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# taz.de -- Kultur in der Berliner Großsiedlung: Siemensstädter Schauwerte
> Auch eine Huldigung Hans Scharouns: „Kino Siemensstadt“, die
> Streamingreihe des Projektraums Scharaun, dreht sich um Architektur und
> Städtebau.
Bild: Alles hübsch hier in der Reihe: Still aus Ofir Feldmans Film „Wir Siem…
Berlin taz | Haben Film und Städtebau etwas miteinander zu tun? Natürlich!
Ihre gemeinsame Schnittmenge ist das Kino. Das „Lichtspielhaus“ war lange
Zeit der Vergnügungstempel im lokalem Wohnumfeld und somit eine feste Größe
im Kiez. Und das Kino bot vieles: Es war Treffpunkt, Kommunikationszentrum,
Eheanbahnungsinstitut, Nachrichtenportal und „Couch der Armen“, wie der
französische Psychoanalytiker Félix Guattari die Funktion des Kinos für die
Seele beschrieb.
Im Dunkeln mit Blick auf die Leinwand konnte jedermann die großen Gefühle
durchleben und Leidenschaften gleichsam kathartisch bewältigen, die der
Alltag (nicht) lieferte. Auch deshalb hießen die großen Filmstudios ja
Traumfabriken. Das Kino war eigentlich so unverzichtbar, dass man sich
fragt, was mit einer Gesellschaft passieren wird, die ohne Kino auskommen
soll.
In Siemensstadt gibt es kein Kino mehr. Schon in den 60er Jahren war es
hier mit dem Kino vorbei. Heute beherbergen die einstigen Standorte, ein
Altbau an der Nonnendammallee und der in den 50er Jahren errichtete
Flachbau am Anfang des Jungfernheidewegs, einen Textildiscounter und einen
Lebensmittelmarkt.
Doch, oh Wunder, seit Mai gibt es wieder ein „Kino Siemensstadt“.
Allerdings handelt es sich um kein Kino im klassischen Sinne. Vielmehr
steht der Name für eine Streamingreihe des Projektraums Scharaun. Das
wöchentlich wechselnde, auf der [1][Website von Scharaun] frei zugängliche
Programm behandelt explizit das Thema Architektur und Städtebau.
„Kino Siemensstadt“ ist im Grunde auch eine Reaktion auf den Shutdown wegen
Corona. Die zweieinhalb Zimmer große Wohnung im Zeilenbau am
Jungfernheideweg, die der Künstler Jaro Straub seit 2017 als Projektraum
für Kunst beziehungsweise Gruppenausstellungen verschiedenster Art nutzt,
musste im Frühjahr wegen der Hygieneregeln schließen. Die Aktivitäten von
Scharaun konnten kurzfristig nur im Netz aufrechterhalten werden.
Der merkwürdige Name Scharaun ist übrigens eine Synthese der Wörter
Schauraum und Scharoun. Hans Scharoun hat das Haus gebaut, das Jaro Straub
als Domizil für seinen Projektraum dient. Der Architekt war auch für das
städtebauliche Konzept der Großsiedlung Siemensstadt zuständig. Und nicht
nur das, Scharoun wohnte auch von 1930 bis 1960 in jenem Haus, wo jetzt
Scharaun zu Hause ist.
## Der Geist von Scharoun
Dass Jaro Straub diesen Standort wählte, war ein merkwürdiger Zufall. Auf
der Suche nach einer Wohnung für seine Schwiegermutter verschlug es ihn in
das Scharoun-Gebäude. Es muss dann irgendwie klick gemacht haben. Denn der
Geist von Scharoun war Straub bekannt. Seine Großeltern wohnen in einem
Haus im Süddeutschen, das Chen Kuen Lee, ein enger Mitarbeiter von
Scharoun, ganz im Geiste seines Lehrers und Kollegen konzipiert hat.
Straubs Beziehung zu Scharoun geht so weit, das er den Grundriss der von
ihm genutzten Wohnung zu einer Art Logo für Scharaun gemacht hat. Aber die
subtilen Qualitäten, was Form, Proportion, Materialität, kurz, was die
Wohnlichkeit der Architektur angeht, erschließen sich eigentlich nur vor
Ort. Schließlich gehört das Haus wie die ganze modernistische Architektur
der sogenannten Ringsiedlung in Siemensstadt zum Unesco-Weltkulturerbe. Der
Ring war eine Vereinigung von modern gesinnten Architekten. Sechs davon
(Bartning, Forbat, Gropius, Häring, Henning und Scharoun) kamen bei der
Errichtung der Großsiedlung Siemensstadt (1929–30) zum Zuge.
Der Fokus auf Architektur und Städtebau im Programm von „Kino Siemensstadt“
kommt also nicht von ungefähr. Für die Auswahl der Videos hat Straub sich
mit Olaf Stüber zusammengetan. Galerist und Kurator Stüber ist so etwas wie
der Experte für Videokunst in Berlin, und seine seit 2008 laufende
Filmreihe „Videoart at Midnight“ im Kino Babylon ist eine Institution im
Berliner Kunstbetrieb.
Auch die Auswahl der Filme für „Kino Siemensstadt“ zeigt ausgesprochene
Kennerschaft sowie Sinn für Geschmack und Qualität. Namen wie Anri Sala,
Ofir Feldman, Amie Siegel oder das Duo Korpys/Loeffler standen seit Mai
dafür.
## Hoch gespannte Erwartungen
Für den Rest der Streamingstrecke bis Ende August dürfen daher die
Erwartungen hoch gespannt sein. Filipa César und das Künstlerpaar Nina
Fischer & Maroan el Sani widmen sich zum Beispiel zusammen der Allee der
Kosmonauten, Tobias Zielony und Mario Pfeiffer beleuchten in „Le Vele di
Scampia“ einen modernistischen Betonklotz in Neapel, der wie in so vielen
Fällen zu einer verwahrlosten Problemzone geworden ist.
Besser angenommen und besser situiert ist übrigens eine modernistische
Ikone in Berlin. Es handelt sich um die 600 Meter lange Autobahnüberbauung
(„Die Schlange“) von Architekt Georg Heinrichs in der Schlangenbader
Straße. Knut Klassen und Carsten Krohn werden sich bei „Kino Siemensstadt“
noch ausführlich mit solchen „Architekturskulpturen“ beschäftigen.
Am Ende der Reihe – nachdem 16 Positionen zu Architektur und Städtebau
Revue passiert haben und wenn die Videografen und Kunstfilmer ziemlich
häufig dabei das Für und Wider der Moderne in den Blick genommen haben
werden mit ihrem Anspruch auf Funktionalität, Hygiene und Glück –wird man
sich Folgendes fragen können: Kann der Film überhaupt ein so handfestes
Thema wie Architektur fassen? Und überdies: Können Streamingangebote, so
sehr sie inhaltlich für Qualität stehen mögen, das analoge Erlebnis Kino
ersetzen? Vielleicht wird man wie Schauspieler Ulrich Matthes als Präsident
der Deutschen Filmakademie kürzlich in einer Forderung an die Politik zu
dem Schluss kommen, dass man das Kulturgut Kino nicht sterben lassen darf –
schon gar nicht wegen Corona.
11 Jul 2020
## LINKS
[1] https://www.scharaun.de/
## AUTOREN
Ronald Berg
## TAGS
Siedlungsbau
Weltkulturerbe
Projekträume Berlin
Kunst
Film
Jubiläum
Architektur
Siemens
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