| # taz.de -- Zum Roma Day in Berlin: „Zeitzeugen sind wichtig“ | |
| > Historikerin Jana Mechelhoff-Herezi im Interview zum Roma Day über die | |
| > Erinnerungskultur und Antiziganismus. | |
| Bild: Die Gedenkstätte für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Ro… | |
| taz: Frau Mechelhoff-Herezi, zum Auftakt des Roma Day führen Sie ein | |
| Zeitzeugengespräch mit der Auschwitz-Überlebenden Zilli Reichmann. Was kann | |
| sie erzählen? | |
| Jana Mechelhoff-Herezi: Sie ist eine der ganz wenigen, die die Liquidierung | |
| des sogenannten Zigeunerlagers in Auschwitz am 2. August 1944 überlebt | |
| haben und die heute noch Auskunft geben können. Sie hatte dort eine | |
| Beziehung mit einem Funktionshäftling, einem Kommunisten namens Herrmann | |
| Dimanski, dem Lagerältesten. Für sie war das eine „pragmatische | |
| Entscheidung“, keine Liebesgeschichte, sie hat dadurch ihre Familie bis zum | |
| 2. August durchbringen können. Zilli Reichmann hatte eine vierjährige | |
| Tochter, ihre Schwester war auch da mit sieben Kindern. Alle haben bis zum | |
| 2. August überlebt – was statistisch sehr unwahrscheinlich war. Sie konnte | |
| sie mit mehr Essen versorgen, hat ihnen kleinere Jobs im Lager besorgt. Am | |
| Ende hat das aber auch nicht mehr geholfen. | |
| Wie hat sie überlebt? | |
| Am 16. Mai 1944 scheiterte der erste Versuch der SS, das Lager aufzulösen, | |
| am Widerstand der Häftlinge. Danach wurden alle „arbeitsfähigen“ Sinti und | |
| Roma oder potenziell Widerstandsfähigen weggebracht. Am 2. August wurden | |
| Frau Reichmann und andere Gefangene am „Zigeunerlager“ vorbeigefahren, sie | |
| konnten sich von ihren Familien verabschieden. Das sollte wohl der | |
| Beruhigung dienen. Reichmanns Vater war da, mit ihrer Tochter. Frau | |
| Reichmann wollte bei ihrer Familie bleiben, wurde aber gezwungen, wieder in | |
| den Wagen zu steigen. Sie wurde mit anderen „Arbeitsfähigen“ nach | |
| Ravensbrück gebracht, ihre Familie und alle im Lager Verbliebenen noch an | |
| diesem Tag ermordet. | |
| Wie haben Sie Frau Reichmann gefunden? | |
| Ich wusste, dass der Historiker Heiko Haumann an einem Buch über sie und | |
| mit ihr arbeitet: „Die Akte Zilli Reichmann“. Deswegen wussten wir, dass | |
| sie irgendwo in Mannheim lebt. Aber über Haumann kam kein Zugang zustande – | |
| was ich verstehe. Wenn auf einmal irgendwelche Leute vor der Tür eines | |
| Überlebenden stehen, kann das ziemlich schiefgehen. | |
| Wieso? | |
| Das braucht viel Vertrauensaufbau. Man kann nicht einfach hingehen: Hallo, | |
| ich bin Historikerin, erzählen Sie mal! Die Frage ist ja auch: Warum kommt | |
| ihr jetzt, warum seid ihr nicht vor 30, 40 Jahren gekommen? Komischerweise | |
| kannten die Sinti-Roma-Organisationen in Mannheim keine Zilli Reichmann. | |
| Irgendwann habe ich im Gespräch mit dem Musiker und Vorsitzenden der | |
| Hildegard-Lagrenne-Stiftung, Romeo Franz, mal den Namen erwähnt, den sie | |
| seit ihrer Heirat trägt. Und plötzlich war da eine Verbindung. | |
| Ach! | |
| Ja, ein Musiker aus dem Romeo-Franz-Ensemble war ihr Neffe! Franz hat | |
| Reichmann dann besucht und ihr von mir erzählt: Er habe da eine Bekannte, | |
| eine Historikerin, der er vertraue, die im Sinne der Sinti und Roma denke. | |
| Und die würde sie gerne interviewen. So kamen wir zusammen. | |
| Man kennt Zeitzeugen-Gespräche mit jüdischen Überlebenden, aber kaum mit | |
| Sinti und Roma. | |
| Stimmt. Wir haben bei der Stiftung eine Buchreihe mit Zeitzeugen, die hat | |
| 16 Bände, aber nur einer ist von einem Sinto, Reinhard Florian. | |
| Wie ist die Geschichte der Vernichtung der Sinti und Roma im | |
| Nationalsozialismus inzwischen aufgearbeitet – im Vergleich mit der Schoah? | |
| Das ist sehr vom nationalen Kontext abhängig. Für Deutschland ist sie sehr | |
| gut aufgearbeitet – im übrigen Europa gibt es allerdings noch viele weiße | |
| Flecken. Wir wollen schon seit Jahren eine Publikation machen mit | |
| Schicksalen von Überlebenden und Ermordeten aus ganz Europa. Aber es ist | |
| schwierig, denn in vielen Ländern ist nur sehr wenig systematische | |
| Forschung gemacht worden. Am schwierigsten ist Osteuropa. | |
| Warum? | |
| Das hat viel damit zu tun, wie die Morde erfolgten. In Deutschland hatte | |
| man viel den „klassischen Weg“ über Deportation und Lagerhaft – da hat m… | |
| eine Täterdokumentation. Aber in der Sowjetunion waren es | |
| Massenerschießungen. Da gibt es nur vage Zahlen, keine Namen, keine Daten | |
| der Opfer. Es gab und gibt auch noch einzelne Überlebende vor Ort, aber die | |
| muss man auch erst einmal finden – das ist ohne Zentralrat, ohne Verband, | |
| der dabei hilft, noch schwieriger. | |
| Wie wichtig sind denn die Zeitzeugen für Ihre Arbeit? | |
| Besonders bei der Vermittlung der Geschichte an junge Menschen sind sie | |
| total wichtig. Das ist ja der Ansatz unserer Stiftung beim Ort der | |
| Information am Holocaust-Denkmal: den Geschichten Gesichter und Stimmen zu | |
| geben, um diese unvorstellbaren Verbrechen zu personalisieren. Leider wurde | |
| das bei Sinti und Roma lange versäumt und mittlerweile kann man die | |
| Überlebenden fast an zwei Händen abzählen. Wenn ich noch jemanden finde, | |
| ist das etwas ganz Besonderes, noch dazu, wenn es sich wie bei Frau | |
| Reichmann um jemanden handelt, der damals schon erwachsen war. Sie hatte | |
| ein bewusstes Erleben und konnte deutlich reflektieren – anders als die | |
| Kinder damals, von denen heute noch einige leben. | |
| Wie wird Ihre Arbeit weitergehen, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt? | |
| Es gibt in der Stiftung ein Videoarchiv, das heißt „Sprechen trotz allem“. | |
| Allerdings sind darunter auch nur drei oder vier Videointerviews mit Sinti | |
| und Roma. Das erste Interview, das ich mit Zilli Reichmann gemacht habe, | |
| wird dort demnächst freigeschaltet. Ich denke aber, dass auch die zweite | |
| Generation ein Mittler sein kann. Ich habe schon sehr beeindruckende Reden | |
| von Kindern von Überlebenden gehört. | |
| Das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma gibt | |
| es seit 2012. Funktioniert das zur Aufklärung? | |
| Die Resonanz ist enorm. Das liegt sicher auch an der Lage im Tiergarten. | |
| Dort kommt jeder vorbei – und für viele Touristen ist es offenbar die erste | |
| Konfrontation überhaupt mit dem Thema. Aber: Zwar funktioniert es als | |
| Erinnerungsort hervorragend, aber als Informationsort überhaupt nicht. | |
| Wieso? | |
| Es hat nur wenige informative Elemente, das meiste ist symbolisch: die | |
| Wasserfläche mit dem dreieckigen Stein, die Blume in der Mitte des Wassers, | |
| die jeden Tag neu eingesetzt wird, die gesplitterten Steinplatten mit 69 | |
| Ortsnamen, das umlaufende Gedicht „Auschwitz“, der Geigenton. Das hat | |
| einen überraschenden emotionalen Effekt – aber es fehlen Erklärungen. | |
| Es gibt Informationen. | |
| Es gibt die Glastafel mit den beiden Zitaten des früheren Bundeskanzlers | |
| Helmut Schmidt und des früheren Bundespräsidenten Roman Herzog, die | |
| wichtige Schritte waren in der Anerkennung der Verbrechen gegen die Sinti | |
| und Roma. Und es gibt eine Chronologie der Verfolgung – die aber nur eine | |
| Basisinformation ist und die europäische Dimension des Völkermords an den | |
| Roma und Sinti nicht abbildet. | |
| Und im Informationszentrum beim Holocaust-Mahnmal? | |
| Da gibt es an zwei Stellen Erwähnungen, aber auch keine vertiefende | |
| Information. | |
| Bräuchte man das nicht? | |
| Ja, das planen wir auch. Wir haben eine Ergänzungsausstellung in der | |
| Schublade, die zwischen Denkmal und dem Besucherzentrum zum Reichstag | |
| stehen soll: Biografien aus unterschiedlichen europäischen Kontexten, die | |
| auch die Betroffenenperspektive und den Widerstand zeigen. Der politische | |
| Wille für die Ausstellung ist da, der Architekt des Denkmals, Dani Karavan, | |
| will die Tafeln gestalten. Aber der Tiergarten ist ein Gartendenkmal. Das | |
| macht das Genehmigungsverfahren langwierig. | |
| Hilft eine lebendige Erinnerungskultur im Kampf gegen Antiziganismus? | |
| Sie wäre ein wichtiger Baustein – wenn es sie gäbe. Aber man merkt etwa am | |
| Denkmal: Die Leute sind berührt und verstehen, dass da etwas richtig | |
| Schlimmes passiert ist, aber das vertieft sich nicht. Es gibt einen | |
| Workshop zu Sinti und Roma im Informationszentrum – der sehr schlecht | |
| nachgefragt ist. | |
| Warum? | |
| Die Schulen stehen sicher sehr unter Druck. Wenn sie diesen Zeitraum | |
| bearbeiten, ist es erst einmal der Holocaust an sechs Millionen Juden – da | |
| bleibt wenig Kapazität für die Sinti und Roma. Aber auch die Schulbücher | |
| bilden das Thema nur sehr wenig ab, es wird gerade mal erwähnt, Zeitzeugen | |
| kommen praktisch nicht vor. Da ist tatsächlich noch viel zu tun. Das ist | |
| auch der Grund, warum die Stiftung sehr aktiv ist in dem Bündnis für | |
| Solidarität mit Sinti und Roma, das den Roma Day veranstaltet. Denn wenn | |
| das Bewusstsein stärker wäre, dass wir in Deutschland die gleiche | |
| Verantwortung haben für diese Gruppe aufgrund dieser Geschichte, dann wäre | |
| das ein guter Grund, dem Antiziganismus mehr Aufmerksamkeit zu widmen und | |
| ihn konsequent zu bekämpfen. | |
| 3 Apr 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Susanne Memarnia | |
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