# taz.de -- Reportage aus Tottenham: Kein Friede ohne Gerechtigkeit | |
> Randalierende Jugendliche, betende Priester, überforderte Polizisten: In | |
> Tottenham nahmen die Riots in Großbritannien ihren Ursprung. | |
Bild: Tottenham is burning: Am Montag Morgen wird von diesem Haus nur noch ein … | |
LONDON taz | Es ist halb drei in der Nacht. In Dalston nordöstlich der | |
Londoner Innenstadt blockieren etwa vierzig Polizisten mit Helmen, Stöcken, | |
Schildern Schulter an Schulter die Kreuzung zu einer Einkaufsstraße, vor | |
ihnen eine Reihe von fünf weiteren Beamten mit bellenden Hunden. Eine | |
Scheibe in einem der Polizeiwagen ist eingeschlagen. | |
Verstreut um eine Bushaltestelle an der Kreuzung stehen etwa dreißig | |
vermummte Gestalten, der Größe nach sind manche höchstens 14 Jahre alt. Sie | |
schauen in verschiedene Richtungen, als wäre nichts. In ihren Kapuzenpullis | |
tragen sie Bierdosen vor sich her. Es sind Schulferien. | |
Zu zweit oder zu dritt streunen sie durch das Viertel, sammeln sich spontan | |
zu größeren oder kleineren Horden, schlendern auf dem Bürgersteig und | |
trennen sich wieder, wenn die Polizei im Schritttempo neben ihnen herfährt | |
und sie durch vergitterte Fenster aus ihren Bussen heraus beäugt. | |
Erst als eine Gruppe einen Kiosk überfällt, Malzbier, Coladosen und | |
Konserventomaten herausschafft, preschen die Polizisten heran und | |
verhaften, wen sie finden: ein unbeteiligtes junges Paar, das auf einem | |
Mäuerchen vor den Sozialwohnungen einen Joint raucht. Die Randalierer | |
scheinen die Gegend gut zu kennen, die Polizei jedenfalls kann sie nicht | |
mehr finden. | |
In Tottenham weiter nördlich, wo am Wochenende alles begann, steht inmitten | |
der Hauptstraße auf einer breiten Verkehrsinsel ein Kreuz. Wenige | |
Laufminuten von hier nach links wohnte Mark Duggan, 29, mit seiner Frau und | |
seinen vier Kindern. Wenige Minuten nach rechts hat ihn die Polizei am | |
Donnerstag erschossen. | |
## Der Wind trägt Brandgeruch herüber | |
Mehr als 100 Menschen drängen sich am frühen Montagabend auf die | |
Verkehrsinsel, um seines Todes zu gedenken. Entlang der Hauptstraße | |
schwelen noch einige Feuer. Wenn der Wind sich dreht, trägt er Brandgeruch | |
herüber. Ein Bagger hat bereits angefangen, ausgebrannte Gebäude | |
abzureißen. | |
Es sind fast ausschließlich Schwarze zum Kreuz gekommen, dazu ein paar | |
weiße Fernsehjournalisten, in der Entfernung eine Gruppe Polizisten. In der | |
Mitte stehen Männer mit Megafon und mehreren schwarzen Prediger, um sie | |
herum scharen sich Jugendliche. Ein Prediger ruft, dass die Gemeinschaft | |
zusammenhalten muss. Es gibt Applaus. Dann kommt der zweite an die Reihe. | |
"Wir wollen Frieden", sagt er. Erste Rufe steigen aus der Menge. "Wir | |
wollen Frieden!", wiederholt der Priester. | |
Ein junger Mann, graue Kapuze und verspiegelte Pilotenbrille, drängt nach | |
vorne und schreit, dass seine Stimme bricht: "No justice, no peace!" – Kein | |
Friede ohne Gerechtigkeit! | |
Die Alten buhen den jungen Mann aus. Er trollt sich wieder. Max nennt er | |
sich, 23 Jahre alt, Vater. "Diese Welt", sagt er und seine Stimme zittert, | |
"das ist doch alles scheiße und korrupt. Die stehlen uns alle | |
Möglichkeiten, aber wenn wir im Laden Süßigkeiten stehlen, dann legen sie | |
uns Handschellen an. Und wieso lassen sie Somalia leiden?" Er atmet tief | |
ein. "Ich brauch ne Pause. Sonst fang ich wieder an zu heulen." | |
Aus der Menge kommen Schreie. Ein Jugendlicher in einer glänzenden | |
schwarzen Daunenjacke hat sich hineingedrängelt, reißt eine TV-Kamera vom | |
Stativ, wirft einen Mann um, rennt weiter, schubst eine Frau zurück. Die | |
Menge weicht vor ihm zurück. Ein Junge fährt mit seinem BMX-Rad zu den | |
Polizisten, die hundert Meter entfernt stehen. Sie sehen ungerührt zu. Auch | |
als der Jugendliche in der Daunenjacke einen Stein in die Menge wirft, | |
nähern sie sich keinen Meter. | |
"Gesegnet sei der Herr", singen die Kirchenmänner. Nachdem ein weiterer | |
Pfarrer einen Psalm vorgelesen hat, geht die Andachtsstunde zu Ende. | |
Inzwischen haben sich auch die Jungen ein Megafon organisiert. Man solle | |
die Polizeistation nochmals angreifen, fordert er. "Jetzt kriegen sie alles | |
zurück!" | |
## Das falsche Stadtviertel im Lebenslauf | |
Etwas abseits lehnt ein zwei Meter großer Hüne an einem Geländer, in | |
schwarzer Lederjacke mit einem Nylontuch auf dem Kopf. Als Bobby Black | |
stellt er sich vor. Steine hat er nicht geworfen, "aber ich sehe keinen | |
Grund, wieso ich das nicht tun sollte". Er habe das kommen sehen. | |
Das Bildungssystem funktioniere zwar, denn Jungs aus Tottenham und aus | |
schlechten Vierteln im Rest Londons könnten zur Uni gehen, aber am Ende | |
sind doch alle arbeitslos und bleiben im Viertel, haben nix zu tun, nehmen | |
Drogen und hängen am Kiosk und im Wettbüro rum. Manche schreiben sechs | |
Bewerbungen pro Woche und bekämen nicht mal eine Antwort, nur weil auf dem | |
Lebenslauf das falsche Stadtviertel steht. Und dazu komme jetzt noch die | |
Rezession. | |
Bobby hat sein BWL-Studium abgebrochen. "Bildung heißt für mich, etwas | |
Wahres zu erfahren", sagt er. Platon solle man lesen." Aber in der Uni | |
erzählen sie dir was von Investitionen und Keynesianismus." In Tottenham | |
sehe man, dass die Wirklichkeit eine andere ist. Eine Weile arbeitete Bobby | |
als Aktienhändler. Er hätte bei einer Bank arbeiten und reich werden | |
können. "Aber bei dem Scheiß will ich nicht mitmachen." Heute arbeitet er | |
im Vertrieb einer Werbefirma. | |
Während er von seinem Leben erzählt, stehen in anderen Stadtteilen Londons | |
Gebäude in Flammen, Geschäfte werden ausgeraubt. "Ich heiße das nicht gut", | |
sagt Bobby, aber man müsse verstehen: "Die Werbung hier an allen | |
Bushaltestellen erzählt den Kids, du brauchst ein iPad, du brauchst ein | |
cooles Handy. Wenn sie dann die Gelegenheit hätten, wären sie ja doof, sie | |
nicht zu nutzen. Ich bin froh, dass das hier endlich passiert", sagt er und | |
hofft, es ginge noch ein paar Wochen so weiter. Dann würden die Politiker | |
irgendwann verstehen müssen, was in den Kids in Tottenham vorgeht. | |
Spät in der Nacht ist Tottenhams breite Hauptstraße, die ins Zentrum von | |
London führt, so gut wie verlassen. In einer Seitenstraße steht ein | |
ausgebrannter Bus. Manche Scheiben sind eingeschlagen, andere sind vom | |
Rauch geschwärzt. Ein Polizeiauto steht dahinter, die Streife erledigt | |
Papierkram. Von Sonntagmittag bis Montagfrüh waren sie im Einsatz, erzählt | |
der Beamte; Montagmittag ging es wieder los, jetzt ist die Nacht schon fast | |
vorbei. "Bis wir Feierabend machen können, ist es mindestens wieder acht | |
Uhr", seufzt er. | |
9 Aug 2011 | |
## AUTOREN | |
Johannes Himmelreich | |
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