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# taz.de -- Vergleich Berlin-New York: „Der Mieten-Protest ist existenziell“
> Berlins Initiativen gegen Verdrängung können viel vom Protest in New York
> lernen, sagt Lisa Vollmer, die beide Bewegungen vergleicht.
Bild: Protest für finanzierbare Mieten in New York
taz: Frau Vollmer, Sie vergleichen die aktuellen Mietenproteste in Berlin
und New York. Was haben beide Städte gemeinsam?
Lisa Vollmer: Beides sind Mieterstädte: In Berlin sind 80 Prozent der
Wohnungen Mietwohnungen, in New York sind es 65 Prozent. Das ist für
US-Verhältnisse sehr hoch.
Und was unterscheidet beide Städte voneinander?
Zum einen ist die neoliberale Politik in New York viel weiter. Deshalb ist
der Wohnungsmarkt dort auch sehr viel segregierter. Es gibt Stadtteile, die
zu 90 Prozent von Schwarzen oder Puerto Ricanern bewohnt werden. Zum
Beispiel in den Stadtteilen des öffentlichen Wohnungsbaus, sogenannte
Housing Projects: Backsteinhochhäuser, 20 Stockwerke, mittlerweile völlig
verfallen. In diesen Vierteln ist die Armut sehr hoch. Außerdem ist die
rechtliche Situation in New York bodenlos: Dort gibt es nur für die Hälfte
aller Wohnungen überhaupt Regulierungen wie etwa eine Obergrenze der
Mieten.
Dennoch forschen Sie über beide Städte. Warum?
Mich interessiert, wer sich an den Mieterprotesten beteiligt und warum. Vor
zwei Jahren war ich in Berlin privat auf einer Mietenstopp-Demo. Es war
längst klar, dass die Stadt mitten in einer Wohnungskrise steckt. Aber dass
mehr als 3.000 Leute auf der Straße waren, dass es eine so breite Koalition
aus mittlerweile sogar 70 einzelnen Mieterprotestgruppen über alle
gesellschaftlichen Grenzen hinweg gibt, das hat mich schon überrascht.
Daraus entstand die Frage, wie sich solche Koalitionen formieren – und
inwiefern die radikale Linke und die Antifa auf einmal mit
Nachbarschaftsinitiativen wie Kotti & Co zusammenarbeiten, die sich selbst
als nicht politisch bezeichnen.
Wie kam New York ins Spiel?
Dort gibt es schon sehr viel länger Proteste gegen die Wohnungspolitik. Ein
Beispiel einer Betroffenengruppe sind die „Sunset Park Rent Strikers“,
darunter sind viele sehr arme Bewohner mit lateinamerikanischem Hintergrund
(siehe Kasten). In beiden Städten ist auch das Spektrum der
Unterstützergruppen sehr breit. Letzteres reicht von Rechtsberatungen und
Nachbarschaftsinitiativen bis hin zu linksaktivistischen Gruppen, die so
ihre Probleme mit der ganzen Situation haben.
Inwiefern?
In Berlin versucht die linke Szene seit einigen Jahren, sich konkreter den
städtischen Kämpfen anzuschließen. Da gibt es schon ideologische
Hindernisse, wenn Kotti & Co sagt: „Wir sind aber eher pragmatisch.“ Es
geht um die Sache und nicht um die Ideologie. Daraus entstehen Konflikte:
Soll man mit dem Senat reden? Oder gar zusammenarbeiten? Oder verweigern
wir uns dem ganz, weil die Linkspartei ja für große Teile der
Wohnraumprivatisierung mitverantwortlich war? Ähnliche Konflikte gibt es
auch in New York.
Also gleichen sich die Bewegungen in Berlin und New York strukturell?
Es gibt auch große Unterschiede. In New York, überhaupt in den USA, gibt es
zum Beispiel eine sehr lange Tradition, dass sich betroffene Gruppen selbst
organisieren – Community Organizing nennt sich das. Diese Gruppen sind
mittlerweile sehr professionalisiert und haben auch Gelder über Stiftungen
oder Spenden zur Verfügung. Damit gibt es eine gewisse Konstanz in der
Organisation. Das ist in Berlin anders. Wer kann so eine selbst
organisierte Nachbarschaftsinitiative überhaupt machen? Das ist ja
unglaublich zeitintensiv. Da muss man deshalb fragen: Sind das deshalb
alles linke Aktivisten ohne Lohnarbeit? Oder Leute, die zwar Jobs haben,
sich dafür aber die Nächte um die Ohren schlagen?
Eine weitere Gemeinsamkeit beider Städte ist, dass einige Gruppen sehr
migrantisch geprägt sind.
Der Anteil derjenigen mit migrantischem Hintergrund in den Berliner
Protestgruppen ist gar nicht so hoch – es ist vor allem bei Kotti & Co der
Fall. Und auch dort geht es primär nicht ums Migrantsein, sondern um das
Mietersein. Aber im symbolischen Wert, in der Wahrnehmung, ist das
Migrantsein sehr wichtig und hat dazu geführt, dass ein breites
öffentliches Interesse an den Protesten entstand. Die Leute sagen: In den
60er, 70er Jahren wurden wir dazu gezwungen, hier zu wohnen, in unsanierten
Wohnungen, im unattraktiven Westberliner Randgebiet Kreuzberg. Wir haben
das Viertel zu dem gemacht, was es ist, kulturell und ökonomisch – und
jetzt sollen wir gehen?
Wie ist das in New York?
Der Diskurs um Minderheiten und Minderheitenpolitik ist in den USA viel
älter. Dort wird das seit der Bürgerrechtsbewegung als identitäres Merkmal
in den Vordergrund gestellt. Die Legitimation der Proteste ist aber
ähnlich. Auch dort sagen manche Gruppen: Uns wurde und wird aus
rassistischen Gründen kein Recht zugestanden, auf dem normalen
Wohnungsmarkt überhaupt Fuß zu fassen. Und nun sind genau unsere Viertel
plötzlich Filetstücke der Stadt und extrem begehrt: Am East River ist das
so, in der Lower East Side, in Harlem. Leider werden die Proteste in New
York sehr viel weniger öffentlich wahrgenommen. Auch die Medien berichten
noch weit seltener, außer sehr kleinen linken oder sehr lokalen Zeitungen.
Was mich extrem schockiert hat, ist, wie existenziell die Proteste deshalb
zum Teil sind.
Was heißt das genau?
Auf einer Demo in New York skandierte eine Gruppe: „But we are human, we
are human!“ Die Stigmatisierung geht so weit, dass das erst einmal
klargestellt werden muss: Wir sind Menschen! Wir haben ein Recht auf
Wohnen! Das hängt auch mit dem Diskurs darüber zusammen, ob der Staat sich
überhaupt um Mieten und Subventionierung zu kümmern hat. Trotzdem habe ich
mich die ganze Zeit gefragt, warum auch die Forderungen der Demonstranten
dort so minimal sind. Und dann ist mir klar geworden: Wenn die Situation so
verzweifelt ist wie in New York, dann wird der Horizont des Möglichen
extrem klein. Wenn das Gefühl, unterworfen zu sein, so groß ist wie dort –
dann sind die Forderungen weniger radikal.
Und in Berlin?
Da ist der Blick breiter. In New York wird das große Bild einfach nicht
transportiert. Dort ist es durch den stark segregierten Mietenmarkt
offenbar sehr schwierig, so weit zu denken, dass die jeweiligen Probleme
miteinander zu tun haben könnten. Verschiedene Mietergruppen haben
verschiedene rechtliche Möglichkeiten, sich zu wehren. Dadurch sind eine
Politisierung und Abstraktion der Thematik strukturell sehr erschwert.
Außerdem ist die Schere zwischen Arm und Reich noch viel extremer als in
Berlin. Es gibt auch keine gemeinsame Plattform wie in Berlin, auf der alle
Demos oder Aktionen aufgeführt werden. Die Mieterbewegung ist dort sehr
gespalten. In Berlin ist es zwar so, dass zum Beispiel Kotti & Co mit einem
sehr spezifischen Problem innerhalb des sozialen Wohnungsbaus zugange sind.
Auch Zwangsräumungen sind ein spezifisches Problem. Aber trotzdem wird das
als Ausdruck einer großen Entwicklung wahrgenommen und dargestellt.
Aber Zwangsräumungen sind ja auch die Spitze des Eisbergs.
Das ist so, ja. Aber es muss erst mal geschafft werden, das auch so zu
kommunizieren: Schaut her, das ist nicht nur das individuelle Problem von
Leuten, die sich nicht genügend angestrengt haben – sondern es ist ein
strukturelles Problem. In New York sind die Probleme auch strukturell, aber
es wird nicht geschafft, das zu kommunizieren. Das ist das, was mich
interessiert: Wie schafft man diese Kommunikation? Welche Bedingungen
braucht es dafür?
Und welche braucht es?
Die große Antwort darauf habe ich noch nicht. Aber in Berlin ist die
Situation so, dass die Stadt wegen ihrer geteilten Geschichte eine sehr
verzögerte Entwicklung in der Neoliberalisierung des Wohnungsmarktes
durchgemacht hat. Dafür passiert das jetzt allerdings umso radikaler: Die
Mietsteigerungen sind extremer, die Umwandlung in Eigentum geschieht
schneller. Die Situation ist dadurch deutlich wahrnehmbar, fühlbar. Das
müsste nun nicht automatisch zu Protesten führen. Aber Kreuzberg hat eine
gewisse Tradition, was linken Aktivismus angeht. Und zudem spielen die
politischen Strukturen eine wichtige Rolle: Dass der Bezirk so etwas wie
das Camp von Kotti & Co erlaubt, macht viel Aufmerksamkeit erst möglich.
Dann müssen die Gruppen auch klug an bestehende Diskurse anknüpfen und
gekonnt Gegenstandspunkte aufbauen.
Gibt es Proteststrategien, die von der einen auf die andere Stadt
übertragbar sein könnten?
Für Berlin ist zum Beispiel interessant, wie professionell sich betroffene
Gruppen in New York selbst organisiert und dafür auch über die Jahre
finanzielle Strukturen aufgebaut haben.
Welche Erfolge hatten die Mietenproteste in Berlin und New York bisher?
Man kann natürlich sagen: Sie hatten wenig Erfolg, weil die Forderungen in
beiden Städten nicht erfüllt wurden. Ich würde für Berlin aber sagen: Hier
wurde ein öffentliches Bewusstsein hergestellt und die Frage nach Wohnraum
repolitisiert. Das stand ja lange nicht auf der Agenda. Außerdem ist
wichtig, dass die migrantisch geprägte Generation nun öffentlich als
politischer Akteur wahrgenommen wird. Und drittens gibt es wieder eine
Organisationsstruktur, die auch für andere Themen genutzt werden kann. Eins
zu eins übertragbar ist so etwas natürlich nicht auf New York. Aber ich
habe die Erfahrung gemacht, dass es viele New Yorker inspirierend fanden,
von den hiesigen Erfolgen zu hören.
8 Jan 2014
## AUTOREN
Patricia Hecht
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