# taz.de -- Zehnwöchige Online Film-Schau: Verständnis für das Anthropozän | |
> Der Berliner Projektraum Scharaun zeigt online eine kuratierte | |
> Filmauswahl. Im Mittelpunkt steht der Komplex Arbeit. | |
Bild: Laura Horelli blickt in „Helsinki Shipyard“ hinter die Fassade des Kr… | |
Ein sommerliches Feld in der Grafschaft South Yorkshire, relative Weite, | |
und während es anfängt zu nieseln, marschieren Polizisten in langen Reihen | |
und Vollmontur auf. Sturmherzig treten ihnen die Männer in T-Shirt und | |
Jeans entgegen, erst einer, dann alle, mit ausgestreckter, zur Faust | |
geballten Hand. | |
Siebzehn Jahre nachdem im Juni 1984 vor der Kokerei Orgreave 10.000 | |
Bergarbeiter im Streik auf ein Aufgebot von 3.000 Polizisten prallten und | |
TV-Bilder dieser „Schlacht“ bei Millionen Briten den Eindruck von einem | |
ausgebrochenen Bürgerkrieg im eigenen Land hinterließen, drehte [1][der | |
britische Künstler und Turner-Preisträger Jeremy Deller] sein Reenactment | |
„The Battle of Orgreave“ ebenfalls unweit von Sheffield und unter der Regie | |
von Mike Figgis. | |
In dem einstündigen Film, der das zweite Programm von Kino – Siemensstadt | |
zum 1. Mai eröffnete, wird einiges an aufgestauter Emotion freigesetzt: | |
Viele der hier agierenden Kumpel, die zu Wort kommen, waren damals dabei, | |
als der Konflikt zwischen den Gewerkschaften und Premier Margaret Thatcher, | |
die mit ihrer monetaristischen Sparpolitik Bergarbeiter und Kombattanten | |
auf die Barrikaden trieb, in einem blutigen Höhepunkt gipfelte. | |
Dellers Stück im Stream vorgeführt zu bekommen ist ein seltenes Glück, in | |
Dialog gesetzt entfaltete sich besondere Durchschlagskraft. Denn drei | |
weitere Videos waren ebenfalls in der Startwoche im Online-Angebot des | |
Berliner Projektraums Scharaun zum „Komplex Arbeit“ abrufbar. | |
## Chorgesang in der Grube | |
Für „Sounds From Beneath“, einen akustischen Kunst-Kurzfilm, trommelte | |
Filmemacher Mikhail Karikis etwa den Chor ehemaliger Minenarbeiter aus Kent | |
erneut zusammen, um in der Einöde der stillgelegten Zeche eine Art | |
„Gruben-Sound“ zu vokalisieren. Das wirkte urkomisch, dann wieder | |
anrührend. | |
In ihrem Neo-Noir-Stummfilm „The Route“ (2006) indes inszeniert die | |
taiwanische Regisseurin Chen Chieh-jen einen fiktiven Streik, der von der | |
weltweiten Solidaritätswelle inspiriert ist, die Liverpooler Docker in den | |
90er Jahren auslösten. Dramatischerweise wurde diese unwissentlich durch | |
Hafenarbeiter von Kaohsiung am Südchinesischen Meer beendet. | |
Ein frühes Cut-Up-Video von Caspar Stracke, das in einer dadaistisch | |
zuckenden Bilder-Abfolge tägliche Handgriffe abspult, die in der vom Brexit | |
schwer getroffenen Stadt Hull an der Ostküste von Nordengland aufgenommen | |
wurden, rundet den ersten thematischen Block der außergewöhnlichen | |
Streamingreihe ab. | |
Zehn Wochen lang bietet Scharaun ein alle sieben Tage wechselndes Programm | |
auf seiner Website mit jeweils anderem Schwerpunkt frei zugänglich an. | |
Zusammengestellt wurde es von Kurator Olaf Stüber und Jaro Straub, dem | |
Leiter des Ausstellungsraums, der 2017 am Jungfernheideweg 4 im Zeilenbau | |
einzog – also in jenem Haus, das der Architekt Hans Scharoun, seinerzeit | |
zuständig für das städtebauliche Konzept der Großsiedlung Siemensstadt, | |
einst selbst entwarf und über 30 Jahre lang in der dritten Etage bewohnte. | |
## Siedlung als Arbeiterviertel | |
Nach einer Online-Video-Serie zu „Architektur und Stadt“ im letzten Jahr, | |
entwickelt als Antwort auf den Corona-Shutdown von Kunst und Kultur, | |
referiert man nun auf die Siedlung als Arbeiterviertel. Gleichwohl ist | |
„Kino Siemensstadt“ als Hommage zu verstehen, bis Anfang der 60er Jahre gab | |
es in der Nonnendammallee 96 in der Berliner Ringsiedlung, mittlerweile auf | |
der Unesco-Weltkulturerbe-Liste, ein Filmtheater. | |
Auch das cineastische Vierergespann der zweiten Woche lockt und lohnt, | |
spätestens mit ihm wird die aktuelle Wirklichkeit zum Resonanzraum: In Hira | |
Nabis zwischen Traum und realer Praxis changierenden Werk (2019) tritt das | |
Containerschiff „Ocean Master“, um Verständnis für das Anthropozän bemü… | |
in einen Dialog mit Arbeitern der Gardani-Werften in Pakistan. | |
Derweil folgt „The Column“ von [2][Adrian Paci] einem riesigen Marmorblock, | |
erworben in China, der auf der Überfahrt nach Europa um Kosten zu sparen | |
behauen wird, bis er als Skulptur sein Ziel erreicht. Und in „Helsinki | |
Shipyard“ wie in „Port San Juan“, beide von 2003, beleuchtet Laura Horell… | |
was hinter dem schönen Schein der Kreuzfahrtindustrie steckt. | |
## „Arm trotz Arbeit“-Bilanz bleibt gleich | |
Vieles hat sich rasant verändert in den letzten Jahrzehnten, längst wurde | |
die vierte industrielle Revolution eingeleitet, kurz Industrie 4.0. Doch | |
eines hält sich beständig, die prekären Beschäftigungsverhältnisse, die | |
„arm trotz Arbeit“-Bilanz. Dabei böten gerade die neuen Technologien | |
Chancen, würden ungelöste Fragen um soziale Gerechtigkeit nicht weiter auf | |
die lange Bank geschoben. | |
Parallel zum Programm im Web lädt Scharaun Anfang Juni wieder ganz analog | |
in seine Räumlichkeiten nach Berlin ein, und zwar zu „Techno Textiles“. Mit | |
der gleichnamigen Installation aus Slow-Motion-Sequenzen, Fotografien, | |
Diagrammen und mechanischem Beat produziert, knöpft sich die Künstlerin | |
Anette Rose hochtechnologisierte Verfahren vor, die heutige optimierte | |
Arbeitswelten und die Menschen darin fest im Griff haben. | |
11 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Jana Janika Bach | |
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