-Religion vor ihren beiden Tempeln in Westlondon versammelt haben, um
sie zu verteidigen. "Wir arbeiten mit der Polizei zusammen", sagt einer
ihrer Sprecher im Fernsehen. "Aber bisher war hier doch nie Polizei zu
sehen", ruft ein Mann aus dem Hintergrund in das Mikrofon der Reporterin.
Die Bewegung der Bürger, die sich selbst verteidigen, findet jetzt auch
Unterstützer aus einem andern Lager. Der Chef der rechtsextremen English
Defense League (EDL), Stephen Lennon, hat am Mittwoch angekündigt bis zu
tausend [4][Mitglieder ausrücken zu lassen]. Vor allem sollten diese in
Luton, wo die Gruppe sitzt, patrouillieren, aber auch in Manchester und in
anderen Orten werde man auf die Straße gehen. Dass es dabei nicht zu
gewaltsamen Auseinandersetzungen mit randalierenden Jugendlichen kommen
werde, könne er nicht garantieren.
## 1.300 Menschen in Gewahrsam
In Manchester hat die Polizei am Mittwoch rund 50 Menschen verhaftet,
nachdem in der Innenstadt mehrere Geschäfte brannten und mehrere hundert
Randalierer marodierend durch die Straßen gezogen waren. In Nottingham
brannten eine Schule sowie ein Auto vor einer Polizeiwache und Randalierer
warfen Brandsätze, berichtete die Polizei. Sie hat dort 90 Personen
verhaftet.
In Birmingham [5][starben drei Männer] bei einem Autounfall. Nach Angaben
von Augenzeugen in der BBC kamen sie gerade aus der Moschee und wollten die
Gegend vor den Ausschreitungen schützen. In London wurden seit dem Ausbruch
der Krawalle am Wochenende mehr als 110 Polizisten verletzt und rund 770
Menschen verhaftet. Insgesamt wurden im Zusammenhang mit den Krawallen etwa
1.300 Menschen in Gewahrsam genommen.
Auslöser der Krawalle in Tottenham war der Tod des 29-jährigen Mark
Duggans, der von der Polizei während seiner Verhaftung erschossen worden.
Die Untersuchungskommission gab bekannt, dass [6][Duggan selbst keinen
Schuss abgegeben] hatte.
10 Aug 2011
## LINKS
[1] /ber-1100-Festnahmen-nach-Krawallen/!75997/
[2] /Reportage-aus-Tottenham/!75974/
[3] /Strassenschlachten-in-britischen-Staedten/!76034/
[4] /Strassenschlachten-in-britischen-Staedten/!76013/
[5] /Strassenschlachten-in-britischen-Staedten/!76034/
[6] /Ausloeser-fuer-Londoner-Krawalle/!75995/
## AUTOREN
Johannes Himmelreich
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