| # taz.de -- Zivilgesellschaft Israel-Palästina: Den Schmerz der anderen Seite … | |
| > Der Israeli Buma Inbar weiß, was es bedeutet, ein Kind zu verlieren. | |
| > Deshalb unterstützt er Palästinenser*innen. Das Politische klammert er | |
| > dabei aus. | |
| Bild: Der Grenzübergang Erez: Buma Inbar (r.) entlädt eine Lieferung für kre… | |
| Als Buma Inbar im November 1995 mit seiner Tochter zur Friedenskundgebung | |
| nach Tel Aviv fuhr, hatte er gerade seinen ältesten Sohn Yotam verloren. | |
| Drei Wochen zuvor war der im Libanon in einem veralteten Panzer von einer | |
| Landmine getötet worden. Inbar verfiel in eine Depression, konnte nur mit | |
| Mühe und Schlafmitteln zur Ruhe finden. Doch an diesem Tag hatte er ein | |
| Ziel: seinem Parteikollegen und Bekannten, dem damaligen | |
| Ministerpräsidenten Jitzhak Rabin, einen Brief zu überreichen, den er am | |
| selben Tag geschrieben hatte. „Ich hoffe und ich glaube, dass mein Sohn das | |
| letzte Opfer dieses fürchterlichen Konfliktes gewesen sein wird“ – das war | |
| die Botschaft des Briefes. Er konnte ihn nie aushändigen. | |
| Der 75-jährige Inbar mit seinem weißgrauen Haar und den buschigen | |
| Augenbrauen lässt seine Hände für gewöhnlich an seinem Körper | |
| herunterhängen, aber wenn er von der Friedensbewegung Mitte der 1990er | |
| Jahre spricht, breitet er seine Arme aus und ein Lächeln zieht über sein | |
| Gesicht. „Der Frieden war, so schien es, hier“, sagt er, dreht seine | |
| Handflächen nach oben und blickt hinein, als wäre er für einen Moment | |
| tatsächlich dort in seinen Händen, der Frieden, und als würde Inbar für | |
| einen Moment noch einmal vergessen können, dass am 4. November 1995 ein | |
| rechter jüdischer Fanatiker Rabin erschoss und den Friedensprozess so | |
| zunichte machte. | |
| 26 Jahre später ist der 75-jährige Inbar Vollzeitaktivist. Wann auch immer | |
| man mit ihm spricht, ist er gerade in einer Mission unterwegs – quer durch | |
| Israel und die palästinensischen Gebiete. Er organisiert Genehmigungen für | |
| Krebspatient*innen aus Gaza, im Tel Aviver Krankenhaus Tel HaShomer | |
| behandelt zu werden. Er hilft Palästinenser*innen bei der | |
| Olivenernte, um sie gegen Angriffe von Siedler*innen zu schützen, | |
| organisiert Fußballturniere zwischen palästinensischen und israelischen | |
| Kindern und sucht für einen palästinensischen Freund aus Gaza eine Wohnung | |
| in Nablus im Westjordanland, weil dieser nicht nach Gaza zurückkönne, ohne | |
| dass die Hamas ihn umbringe. | |
| Am Grenzübergang Erez, einem von zwei Grenzübergängen von Israel nach Gaza, | |
| kommt ein Soldat mit Maschinengewehr in der Hand lächelnd auf ihn zu. „Na, | |
| du bist ja gut gelaunt“, flachst Inbar und reicht ihm zwei Papiere durchs | |
| offene Fenster – die Genehmigungen von Israel und von der Hamas, Güter über | |
| diesen Übergang in den Gazastreifen zu bringen. Normalerweise kommen über | |
| den nördlich gelegenen Erez-Übergang keine Waren in den Gazastreifen, | |
| sondern nur über den Übergang Kerem Schalom im Süden Gazas. Im Gepäck hat | |
| Inbar einen Anhänger vollgeladen mit Schuhen und Kleidung für Kinder, | |
| Spielzeug, einem Rollstuhl – für krebskranke Kinder im Gazastreifen. | |
| „Am Übergang Kerem ist die Gefahr groß, dass die Güter in die Hände der | |
| Hamas geraten und sie sich die Sachen unter den Nagel reißen“, sagt Inbar | |
| über die Schulter: „Deswegen will ich sie über diesen Übergang bringen.“ | |
| Irgendwie bekommt er jedes Mal eine Genehmigung. „Man sollte meinen, Jungs | |
| in deinem Alter wollen in Tel Aviv sein, auf Partys gehen und Mädchen | |
| kennenlernen“, witzelt Inbar weiter: „Woher kommt die gute Laune?“ Der | |
| Soldat stammelt, dass die Mädchen doch hier seien. Kurz darauf sind die | |
| beiden bei einem Gespräch über den Geburtsort des Soldaten angelangt. | |
| Inbar pflegt seine Verbindungen auch mit dummen Sprüchen. Reicht das, um | |
| israelische Soldat*innen und Palästinenser*innen dazu zu bringen, | |
| Inbar bei seinen Hilfsaktionen zu unterstützen? „Die Leute wissen, dass ich | |
| unpolitisch bin“, sagt er, löst den Spanngurt und wirft ihn seiner | |
| Begleitung Shoshi herüber, um die Hilfsgüter abzuladen. Ein anderer Soldat | |
| nimmt sie entgegen und legt sie auf das Band einer Durchleuchtungsmaschine: | |
| „Sie wissen, dass ich einfach nur helfen will.“ | |
| Unpolitisch klingt nach einem denkbar unpassenden Wort, um Inbars | |
| Aktivitäten zu beschreiben, zumal hier am Übergang Erez, zwischen all den | |
| Stacheldrähten, Wachtürmen und Maschinengewehren, mit Blick auf die Grenze | |
| nach Gaza: ein geöffnetes Tor umgeben von hohen Mauern, durch das gerade | |
| mal eine Ambulanz passt. Durch dieses Tor werden Patient*innen | |
| gefahren, die aus Gaza nach Israel gebracht werden, manchmal holt Inbar sie | |
| von hier ab und bringt sie ins Tel Aviver Krankenhaus Tel HaShomer. | |
| „Ich weiß, meine Tochter sagt auch immer, dass ich auf unpolitische Weise | |
| nicht einmal meinen Kaffee umrühren kann“, sagt er. „Politisch, das heißt | |
| für mich vor allem: Gerede.“ Inbars Eltern, polnischstämmige Juden, die in | |
| den zwanziger Jahren nach Israel eingewandert sind, waren mit der Partei | |
| Mapai verbunden, der späteren Arbeiterpartei. „Ich bin in linken Kreisen | |
| aufgewachsen“, erzählt er: „Links, aber nicht wirklich links“, fügt er | |
| hinzu und meint die Leerstelle der Arbeiterpartei, das, was sie seines | |
| Erachtens nach mitunter ausblendet: die Besatzung. | |
| Vielleicht liegt Inbars Aktivismus daran, dass sein Sohn etwas radikaler | |
| als Inbar war. Als Yotam zur legendären Golani-Einheit eingezogen wurde, | |
| trug er ein T-Shirt mit der Aufschrift „Yesh gvul“ (Es gibt eine Grenze) – | |
| eine Organisation, die Soldat*innen unterstützt, die den Wehrdienst | |
| verweigern. Auch setzte sich Yotam anderweitig für den Frieden ein. Es ist, | |
| als könnte Inbar auf seine Weise nun das Erbe seines Sohnes weitertragen | |
| und hoffen, dass er stolz auf ihn wäre. | |
| Einige Jahre nach dem Tod seines Sohnes hat ihn ein Freund zum Parents | |
| Circle Families Forum eingeladen, einer 1995 gegründeten Organisation, in | |
| der israelische und palästinensische Familien zusammenkommen, die ein | |
| unmittelbares Familienmitglied im anhaltenden Konflikt verloren haben. | |
| Mittlerweile sind Tausende von Israelis und Palästinenser*innen am | |
| Parents Circle beteiligt. | |
| Es ist eine einzigartige Organisation innerhalb dieses Konflikts und sie | |
| verlangt das im Landstrich vom Mittelmeer zum Jordan scheinbar Unmögliche: | |
| Der anderen Seite gegenüberzusitzen und ihren Schmerz zu sehen. Ende der | |
| 1990er Jahre, an einem Nachmittag in Beit Ummar, einer kleinen | |
| palästinensischen Stadt zwischen Jerusalem und Hebron im Westjordanland, | |
| hat Inbar in Begleitung des Direktors der israelischen Seite des Parents | |
| Circle zum ersten Mal den Schmerz in den Augen einer palästinensischen Frau | |
| gesehen. Er erinnert sich, dass die Mutter, die ihr Kind verloren hat, sich | |
| zunächst geweigert habe, mit den israelischen Besucher*innen an einem | |
| Tisch zu sitzen, aber nach einem Gespräch mit dem Direktor habe sie | |
| schließlich zugestimmt und ist dem Parents Circle beigetreten. | |
| „Als ich sie gesehen habe, habe ich verstanden, dass der Schmerz einer | |
| Mutter, die ihr Kind verliert, überall derselbe ist. Egal, auf welcher | |
| Seite“, erzählt er. Die Treffen im Parents Circle halfen ihm, mit seinem | |
| Verlust umzugehen. Dort fand er neue Freund*innen, auch | |
| Palästinenser*innen. Doch er wollte nicht nur reden, sondern auch aktiv | |
| werden. Im Jahr 2006 rief er eine alternative Zeremonie für den nationalen | |
| israelischen Gedenktag für die gefallenen Soldaten ins Leben, eine, in der | |
| auch der Toten der anderen Seite gedacht wird. | |
| Denn er, der selbst als Fallschirmjäger im Sechstagekrieg und im | |
| Jom-Kippur-Krieg gekämpft und dort zahlreiche Freund*innen verloren hat, | |
| glaubt, dass ein Ende der Besatzung Frieden bringen kann. „Darum mache ich | |
| das alles hier“, sagt er, steigt zurück ins Auto und fährt aus dem | |
| Checkpoint Erez heraus: „Es ist traurig, dass Stätten wie die Klagemauer | |
| oder das Grab der Patriarchen als heiliger gelten als das Leben selbst.“ | |
| „Buma ist eine One-Man-Show“, sagt Shoshi über seinen Beifahrersitz nach | |
| hinten. „Er macht die Dinge, so wie er sie machen will.“ Und zwar effektiv. | |
| Fünfzehn Minuten nachdem die Hilfsgüter den Grenzübergang nach Gaza | |
| überquert haben, klingelt das Telefon. „Salaam“, begrüßt Inbar den Direk… | |
| seiner Partnerorganisation in Gaza, spricht noch ein paar Wörter auf | |
| Arabisch und wechselt dann ins Hebräische. Die Sachen sind gut angekommen, | |
| vollständig. „Buma spricht Arabisch wie ich Deutsch“, lacht Shoshi: | |
| „Stümperhaft.“ Inbar ist bewusst, dass das Verhältnis zwischen Israelis u… | |
| Palästinenser*innen unter der Besatzung asymmetrisch ist, dass die | |
| Israelis am längeren Hebel sitzen, aber er lässt sich von politischen | |
| Diskursen, die ihn von seiner konkreten Hilfe abhalten könnten, nicht | |
| zermürben. | |
| Auch nicht vom Normalisierungsdiskurs, der in den letzten Jahren in der | |
| palästinensischen Gesellschaft immer vorherrschender geworden ist. Dieser | |
| Diskurs sieht die Zusammenarbeit mit israelischen Partnern als unzulässig, | |
| da es diese als ein Verhältnis zwischen ungleichen Gegnern betrachtet. | |
| Gemeinsame Fußballturniere etwa zwischen israelischen und palästinensischen | |
| Kindern sind angesichts des Tabus der Normalisierung quasi unmöglich | |
| geworden. | |
| Inbar nervt das. Was ihn davon abhält, Menschen zusammenzubringen, kann in | |
| seinen Augen nicht hilfreich sein. Vielleicht meint er auch das, wenn er | |
| sagt, dass er unpolitisch sei: Er will sich nicht durch abstrakte | |
| Diskussionen vom konkreten Handeln abhalten lassen. Dabei denkt er durchaus | |
| strategisch, in seinen Augen geht es darum, dass israelische | |
| Nichtregierungsorganisationen internationalen Druck herstellen. „Wir hier | |
| vor Ort, diese Handvoll von Linken, können die Besatzung nicht beenden.“ | |
| Nur: Er lässt dies die Aufgabe der NGOs sein. Er will sich nicht mit | |
| anderen abstimmen müssen, lange Diskussionen kennt er aus seinen Jahren, | |
| die er als junger Mann im Kibbuz verbracht hat. „Das hier ist mein | |
| Privathandy“, sagt er und hält es in die Luft: „Mein Bankkonto, mein Auto.… | |
| Er will handeln. Sein Slogan dafür lautet: „Staaten können Frieden | |
| schließen. Menschen können Frieden machen.“ Dann steigt er in einem Kibbuz | |
| unweit der Grenze nach Gaza aus und lädt Rollen von Planen der | |
| kibbuzeigenen Fabrik ein. Nächste Woche werden sie sie gemeinsam in die | |
| südlichen Berge von Hebron bringen, in den Süden des Westjordanlands, wo | |
| Palästinenser*innen ihre von israelischen Soldaten zerstörten Häuser | |
| und Zelte mit einem Dach versehen müssen – bevor der Regen kommt. | |
| Fragt man Inbar, wo er die Energie findet, permanent auf Achse zu sein und | |
| „Frieden zu machen“, gegen alle Widerstände, antwortet er im Sprech der | |
| deutschsprachigen, nach Israel eingewanderten Juden: „Schlafstunde.“ Zwei | |
| Stunden am Tag, zu seinem Mittagsschlaf, sei sein Handy abgeschaltet, sagt | |
| er und lacht. Etwas ernster schiebt er hinterher: „Mir geht es gut, wenn | |
| ich helfen kann“, sagt er: „Und den anderen hilft, was ich tue. Anstatt | |
| fernzusehen, kann ich auch aktiv sein.“ | |
| Am meisten Zeit widmet er Krebspatient*innen, zumeist Kindern, aus Gaza, | |
| die im Tel Aviver Krankenhaus Tel HaShomer aufgenommen werden. Buma | |
| arbeitet mit der Partnerorganisation Smile of Hope Charity for Cancer Care | |
| in Gaza zusammen, organisiert Genehmigungen, mit denen die | |
| Patient*innen Gaza verlassen und ins Krankenhaus eingeliefert werden | |
| dürfen. Ahmad, Vater der 22-jährigen Leyla (Namen aller Patient*innen | |
| und Eltern auf Wunsch geändert) kommt in Jogginganzug und mit seinen kurzen | |
| schwarzen Haaren Inbar als Erster begrüßen, als der mit seinem Auto zum | |
| sogenannten Melonit – dem „kleinen Hotel“ – gerollt kommt. Seit den | |
| Coronamaßnahmen hat sich das Wort etabliert und beschreibt | |
| Quarantänehotels, aber auch neu eingerichtete Unterkünfte in Krankenhäusern | |
| wie diesen. | |
| Das Gebäude hat wenig mit Hotelatmosphäre zu tun: Ein zweistöckiges | |
| Betongebäude, darunter ein großer, weißer Plastiktisch, um den einige | |
| Plastikstühle stehen. Von dort gehen die Zimmer für die Familien ab, enge, | |
| sterile Räume für ein Elternteil und das Kind, jeweils versehen mit zwei | |
| Betten, einer Klimaanlage und einem Tisch, auf dem ein Wasserkocher steht. | |
| Die Patient*innen und ihre Familienangehörigen dürfen das | |
| Krankenhausgelände nicht verlassen. Der Weg zum Melonit ist mit Zäunen und | |
| Stacheldraht gesäumt. Inbar liegt es dennoch am Herzen zu betonen, dass | |
| Israel der einzige Staat ist, der so viele palästinensische | |
| Patient*innen behandelt. Im Schnitt befinden sich im Krankenhaus Tel | |
| HaShomer täglich 50 Patient*innen aus Gaza. | |
| Inbars Kritik am israelischen Staat ist harsch, doch er zeigt Anerkennung | |
| für die positiven Seiten. Nach und nach kommen auch die anderen Familien | |
| aus ihren Zimmern, insgesamt sind es sechs. Die Kinder lächeln schüchtern, | |
| ein Junge hat ein aufgedunsenes Gesicht, ein dreijähriges Mädchen ohne | |
| Haare spielt Verstecken hinter dem Rock seiner Mutter und quietscht | |
| vergnügt. Wenn Buma kommt, kommen nicht nur Lebensmittel, sondern es kommt | |
| auch Leben ins Melonit. | |
| Die Eltern helfen, das Auto zu entladen: Auberginen, Äpfel, Kartoffeln. | |
| Fleisch. Eierpaletten. Waschpulver. Alles, was zum Leben notwendig ist. Die | |
| Lebensmittel in Israel sind für die Patient*innen unerschwinglich. | |
| Ohnehin müssen die meisten der Familien auf ihr Einkommen verzichten, | |
| während ihre Kinder in Israel in Behandlung sind. Ahmad arbeitet auf dem | |
| Bau, doch jetzt ist er seit vier Monaten mit seiner Tochter hier. Viele von | |
| ihnen kommen jahrelang immer wieder für einige Monate hierher, um die | |
| langwierige Behandlung durchführen zu können. | |
| Hilfe für sie kommt über Inbar aus Kfar Qassem, einer arabisch geprägten | |
| Stadt etwa eine Autostunde entfernt nördlich von Tel Aviv. Vor Jahren rief | |
| die Besitzerin einer lukrativen Transportfirma aus der Stadt den | |
| unermüdlichen Aktivisten an, sagte, sie habe gehört, was er tue, und bot an | |
| zu helfen. Zweimal im Monat zahlt sie seitdem für die Einkäufe für die | |
| Patient*innen. Inbar fährt dann nach Kfar Qassem und lädt das Auto voll, | |
| bis nichts mehr hineinpasst, zuletzt nur noch drei Tüten voll mit | |
| Schokocroissants: „Dorthin passen sie noch“, ruft er vor dem letzten | |
| Geschäft in Kfar Qassem und lässt das Fenster der Hinterbank ein paar | |
| Zentimeter herunter, sodass der Rest der Lebensmittel nicht herausfällt. Es | |
| dürften Lebensmittel im Wert von etwa 3.000 Euro sein. | |
| Neben Bumas Besuchen ist die einzige Ablenkung das gemeinsame Abendessen in | |
| der Sitzecke mit Plastikstühlen. Dort tauschen sie sich aus, erzählen von | |
| ihren Problemen. Etwa wenn der Ehemann einer der Mütter nun in Gaza mit | |
| einer anderen Frau zusammenlebt und nun ein Kind von dieser erwartet. Als | |
| Inbar davon hört, winkt er ab. „Halb so wild. Du bist ja bald wieder zu | |
| Hause“, sagt er zu der Frau und lächelt. Auch das ist Inbar. Probleme | |
| dürfen nicht überhand gewinnen. Als könnte er darin ertrinken, wenn er sie | |
| zu nahe an sich heranlässt. | |
| Man bekommt eine Ahnung, woher diese Philosophie stammt, wenn man ihn über | |
| Yotam sprechen hört – mit erstickter Stimme, jedes Mal wieder. „Wir lieben | |
| Buma“, sagen sämtliche Patient*innen und Eltern zum Abschied in | |
| unterschiedlichen Varianten. Inbar hört das nicht zum ersten Mal. „Gebt mir | |
| das schriftlich, sage ich in solchen Fällen immer“, lacht er: „Für meine | |
| Frau und die Bank. Geholfen hat mir das bisher nicht.“ | |
| In seinem Portemonnaie trägt Inbar immer ein Foto von seinem Sohn mit sich | |
| – gemeinsam mit dessen bestem Freund. Dieser hat sich vier Monate nach | |
| dessen Tod das Leben genommen. In einem Abschiedsbrief soll er geschrieben | |
| haben, die israelische Gesellschaft kümmere sich nicht darum, dass Yotam | |
| gestorben sei. Sie liegen nebeneinander begraben. Zweimal im Monat, wenn | |
| Inbar nach Kfar Qassem fährt, passiert er den Friedhof, auf dem die beiden | |
| liegen. | |
| Der Brief an Rabin existiert nicht mehr. Als Inbar auf der | |
| Friedenskundgebung feststellte, dass Rabin von Sicherheitspersonal umgeben | |
| war und er nicht an ihn herankommen würde, um ihm den Brief zu überreichen, | |
| ging er mit seiner Tochter zurück zum Parkplatz und zerriss den Brief. Zehn | |
| Minuten später hörte er auf dem Heimweg im Autoradio von Rabins Ermordung. | |
| Inbar steigt in sein Auto, um noch weitere Patient*innen aus Gaza in | |
| einem anderen, zwei Kilometer entfernten Teil des Krankenhauses zu | |
| besuchen. Zwei junge Männer aus dem Melonit nimmt er auf der Rückbank mit. | |
| Auf dem Kofferraum seines roten Opels klebt ein Aufkleber: „Der Mensch dem | |
| Menschen ein Mensch“ lautet die Aufschrift. Inbar und die beiden Männer aus | |
| Gaza winken, dann verschwinden sie hinter einer Straßenecke. | |
| 12 Nov 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Judith Poppe | |
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