| # taz.de -- Zum Todestag von Hans-Christian Ströbele: „Wir brauchen eine eig… | |
| > Vor einem Jahr starb Hans-Christian Ströbele. Unser Autor hat kurz vor | |
| > seinem Tod mit ihm über die wilden Gründungsjahre der taz gesprochen. | |
| Vergeistigt wirkte Hans-Christian Ströbele im Sommer vergangenen Jahres, | |
| nach zehn Jahren mit zwei unheilbaren Krankheiten. Engelsweiß die langen | |
| Haare, die Haut dünn wie Pergament, aber die Stimme fest und fröhlich. | |
| Hinter dem massiven Schreibtisch seines Arbeitszimmers mit Blick auf die | |
| Spree, unter einem vier Meter hohen Regal gefüllt mit Aktenordnern, rollte | |
| er auf seinem Stuhl hin und her und sprach über die Politik und sein Leben | |
| – wobei das für ihn eigentlich dasselbe war. | |
| Im März 2022 hatte ich damit begonnen, ihn mindestens einmal im Monat zu | |
| besuchen und zu befragen. Über sein politisches Erwachen 1967 in | |
| West-Berlin, sein Leben als Anwalt, die Konsequenzen aus dem russischen | |
| Überfall auf die Ukraine und natürlich auch über die Gründung der taz. | |
| Denn kennengelernt hatte ich ihn Anfang 1978, mehr als ein Jahr bevor wir | |
| die taz täglich produzierten, in der West-Berliner taz-Ini. Er hatte sich | |
| schon ein Jahr lang mit einem kleinen Kreis undogmatischer Linker | |
| getroffen, um den Traum der 68er von einer kritischen linken Tageszeitung | |
| zu verwirklichen, und nach dem [1][euphorischen Tunix-Kongress] im Januar | |
| 1978 war ordentlich Schwung in das Projekt gekommen. Eine linksradikale, | |
| grüne Tageszeitung wäre auch ohne ihn gegründet worden, die Verwirklichung | |
| dieser Idee lag einfach in der Luft in den Jahren nach der Entstehung der | |
| [2][Anti-Atom-Bewegung], der Neuen [3][Frauenbewegung] oder auch der | |
| [4][Schwulenbewegung]. | |
| Aber Christian, wie wir ihn nannten, war die wichtigste Person im | |
| taz-Gründerkreis, zu dem Initiativen in 30 Städten mit insgesamt mehreren | |
| hundert Menschen gehörten. Er war als furchtloser Anwalt der Kommunarden | |
| Dieter Kunzelmann und Fritz Teufel bekannt, als Verteidiger von Andreas | |
| Baader, Gudrun Ensslin und anderen Gründern der Rote Armee Fraktion. | |
| Bei der gemeinsamen Aufbauarbeit war er solidarisch, ohne Führungsanspruch, | |
| ein erfrischender Teamplayer und Pragmatiker, gleichzeitig prinzipientreu. | |
| Wenn wir Jüngeren uns in Kontroversen verrannten, holte er uns auf den | |
| Boden zurück oder wartete, bis wir uns abgeregt hatten. | |
| Am 23. Mai 2022 und noch mal am 20. Juni 2022 haben Christian und ich | |
| gemeinsam versucht, die Anfänge der taz zu rekonstruieren. Christian, der | |
| als Jurist immer für eine ordentliche Aktenführung gesorgt hatte, ging noch | |
| mal in seine Unterlagen, um bestimmte Vorgänge und Erinnerungen zu | |
| verifizieren. | |
| Auf dieser Grundlage ist das folgende Gespräch entstanden, das er danach | |
| noch zwei Mal korrigierte. Es ist ein historisches Zeugnis über die ersten | |
| wilden Jahre dieser Zeitung bis zur [5][Gründung der taz-Genossenschaft] | |
| 1991. | |
| Anfang Juli vergangenen Jahres wollten wir uns erneut treffen, um noch ein | |
| paar Einzelheiten der taz-Historie zu vertiefen, doch dazu kam es nicht | |
| mehr. Christian war im Badezimmer gestürzt und hatte sich schmerzhafte | |
| Brüche zugezogen, von denen sich sein geschundener Körper nicht mehr | |
| erholte. Am Morgen des [6][29. August 2022] starb er in seiner Wohnung in | |
| Berlin-Moabit. | |
| Auch, um an den beeindruckenden Politiker und Menschen Christian Ströbele | |
| zu erinnern, der für die taz so wichtig war und dem die taz so wichtig war, | |
| veröffentlichen wir dieses Gespräch. | |
| wochentaz: Christian, wann und von wem wurde die Idee einer linken | |
| Tageszeitung geboren? | |
| Hans-Christian Ströbele: Die Idee einer linken Tageszeitung gab es seit den | |
| 60er Jahren. [7][Fritz Teufel] hat das in einem 1978 für den „Prospekt: | |
| Tageszeitung“ verfassten Brief aus dem Gefängnis sehr schön formuliert. Er | |
| schrieb: „Eine neue Zeitung ist die Frau meiner Träume seit 67. Die Frau | |
| meiner Träume macht alle glücklich. Sie fegt Mauern weg wie nix. | |
| Ghettomauern, Knastmauern und das Monstrum vom dreizehnten August. Sie | |
| enteignet Springer durch Abspenstigmachen der Leser. Sie wird von Frauen, | |
| Kindern, Türken, Indianern, Studenten, Gefangenen und anderen Rentnern, von | |
| Lohn- und Drogenabhängigen für ihresgleichen gemacht. Olle Gutenberg kann | |
| endlich aufhören, im Grabe zu rotieren, und anfangen sich zu freuen, daß er | |
| die schwarze Kunst erfunden hat. Karl Valentin wird eine Kolumne kriegen | |
| und falls der schon tot sein sollte, vielleicht auch ich. Die Frau meiner | |
| Träume wird’s nicht leicht haben.“ | |
| Fritz Teufel saß als Mitglied der „Bewegung 2. Juni“ im Knast, danach | |
| arbeitete er zur Resozialisierung bei der taz im Satz. Im Frühjahr 1981 | |
| verfasste er einen Aufruf zu einem Aktionstag der Hausbesetzer, der uns | |
| eine ordentliche Razzia durch die Polizei einbrachte. Er schrieb ihn | |
| zusammen mit [8][Plutonia Plarre], die heute noch als Reporterin für den | |
| Berlin-Teil der taz arbeitet. | |
| Fritz Teufel hat gerne provoziert. 1967 hat er, wie wir alle von der | |
| Außerparlamentarischen Opposition, der APO, ungeheuer unter der feindlichen | |
| und einseitigen Berichterstattung der etablierten Medien über uns gelitten. | |
| Deren Journalisten haben nicht darüber berichtet, was wir politisch wollten | |
| und was wir an den bestehenden Verhältnissen kritisierten, was unsere | |
| Auffassungen waren. Sie haben ein Zerrbild der antiautoritären Bewegung | |
| konstruiert. Neben den Zeitungen gab es ausschließlich | |
| öffentlich-rechtliches Radio und Fernsehen, Staatsmedien, die zu dieser | |
| Zeit viel intensiver von der Politik kontrolliert und gegängelt wurden als | |
| heute. Es existierte kein Internet, in dem sich alle nach Lust und Laune | |
| äußern können. | |
| Ihr habt die Presse als Gegner erlebt. | |
| Als feindlich. Unser größter Feind war der Hamburger Verleger Axel | |
| Springer, mit seiner Bild-Zeitung und der in West-Berlin noch wesentlich | |
| auflagenstärkeren B.Z., die nahezu alle Arbeiter lasen. Die | |
| Springerzeitungen haben von Anfang an gegen die Gammler und Studenten, die | |
| sie „FU-Chinesen“ nannten, gehetzt und Rudi Dutschke, den Kopf der | |
| Bewegung, als dämonischen Bürgerschreck aufgebaut. Der Sozialistische | |
| Deutsche Studentenbund (SDS) – Peter Schneider, Hans-Joachim Hameister und | |
| andere – organisierten deshalb ein Springer-Tribunal, die Parole hieß: | |
| „Enteignet Springer!“ Nach dem Attentat auf Rudi Dutschke an Ostern 1968 | |
| war es überhaupt keine Frage, dass wir zur West-Berliner Springer-Zentrale | |
| in der Kochstraße zogen – heute dank der taz, der Grünen und der Linken | |
| Rudi-Dutschke-Straße –, um die Auslieferung der Bild-Zeitung und der B.Z. | |
| zu verhindern. | |
| War die gesamte Presse, die gesamte Öffentlichkeit in den 60er Jahren ein | |
| monolithischer Block? | |
| Im Stern, in der Zeit oder im Spiegel gab es gelegentlich Artikel, die | |
| einigermaßen fair oder nicht diffamierend und feindlich, aber auch ziemlich | |
| distanziert waren. Die 68er-Bewegung hatte keine eigene Stimme, mal | |
| abgesehen vom Extra-Dienst, der linkssozialdemokratisch, gewerkschaftlich | |
| und DDR-freundlich war, und der 883, einem anarchistischen Szeneblatt. Alle | |
| waren sich einig: Wir brauchen eine eigene Publikation. Wir brauchen eine | |
| eigene Zeitung. | |
| Ihr wart nicht die einzigen, die sich an der Medienmacht von Springer | |
| stießen. Dem liberalen Hamburger Spiegel-Gründer und Eigentümer Rudolf | |
| Augstein gefiel es auch nicht, dass der Springer-Verlag an die 70 Prozent | |
| des Tageszeitungsmarktes in West-Berlin kontrollierte. | |
| Augstein hat deshalb ein Projekt von linken Journalisten finanziert, die | |
| eine populäre linke Zeitung machen wollten, eine Art Gegen-Bild-Zeitung. | |
| Extrablatt lautete der Arbeitstitel, ich habe noch ein paar Ausgaben hier | |
| oben im Regal liegen. Aber Augstein fand die ersten Nummern so | |
| unprofessionell, dass er das Projekt bald nicht weiter unterstützte. | |
| Wie kam es 1978 zur Entstehung der Initiativen, die die taz gründeten? | |
| Das lag nicht zuletzt an zwei Leuten, an [9][Max Thomas Mehr] und mir. Max | |
| gehörte zum Kollektiv eines linken Buchladens, des „Politischen Buchs“ in | |
| der Lietzenburger Straße. Das Büro unseres Sozialistischen | |
| Anwaltskollektivs in der Meierottostraße lag nicht weit davon entfernt. Ich | |
| ging ab und zu ins Pol-Buch, um dort Bücher zu kaufen und einen Kaffee zu | |
| trinken, so lernte ich Max kennen. Und als wir uns mal wieder über die | |
| tendenziöse Berichterstattung der bürgerlichen Medien ärgerten, sagten wir: | |
| Mensch, man müsste doch endlich eine linke Tageszeitung gründen, die dem | |
| etablierten Mainstream etwas entgegensetzt. | |
| Wann war das? | |
| In meinem Terminkalender des Jahres 1976 findet sich für Donnerstag, den 2. | |
| Dezember, um 18 Uhr der Eintrag „Zeitungstreffen“. Etwa einmal im Monat | |
| trafen wir uns im Büro des Anwaltskollektivs, maximal zehn Leute kamen, | |
| manchmal saßen aber auch Max und ich alleine da. Wer außer uns noch | |
| mitdiskutierte, erinnere ich kaum mehr, das wechselte auch ständig. Annette | |
| Eckert, die später bei der taz als Kulturredakteurin arbeitete, war dabei. | |
| Und der Schriftsteller Wolfgang Dreßen; Thomas Krüger, Dozent am Institut | |
| für Publizistik. Mein Anwaltskollege Klaus Eschen, mal auch meine Frau | |
| Juliana. Aber die beiden blieben dann weg. | |
| Warum? | |
| Weil es ihnen zu blöde war, immer zu hören: Man sollte mal, man müsste mal. | |
| Wir fragten uns: Wer könnte uns das Geld für eine linke Tageszeitung geben? | |
| Linke Journalisten? Gibt es die überhaupt? Müssen wir die ausbilden? | |
| Gleichzeitig trauten wir es uns zu, eine Tageszeitung auf die Beine zu | |
| stellen, denn es waren schon eine ganze Reihe von linken Unternehmen in | |
| West-Berlin und anderswo gegründet worden, Buchläden, Kneipen, | |
| Taxikollektive. Warum also nicht auch eine Tageszeitung? | |
| Wie sah euer Konzept aus? Was sollte anders gemacht werden als in der | |
| etablierten Tagespresse, den bürgerlichen Zeitungen? | |
| Was in der neuen Zeitung stehen sollte, das war nicht wirklich klar, und | |
| unsere Vorstellungen davon waren auch widersprüchlich. Einerseits sollte | |
| die Zeitung abbilden, was in der linken Szene diskutiert wurde, was | |
| anderswo nicht veröffentlicht wurde, was verboten war. Politische Gruppen | |
| sollten auch zu Wort kommen, aber nicht mit endlosen Erklärungen. | |
| Andererseits sollte die Zeitung, was Aufmachung, Themen und Sprache | |
| anbelangt, auch Menschen außerhalb der linken Szene ansprechen. Die neue | |
| Zeitung sollte kein reines Szeneblatt sein. Wir wollten jeden Tag ein | |
| besonders aussagekräftiges Foto veröffentlichen, das gab es immerhin als | |
| „Augenblicke“ bis zu einer Layout-Reform 2005. | |
| Habt ihr euch auch mit den wirtschaftlichen und technischen Aspekten der | |
| Produktion einer Tageszeitung beschäftigt? | |
| Zunächst kaum, deshalb war ein Treffen der Gruppe sehr wichtig, zu dem Max | |
| den erfahrenen Journalisten Jörg Mettke eingeladen hatte, den | |
| West-Berlin-Korrespondenten des Spiegels. Als Profi sollte er uns Amateure | |
| beraten, wie man genau eine Tageszeitung gründet, wie das praktisch | |
| funktionieren könnte. Mettke sagte, man brauche natürlich Journalisten, | |
| aber auch einen Verlag, der den Vertrieb organisiert, sowie eine Druckerei, | |
| und vor allem brauche man Geld, viel Geld. Eine Million Mark, sagte er. Das | |
| war damals unvorstellbar viel. Wir hielten dagegen, dass wir nicht so viel | |
| bräuchten, weil wir sowieso umsonst arbeiten würden. Es dachte niemand | |
| daran, Geld mit dieser Zeitung und der Arbeit für diese Zeitung zu | |
| verdienen; wir sahen eine solche Zeitungsgründung als politisches Projekt. | |
| Aber das Wort von der Million wirkte schon ziemlich desillusionierend. Ich | |
| dachte insgeheim: Vielleicht gründen wir doch lieber erst mal eine | |
| Wochenzeitung. | |
| Zur geläufigen Erzählung über die taz gehört, dass ihre Gründung dem | |
| Deutschen Herbst 1977 zu schulden sei. Die taz sei der Versuch gewesen, der | |
| Nachrichtensperre über die Schleyer-Entführung etwas entgegenzusetzen, der | |
| sich die etablierten Medien freiwillig unterworfen hatten. | |
| In den Monaten nach dem Oktober 1977 war die Repression gegen die radikale | |
| Linke besonders heftig. Aber diese Situation war lediglich eine Art | |
| Katalysator, der die Gründung einer linken Tageszeitung befördert und | |
| beschleunigt hat. | |
| Wie wirkte sich das konkret auf eure kleine Gruppe aus? | |
| Wir empfanden die Notwendigkeit einer linken Zeitung als größer denn je, | |
| aber auch die Bedingungen, sie in so einer repressiven Situation auf die | |
| Beine zu stellen, als schwieriger denn je. Was unser Berliner Kreis im | |
| Oktober 1977 gar nicht mitgekriegt hatte: Damals diskutierten auf der | |
| Frankfurter Buchmesse Spontis aus verschiedenen westdeutschen Städten über | |
| die von allen Medien nach Aufforderung durch die Bundesregierung | |
| praktizierte Nachrichtensperre in Sachen RAF. Sie sprachen auch über die | |
| Notwendigkeit von kritischer Gegenöffentlichkeit gegen eine solche | |
| Gleichschaltung der Medien. | |
| Wer war dabei? | |
| Genossen der Zeitschrift Autonomie, der Hamburger Arzt und Theoretiker | |
| Karl-Heinz Roth, der vormalige Frankfurter Asta-Vorsitzende [10][Thomas | |
| Hartmann], der später eine wichtige Rolle bei der Gründung der taz spielte | |
| und heute noch die taz-Reisen organisiert; Thomas Schmid, später | |
| Chefredakteur von Springers Welt, Dany Cohn-Bendit, Leute vom Münchner | |
| Trikont-Verlag. Von einer Frankfurter Tageszeitungsinitiative hörte ich | |
| dann erst Ende des Jahres 1977. Sie sollte schon viel weiter und wesentlich | |
| professioneller sein als wir, hieß es. | |
| Ende Januar 1978 versammelten sich Tausende von Spontis an der Technischen | |
| Universität in West-Berlin zum „Treffen in Tunix“. Der Wille zum Aufbruch | |
| war enorm. Im Programm des dreitägigen Kongresses war eine Veranstaltung | |
| „Linke Tageszeitung in der BRD (Ströbele, Günter Wallraff, Lotta Continua | |
| und Alternativzeitungen)“ angekündigt, wobei Wallraff nicht auftauchte und | |
| auch kein Vertreter der italienischen linksradikalen Tageszeitung Lotta | |
| Continua. | |
| Aber diese Podiumsdiskussion war die erste öffentliche Veranstaltung zum | |
| Tageszeitungsprojekt. Zu den Tunix-Organisatoren zählten auch meine | |
| späteren Anwaltskollegen Stefan König und Johnny Eisenberg. Auf dem Podium | |
| im mit 3.000 Leuten völlig überfüllten Audi-Max saßen Max Thomas Mehr und | |
| ich, für die Berliner Gruppe, Hannes Winter vom Frankfurter ID, dem | |
| Informationsdienst für unterbliebene Nachrichten, Achim Meyer von der | |
| alternativen Münchner Stadtzeitung Blatt und Jean-Marcel Bouguereau von der | |
| Pariser Libération, einer 1973 von Jean-Paul Sartre und anderen gegründeten | |
| Tageszeitung, in der linke Intellektuelle wie Michel Foucault schrieben. | |
| Die Stimmung bei der Tunix-Veranstaltung war ungeheuer euphorisch. Alle | |
| wollten etwas tun. Alles schien möglich. | |
| Der [11][Elan von Tunix] brachte das Tageszeitungsprojekt in Schwung. Ich | |
| persönlich hatte schon von Münchner Genossen etwas davon erfahren und | |
| schloss mich der West-Berliner Tageszeitungsinitiative an. | |
| Wir trafen uns nicht mehr im Büro des Anwaltskollektivs, sondern im | |
| Neuköllner Lehrerzentrum in der Hermannstraße. Dort tauchten neben anderen | |
| Gitti Hentschel auf, später Leiterin des Gunda-Werner-Instituts in der | |
| Heinrich-Böll-Stiftung, Vera Gaserow, die als freie Mitarbeiterin der | |
| Frankfurter Rundschau eine der ganz wenigen war, die schon ein wenig | |
| journalistische Erfahrung hatte. Und Armin Meyer, ein intellektueller | |
| Taxifahrer, der ein paar Jahre später im Berliner Häuserkampf so etwas wie | |
| der Stratege der Autonomen wurde. Spontis von der Uni, junge Leute wie du, | |
| Ute Scheub, Andreas Rostek, Stefan Schaaf, Rainer Berson. Und ziemlich | |
| schweigsam, wie auch meist später, Karl-Heinz Ruch beziehungsweise Kalle, | |
| der zum langjährigen erfolgreichen Geschäftsführer der taz werden sollte. | |
| Ganz schön viele. | |
| Dank der Tunix-Veranstaltung kamen jetzt zwanzig, dreißig Leute zu den | |
| Treffen. Max und ich machten uns schon Sorgen, dass die ganze Sache aus dem | |
| Ruder laufen und von maoistischen Kadern unterwandert werden könnte. | |
| Aber das geschah nicht, die Angst war unbegründet. Wie ging es dann weiter? | |
| Nach den Treffen der taz-Ini gingen wir oft in die Osteria No. 1, eine | |
| Kneipe von italienischen Genossen am Fuße des Kreuzbergs. Aus meinen | |
| Unterlagen ergibt sich, dass ich dort am 23. Februar 1978 mit vier Männern | |
| und zwei Frauen zusammensaß und wir den Verein „Freunde der alternativen | |
| Tageszeitung e. V.“ gründeten. Der Name „Freunde der alternativen | |
| Tageszeitung“ stammte von mir beziehungsweise aus einem meiner | |
| Lieblingsfilme, „Some Like it Hot“ von Billy Wilder, in dem amerikanische | |
| Mafiosi unter Führung von Al Capone als „Freunde der italienischen Oper“ | |
| firmieren. Unseren ehrenwerten Verein ließ ich ordentlich beim Amtsgericht | |
| Charlottenburg ins Vereinsregister eintragen, am 9. März 1978, gegen eine | |
| Gebühr von 107,90 DM. | |
| Der neue Verein brauchte Räumlichkeiten. | |
| Am 24. April 1978 unterschrieb der Vorstand des Vereins der Freunde der | |
| alternativen Tageszeitung e. V. einen Gewerbemietvertrag mit einer | |
| Erbengemeinschaft aus Hildesheim für ein „Presse-Büro“ in der Suarezstra�… | |
| 41 in Charlottenburg. Die Mietsache bestand aus: „Vorderhaus, Parterre | |
| rechts, Laden mit anschließenden drei Nebenräumen, sowie links im | |
| Souterrain ein weiterer Raum. Daneben ein Kellerraum unter dem Laden sowie | |
| ein Lagerkeller mit separatem Eingang von der Straßenseite. Die Fläche ist | |
| mit 101 qm vereinbart.“ Die monatliche Miete betrug 354,33 Mark. In dem | |
| Laden saß dann Peter Köker mit einem Holzkasten mit kleinen Karteikarten | |
| drin, auf die er jeweils Namen und Adresse der Leute getippt hatte, die die | |
| noch nicht existierende Zeitung vorab abonniert hatten. Das waren anfangs | |
| viel zu wenige. | |
| Wir versuchten die Zeitung mit Crowdfunding, wie man das heute nennen | |
| würde, zu finanzieren. | |
| Es galt, unser Projekt bekannt zu machen. In der linken Szene und darüber | |
| hinaus. Im April 1978 brachten die taz-Initiativen deshalb den „Prospekt: | |
| Tageszeitung“ heraus. | |
| … wo dann auch der Brief von Fritz Teufel aus dem Gefängnis erschien. | |
| Rudi Dutschke erklärte darin aus dem Exil im dänischen Aarhus: „Bei dem | |
| miserablen Zustand – verglichen mit der internationalen Situation – der | |
| deutschen Öffentlichkeit, wo nichts offen und wo kein Licht ist, daß da | |
| eine Zeitschrift, eine Tageszeitschrift überfällig ist, ist keine Frage.“ | |
| Günter Wallraff meinte: „Es müßte erstmal eine Gegenzeitung geschaffen | |
| werden, die alles bringt, das woanders nicht mehr kommt. Und nicht nur von | |
| einer Linksaußen-Position getragen – das politische Bekenntnis braucht | |
| nicht in jedem Artikel mitschwingen.“ Und er sagte auch: „Eine große und | |
| überregionale Tageszeitung auf die Beine zu stellen, kostet 80 Millionen | |
| Mark.“ Viele 68er waren eher skeptisch. Der Ex-SDS-Mann Tilman Fichter | |
| unkte, „daß unglaublich viele Genossinnen und Genossen nicht belastbar sind | |
| und auch dann, wenn sie sich wirklich anstrengen, so etwas einfach nicht | |
| hinkriegen“. Falls diese Tageszeitung tatsächlich erscheinen würde, so | |
| Fichter, wäre sie „so etwas wie ein 7. Weltwunder“. | |
| Wie kam es zu dem nicht sonderlich prickelnden, im Grunde inhaltsleeren | |
| Namen „Die tageszeitung“? | |
| Bei einem nationalen Treffen der taz-Inis im Schloss Trautskirchen bei | |
| Nürnberg, wo ein Künstlerkollektiv residierte, wurde 1978 der Name | |
| beschlossen. Es hatte eine Arbeitsgruppe zu dieser nicht unwichtigen Frage | |
| getagt, es war im „Prospekt: Tageszeitung“ ein Wettbewerb unter der | |
| künftigen Leserschaft ausgelobt worden. Die Vorschläge fielen aber eher | |
| skurril als überzeugend aus: „Unter dem Pflaster“, „Sumpfblüte“, | |
| „Republikanischer Landesbote“. Ich kam dann auf „Die Tageszeitung.“ Das | |
| drückte zweierlei aus, einmal, dass es sich um eine täglich erscheinende | |
| Publikation handelte, zum anderen, dass es die bedeutendste Tageszeitung in | |
| Deutschland sei. Das hatte etwas Größenwahnsinniges, aber so waren wir | |
| damals. Da niemandem etwas Besseres, Überzeugenderes einfiel, blieb es bei | |
| diesem zunächst provisorischen Namen. | |
| Welche Entscheidungen waren in dieser Phase der Vorbereitung sonst noch | |
| wichtig? | |
| Die wichtigste Entscheidung in der Gründungsphase der taz war die, wo die | |
| sogenannte „Zentral-Redaktion“ arbeiten würde. Die Mitglieder der | |
| Frankfurter Ini gingen davon aus, dass dies gar keine Frage sei, dass die | |
| Redaktion natürlich bei ihnen in Frankfurt arbeiten würde. Sie verstanden | |
| sich mit Dany Cohn-Bendit, Joschka Fischer, Matthias Beltz und anderen als | |
| intellektuelles Zentrum der Spontis, der undogmatischen Linken in der | |
| Bundesrepublik. Uns Berliner, die eine Arbeitsgruppe „Betrieb und | |
| Gewerkschaft“ hatten und bei denen auch ein paar ehemalige Maoisten dabei | |
| waren, sahen die Frankfurter als zurückgebliebene traditionelle Linke. Sie | |
| hatten die Stadtzeitung Pflasterstrand, den ID, den wöchentlichen | |
| Informationsdienst zur Verbreitung unterbliebener Nachrichten, sie hatten | |
| deutlich mehr Erfahrung im Zeitungsmachen und traten selbstbewusst, | |
| manchmal leicht arrogant auf. Das wurde ihnen zum Verhängnis. | |
| Wann genau erfolgte die Festlegung des Redaktionssitzes? | |
| Bei einem nationalen Treffen in Frankfurt am 10. Dezember 1978. Da bekam | |
| West-Berlin 43 Stimmen und Frankfurt 30. Die meisten Mitglieder der | |
| kleineren taz-Inis, Hamburg, Hannover, Köln, Stuttgart, München und andere, | |
| hatten weniger für Berlin als gegen Frankfurt gestimmt. Sie hatten den | |
| Verdacht, dass viele der Frankfurter sie vor allem als Wasserträger für ihr | |
| tolles Projekt begriffen. Heute muss man sagen, dass ohne die taz-Inis in | |
| rund 30 Städten, von Kiel bis Bad Schussenried, die taz nicht hätte | |
| gegründet werden können. Es war eine richtige kleine Bewegung. | |
| Für welche Stadt hast du votiert? | |
| Ich war natürlich für Berlin, schlicht weil ich hier lebte. Und neben dem | |
| ungeschickten Auftreten der Frankfurter war es [12][Kalle], der auf den | |
| ersten Blick unscheinbare und wenig charismatische Kalle, der dafür sorgte, | |
| dass die Redaktion nach Berlin kam. Er rechnete ganz nüchtern vor, dass die | |
| monatlichen Kosten für die Produktion der Zeitung in West-Berlin um rund | |
| 30.000 Mark unter denen in Frankfurt lägen, weil es hier | |
| Investitionszulagen und verschiedenste Steuersparmöglichkeiten gab. Nur in | |
| West-Berlin, so sein Credo, würde es finanziell möglich sein, mit unseren | |
| sehr knappen Ressourcen eine Tageszeitung zu gründen. | |
| In deiner pragmatischen Art hast du versucht, den Riss zu kitten, und hast | |
| – es erschienen bereits monatlich Nullnummern – einfach weitergemacht. | |
| In meinen Akten findet sich ein Brief aus dem Januar 1979 an die | |
| Frankfurter Ini: „Im Wedding wurde eine Büroetage mit 620 qm angemietet. | |
| Mit idealen Arbeitsmöglichkeiten für die Zentralredaktion. Fotosatzgeräte | |
| sind gekauft.“ Anfang Januar 1979 zog die künftige Redaktion in die Etage | |
| in der Wattstraße ein, wobei es um die Finanzen weiterhin jämmerlich | |
| bestellt war. In dem zitierten Brief heißt es: „Ca. 3500 Vorausabonnenten | |
| haben inzwischen 270.000 DM bezahlt, die bis zum täglichen Erscheinen der | |
| TAZ festgelegt bleiben.“ | |
| Was brauchte es noch? | |
| Es mussten schnell Firmen gegründet werden, zwei Kommanditgesellschaften, | |
| die später in GmbHs umgewandelt wurden. Eine Verlags-GmbH beschäftigte die | |
| Redaktion, die Fotosatz- und anderen wertvollen Maschinen gehörten einer | |
| zweiten GmbH, damit sie im Falle einer Pleite nicht in der Konkursmasse | |
| gelandet wären. Diese GmbHs waren über Treuhänder mit dem Verein der | |
| Freunde der alternativen Tageszeitung verbunden, einer von ihnen war mein | |
| Kollege Otto Schily. | |
| Noch war nicht klar, ab wann die Zeitung täglich erscheinen sollte. | |
| Im Frühjahr 1979 traten wir die Flucht nach vorne an. Nach zehn Nullnummern | |
| erschien die Zeitung ab dem 17. April 1979 täglich, 12 Seiten im Berliner | |
| Format, der Redaktionsschluss war schon um 13 Uhr. Die Filme der Seiten | |
| mussten in eine Druckerei bei Hannover gefahren und in eine zweite | |
| Druckerei nach Frankfurt geflogen werden. Doch es waren nicht 20.000 | |
| Abonnenten zusammen, mit denen wir eigentlich starten wollten, sondern nur | |
| 7.000. Die gedruckte Auflage lag bei 63.000 Exemplaren, die verkaufte bei | |
| nicht viel über 20.000. | |
| Die taz startete auch fast ohne journalistische Erfahrung. | |
| Von den rund 50 Leuten, die im Frühjahr 1979 mit der täglichen Produktion | |
| loslegten, hatten nur drei überhaupt schon mal für eine Tageszeitung | |
| gearbeitet. Es gab Taxifahrer, Sozialarbeiter, Lehrer, viele Studenten, | |
| aber kaum gelernte Journalisten. Sie wollten zukunftsweisende Ideen | |
| propagieren. Die Frauen setzten bald mithilfe eines einwöchigen Streiks | |
| eine Frauenquote von 52 Prozent für alle Abteilungen durch. Die erste | |
| Frauenquote Deutschlands, noch ein paar Jahre bevor die Grünen eine solche | |
| einführten. Die Öko-Redaktion kämpfte nicht nur gegen die Atomenergie, | |
| sondern setzte sich für Windenergie, Sonnenenergie, Erdwärme ein. Das war | |
| avantgardistisch – und richtig. Die Redaktion hatte drei weitere | |
| inhaltliche Säulen bestimmt: die „Frauenfrage“, Gender würde man heute | |
| sagen; den Internationalismus, also die Solidarität mit der Dritten Welt; | |
| und alternatives Leben und Arbeiten. | |
| Wie siehst du deine Rolle bei der Gründung der Zeitung? | |
| Meine Rolle bei der Gründung der taz war eine Dreifache. Ich bin viele | |
| Wochen lang abends, meist in Charlottenburg, in Kneipen von Tisch zu Tisch | |
| gegangen – wie später als Bundestagsabgeordneter der Grünen – und habe | |
| Zeitungen verkauft, habe versucht, die Leute dazu zu bringen, die Zeitung | |
| zu unterstützen und ein Abo zu zeichnen. Meine zweite Rolle war die des | |
| Organisators, des juristischen Vaters, wenn man so will. Als Drittes habe | |
| ich Redaktionsmitglieder, die von der Staatsanwaltschaft oder | |
| zivilrechtlich belangt wurden, juristisch vertreten, als Justitiar. In den | |
| ersten beiden Jahren überzog die politische Staatsanwaltschaft die | |
| presserechtlich Verantwortlichen der taz mit Strafverfahren. Es gab auch | |
| etliche Hausdurchsuchungen von Staatsanwälten in der taz. Da klingelte bei | |
| mir das Telefon und es hieß: „Christian, du musst schnell kommen, es steht | |
| mal wieder ein Staatsanwalt in der Tür.“ | |
| Mitglied der Redaktion warst du nie. | |
| Nein. Bei der Produktion der ersten Nullnummer im September 1978 war ich | |
| zwar in Frankfurt, aber hatte keine Ahnung, wie die Zeitung mit Composern | |
| und Fotosatz produziert wurde. Dass wir am 17. April 1979 mit dem täglichen | |
| Erscheinen starteten, lag nicht zuletzt daran, dass wir unerwartet | |
| Konkurrenz bekommen hatten. | |
| Du meinst Die Neue, die tägliche Ausgabe des Extra-Dienstes. | |
| Traditionelle Linke vom bis dahin wöchentlich erscheinenden Extra-Dienst | |
| wollten uns Spontis nicht das Feld überlassen. Sie waren gewerkschaftsnahe, | |
| linkssozialdemokratische Linke, standen der DDR nahe, zwei von ihnen waren | |
| Stasi-Spitzel, wie sich viel später herausstellte. Uns behandelten sie | |
| etwas herablassend wie Amateure, die ihnen als erfahrenen Profis nicht das | |
| Wasser reichen könnten. Es kam aber genau umgekehrt. Sie starteten zwar | |
| kurz vor der taz, aber mussten nach weniger als drei Jahren das Erscheinen | |
| als Tageszeitung beenden. Nachdem die taz zum täglichen Erscheinen | |
| übergegangen war, war ich allerdings auch skeptisch, dass wir das lange | |
| durchhalten würden. | |
| Wegen des Geldes? | |
| Finanziell sah es sehr schlecht aus. Es ging zwar langsam aufwärts, es | |
| wurden mehr Abonnements, aber nach einem halben Jahr konnten keine Löhne | |
| mehr bezahlt werden. Ein Teil der Redaktion suchte sich andere Jobs, um die | |
| Miete bezahlen zu können. Ich habe meine Skepsis nicht laut geäußert, weil | |
| ich keinen Defätismus verbreiten wollte. Aber ich hatte es in vielen | |
| alternativen Zusammenhängen erlebt, dass du dich nicht unbedingt auf die | |
| Leute verlassen konntest. Die hängten sich erst einmal schwer rein, aber | |
| dann fanden sie etwas anderes und waren von einem auf den anderen Tag weg. | |
| Doch das war bei der taz nicht so. Trotz dieses komplizierten | |
| arbeitsteiligen Produktionsprozesses erschien die Zeitung jeden Tag. | |
| Anfangs erschien mir das wie ein kleines Wunder. Auch wenn es große | |
| Kontroversen und großen Streit gab – und das gab es öfters – die Zeitung | |
| erschien. Tag für Tag. Die Leute kamen morgens um neun in die Etage im | |
| Wedding und machten die Zeitung – obwohl sie Spontis waren. Zu meiner | |
| großen Verwunderung ging es immer weiter. | |
| Es ging immer weiter, obwohl wir uns ständig in nahezu uferlosen, sehr hart | |
| geführten Debatten auf den Plena erschöpften. Die Selbstverwaltung war sehr | |
| anstrengend und oft auch frustrierend. | |
| Das mag sein, aber für mich war die Selbstverwaltung neben der | |
| publizistischen und politischen Bedeutung einer linken Tageszeitung absolut | |
| entscheidend. Ein ganz wichtiges Motiv dafür, bei dem Projekt mitzumachen. | |
| Die taz war das größte Alternativprojekt der Bundesrepublik: Die | |
| Auflockerung der Arbeitsteilung, der Einheitslohn für alle, anfangs nur 650 | |
| Mark netto im Monat, das war deutlich weniger als der Einheitslohn von über | |
| 1.000 Mark, den wir uns im Sozialistischen Anwaltsbüro auszahlten. Aber | |
| jeder konnte beim Plenum mitdiskutieren und mitentscheiden, jeder, der bei | |
| der taz arbeitete, konnte bei den Vereinstreffen über die wichtigen | |
| Entscheidungen mitbestimmen. | |
| Das Geld blieb knapp. | |
| Wirtschaftlich gesehen war das erste Jahrzehnt der taz sehr hart. Alle | |
| Jahre wieder tat sich das Sommerloch auf, das die taz aufgrund des | |
| geringeren Verkaufs im Sommer an den Rand des Ruins brachte. Es mussten | |
| Spenden- und Bettelkampagnen gestartet werden. Es herrschte eine desolate | |
| Mangelökonomie. Immer wieder gab es Situationen, in denen man eigentlich | |
| hätte bekennen müssen, dass das Geld nicht mehr reicht; in denen man | |
| Konkurs hätte anmelden müssen – und, da man das nicht getan hat, sich der | |
| Straftat der Konkursverschleppung schuldig machte. Ich habe das nie so | |
| ausgesprochen, ich habe das dem Geschäftsführer Kalle auch nie so gesagt, | |
| sondern habe lediglich angemerkt: Kalle, du weißt, was du hier riskierst. | |
| Er wusste es, denn er war ja nicht blöde. | |
| Kalle war weiß Gott nicht blöde, aber er war fast zwei Jahrzehnte jünger | |
| als du. Die große Mehrheit der Gründerinnen und Gründer der taz war in | |
| ihren Zwanzigern, du warst deutlich älter. Sind wir Jungen dir eigentlich | |
| nie auf die Nerven gegangen? Mit unserer Arroganz der Adoleszenz, unserem | |
| Mangel an Erfahrung? | |
| Ich hatte mehr Erfahrung, aber unser Verhältnis war ein Verhältnis von | |
| Gleichen, auch wenn manche der Jüngeren mich auch als Vaterfigur sahen. Ich | |
| habe nie versucht, etwas mit meiner Autorität durchzusetzen. Auf die Dauer | |
| geriet ich allerdings in eine Rolle, in der ich mich nicht wohl gefühlt | |
| habe. Mein erster Mitstreiter Max warf mir vor: Du hast dein Anwaltsbüro | |
| und dein Auskommen, wir darben hier mit einem minimalen Einheitslohn, mit | |
| diesem Hungerlohn. Darauf habe ich geantwortet: Hör mal zu, Max, ich | |
| verbringe hier in der taz die Nachmittage und Abende und bekomme gar nichts | |
| dafür. Ich habe nie einen einzigen Cent beziehungsweise Pfennig von der taz | |
| bekommen. Es mag sein, dass ich dennoch das schlechte Gewissen eines | |
| Privilegierten hatte, auf jeden Fall habe ich regelmäßig Frühstück oder ein | |
| Blech Kuchen in die taz mitgebracht, die stets freudig verzehrt wurden. | |
| Du selbst hast dich bewusst nicht als Teil der Redaktion begriffen, aber du | |
| hast immer wieder für die taz geschrieben. | |
| Ja. In den ersten Jahren der taz habe ich viele Artikel für sie | |
| geschrieben, zum Beispiel zwei ganze Seiten über einen Besuch von Juliana | |
| und mir bei der Guerilla in Guatemala, in ihren befreiten Zonen. Die | |
| Redakteurinnen und Redakteure kamen sich naturgemäß sehr wichtig vor, | |
| entscheidend aber waren andere. Kalle Ruch, der Geschäftsführer, Gudrun | |
| Kromrey und Heiner Kamp, die den Vertrieb aufbauten, Dieter Metk, der ein | |
| Konzept für die Produktionstechnik konzipierte, die moderner war als die | |
| der etablierten Zeitungen von Springer und anderen Verlagen. Ohne diese | |
| Leute hätte es die taz nicht gegeben. Gert Behrens spielte auch eine | |
| wichtige Rolle. | |
| Er war ein erfahrener Steuerberater. | |
| Gert Behrens war bei der Gründung von „Netzwerk“ dabei, einem Verein zur | |
| finanziellen Unterstützung alternativer Projekte, er hatte beim Kauf des | |
| Mehringhofs in Kreuzberg als räumliches Zentrum der West-Berliner | |
| Alternativbewegung mitgemischt. Er entwickelte mit Kalle zusammen das | |
| Konstrukt von mehreren GmbHs, mit denen Steuern gespart und die Kosten | |
| gesenkt werden konnten. | |
| Du hast dich nicht nur auf das Organisatorische beschränkt, sondern zum | |
| Beispiel die große Kampagne „[13][Waffen für El Salvador]“ in der taz | |
| vorgeschlagen und durchgesetzt. | |
| Ich war von Anfang an der Meinung, dass eine Zeitung, die von politischen | |
| Bewegungen getragen wird, auch ein Instrument für politische Kampagnen ist. | |
| Sie kann nicht nur neutral berichten, sondern sie soll versuchen, Einfluss | |
| zu nehmen, Macht auszuüben. In der radikalen Linken wurde damals eine | |
| Debatte geführt, mit der ich, da ich kein Pazifist war, keine Probleme | |
| hatte. Es ging um die Frage: Ist Gewalt als politisches Instrument | |
| gerechtfertigt, gibt es politische Situationen, in denen bewaffneter Kampf | |
| gerechtfertigt und nötig ist? Diese Diskussion sollte man offen führen. Ich | |
| habe Geld für den Kampf des ANC gegen die Apartheid in Südafrika gespendet. | |
| Oder für den Vietcong, die Kommunisten in Vietnam. Da war meine ganze | |
| Emotion dahinter. Dann Nicaragua, El Salvador. Es ging mir nicht darum, | |
| dass sich Guerilleros tausend Maschinengewehre kaufen können, sondern: Ich | |
| wollte diese Diskussion in Deutschland. Ich sah es auch als eine Aufgabe | |
| der taz an, solche Fragen zu diskutieren, durchaus hart und kontrovers zu | |
| diskutieren. | |
| Wie lief denn die Kampagne, nachdem ihr Start im Dezember 1980 auf der | |
| ersten Seite der taz verkündet worden war? | |
| Klaus-Dieter Tangermann, der leider schon 2002 gestorben ist, und ich | |
| hatten viele und intensive Kontakte zu Genossen in Mittelamerika. Beim | |
| Start der Spendenkampagne dachten wir, es kommen vielleicht 2.000 oder | |
| 3.000 Mark zusammen. Es wurden dann bis 1992 über 4 Millionen Mark. Es gab | |
| in den meisten Universitätsstädten öffentliche Diskussionen. Wir gaben Geld | |
| an vier Guerilla-Gruppen, die teilten das untereinander auf. Ich habe auch | |
| zweimal Dollars in Plastiktüten rübergebracht. Die Geldscheine wurden bei | |
| der Volksbankfiliale in Berlin abgeholt, nachdem ich angerufen hatte, wie | |
| viel Cash-Dollars wir haben wollten. In der taz flammte Streit auf, als | |
| bekannt wurde, dass sich Führungsfiguren verschiedener rivalisierender | |
| Guerilla-Gruppen gegenseitig hatten ermorden lassen. Wir haben denen auch | |
| gesagt: Wenn das so weitergeht, unterstützen wir euch nicht mehr. | |
| Was waren andere Themen, die in den ersten Jahren in der taz kontrovers | |
| diskutiert wurden? | |
| Immer die „Frauenfrage“, wie es damals hieß. Und die [14][RAF] war ein sehr | |
| kontroverses Thema. Wolfgang Grundmann, der bei der RAF gewesen, aber | |
| ausgestiegen war, arbeitete als Justiz-Redakteur für die taz. Ich hatte ihn | |
| auch verteidigt, wegen eines Bankraubs in Kaiserslautern. Wenn es wieder | |
| mal eine Besetzung der Redaktion durch RAF-Unterstützer gab, wurde ich | |
| angerufen: „Christian, kannst du mal kommen und das klären?“ Meist wurde | |
| ein Kompromiss gefunden. Eine Erklärung veröffentlicht, gewöhnlich gekürzt | |
| oder in ganz kleiner Schrifttype. | |
| Auch die Pädophilen haben die taz besetzt. | |
| Die waren noch unangenehmer und aggressiver als die RAF-Unterstützer. Dass | |
| ich mit denen geredet habe, das hängt mir heute noch nach. Die | |
| Indianerkommune war einen ganzen Tag in der taz. Ich habe mit einem | |
| blonden, vielleicht Vierzehnjährigen diskutiert, den habe ich heute noch | |
| vor Augen: „Und du willst mir keine Sexualität gönnen“, sagte der. „Du | |
| willst das nicht. Dann sag das laut.“ Die bekamen eine Seite. „Ihr seid | |
| doch unsere Zeitung“, sagte die Indianerkommune und auch andere Gruppen. | |
| „Ihr müsst das abdrucken.“ Es gab bitterböse Auseinandersetzungen. | |
| Anders als du hat die taz den Realo-Kurs der Grünen später unterstützt. | |
| Ja. Ich habe darunter gelitten. Das hat mich sehr geärgert. Ich konnte die | |
| taz zeitweise nicht mehr lesen. Meine Verbündeten in der Fraktion sagten | |
| auch: „Greif doch mal bei der taz ein, rede mit denen.“ Aber die | |
| redaktionelle Unabhängigkeit der taz war für mich eine heilige Kuh. Ich | |
| habe keinen Einfluss genommen auf die Inhalte der taz. Wobei ich häufig zum | |
| Mainstream in der Redaktion quer lag. | |
| Wenn du dir die taz und ihre Macherinnen und Macher heute ansiehst, was | |
| denkst du? | |
| Zwischen denen, die die taz gründeten, und denen, die heute für sie | |
| arbeiten, liegen Welten. Die Gründerinnen und Gründer waren nicht vom Fach, | |
| viele wollten auch gar keine Journalisten werden, sondern hatten die Idee, | |
| es müsse endlich mal – zum ersten Mal nach 1933 – eine unabhängige freie | |
| linke überregionale Tageszeitung geben. Um bei der taz angestellt zu | |
| werden, brauchte niemand ein Zeugnis aus einer Journalistenschule. Säzzer, | |
| die keine Lust mehr hatten, nur Säzzerbemerkungen in Artikel | |
| reinzuschreiben, konnten in die Redaktion wechseln. Leute, die in der | |
| Kantine anfingen, wurden sehr gute Redakteure. Es war sehr durchlässig. | |
| Heute kenne ich von denen, die für die taz arbeiten, kaum mehr jemanden. | |
| Sie erscheinen mir viel professioneller und scheinen das Arbeiten für die | |
| taz als Job zu begreifen, als relativ normalen Job bei einer etablierten | |
| Zeitung. Ein bisschen radikaler würde ich sie mir wünschen, habe ich | |
| gelegentlich gesagt. | |
| Zu einem stabilen Medienunternehmen wurde die taz 1991 durch die Gründung | |
| der Genossenschaft. Siehst du darin auch die wichtigste Zäsur in der | |
| Geschichte der taz? | |
| Auf jeden Fall. Nach zwölf Jahren der Mangelökonomie wollte die Mehrheit | |
| der Redaktion 1990 die taz an einen großen Medienkonzern verkaufen, um | |
| endlich mal höhere Gehälter zu bekommen, um einen Verlag zu haben, der | |
| ihrer Meinung nach professioneller arbeitete, als dies in der taz üblich | |
| war. Bei diesem großen Schisma habe ich mich zum letzten Mal sehr intensiv | |
| bei der taz engagiert. Zusammen mit Johnny Eisenberg schrieb ich die | |
| Satzung der taz-Genossenschaft. Wer die mal genau durchliest, wird | |
| feststellen, dass jedem potenziellen Investor, der die taz kaufen will, | |
| sofort der Appetit vergeht. Wir bauten unzählige Hürden gegen eine | |
| Übernahme der taz durch einen großen Medienkonzern ein. Später haben einige | |
| der Redakteure, die die taz damals verkaufen wollten, zu Kalle oder mir | |
| gesagt: „Ihr habt mit der Gründung der Genossenschaft den richtigen Weg | |
| eingeschlagen. Wenn es uns damals gelungen wäre, die taz zu verkaufen, gäbe | |
| es sie heute wohl nicht mehr.“ | |
| Ein Grund, warum die taz überlebt hat, war anfangs auch in keiner Weise zu | |
| erwarten gewesen: ihre hervorragenden Immobiliengeschäfte. | |
| Als Kalle 1989 mit der Idee um die Ecke kam, in der Kochstraße ein | |
| landeseigenes Gebäude zu kaufen, damit die taz aus dem Wedding in das alte | |
| traditionelle Berliner Zeitungsviertel ziehen könnte, habe ich spontan | |
| gesagt: „Du spinnst doch, Kalle.“ Davon hat sich Kalle nicht beirren | |
| lassen, zum Glück. Sechs Wochen nach dem Unterschreiben des Kaufvertrags | |
| für die Kochstraße 18 fiel die Mauer und diese jetzt zentral gelegene | |
| Immobilie gewann um ein Mehrfaches an Wert. Da hatte die taz auch mal | |
| wirklich Glück. Es kam der angrenzende Neubau in der Kochstraße hinzu. Die | |
| Straße heißt mittlerweile Rudi-Dutschke-Straße, beide taz-Häuser sind heute | |
| schuldenfrei, und die taz arbeitet in einem [15][großen modernen Gebäude] | |
| in der Friedrichstaße. Kalle, der sich so gut wie nie in inhaltliche Fragen | |
| eingemischt hat, hat der taz zu einem Sicherheitspolster verholfen, um das | |
| andere Verlage die taz-Genossenschaft beneiden können. | |
| Du siehst also die Geschichte der taz und ihrer Gründung als | |
| Erfolgsgeschichte? | |
| Auf jeden Fall. Insgesamt ist die taz ein ungeheurer Erfolg. Dass es sie | |
| nach wie vor gibt, ist in der Tat vergleichbar mit der Gründung und | |
| Entwicklung der Grünen, die ein, zwei Jahre später kamen als die taz. Dass | |
| eine kleine Gruppe von Leuten aus eigenem Engagement aus dem Nichts ein | |
| Projekt auf die Beine stellt und mit Mühen dafür sorgt, dass es überlebt | |
| und wächst, das ist wirklich ein Wunder. Das war nur möglich, weil alle der | |
| Überzeugung waren: Das muss jetzt gemacht werden. Nicht weil jemand einen | |
| Job suchte, sondern weil sie eine wichtige gesellschaftliche und politische | |
| Aufgabe übernehmen wollten. | |
| [16][Michael Sontheimer], 68, arbeitete bis 1984 bei der taz, dann bei der | |
| Zeit. Von 1992 bis 1994 war er taz-Chefredakteur, danach ging er zum | |
| Spiegel. Heute ist er freier Journalist und Mitglied im Kuratorium der taz | |
| Panter Stiftung. | |
| 28 Aug 2023 | |
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