# taz.de -- Die „Rückkehr“ von Siemens: Hier landet (k)ein Ufo | |
> Der Konzern hat seine Rückkehr nach Berlin angekündigt. Als Erstes dürfen | |
> junge Start-ups ihre Ideen entwickeln. In den Werken aber geht weiter die | |
> Angst um. | |
Bild: Sieht spacig aus, ist aber nur der Lüftungsschacht der U7 an der Station… | |
Um Arbeiternähe zu demonstrieren, gab Adolf Hitler bei der Reichstagswahl | |
1933 seine Stimme in Siemensstadt ab. Rund 50.000 Menschen schraubten und | |
werkelten damals in den Berliner Siemens-Fabriken. Davon ist heute nicht | |
mehr viel übrig. Vereinzelte Werke sind zwar noch in Betrieb, aber | |
kontinuierlich von Abbau- und Schließungsplänen bedroht. Siemens in Berlin | |
ist seit vielen Jahren vor allem ein Phantom. | |
Das soll sich ändern. Bis 2030 will der Technologiekonzern auf seinem | |
Gelände einen Forschungs- und Entwicklungscampus für die vollautomatisierte | |
Industrie 4.0 entstehen lassen. Als erster Antworthappen auf die Frage, wer | |
künftig in Berlin wieder unter dem Label Siemens arbeiten wird, wurde im | |
März medienwirksam ein Coworking Space für Start-ups eröffnet. Das „A32 | |
Entrepreneurs Forum“ ist eine Kooperation zwischen Siemens und der | |
Hochschule für Wirtschaft und Recht, bei der GründerInnen mietfrei eine | |
Bürofläche zur Verfügung gestellt bekommen und Coaching für | |
UnternehmerInnen erhalten. | |
Die ehemalige Fabrikhalle auf dem Gelände des Dynamowerks am Rohrdamm ist | |
jetzt minimalistisch-funktional mit Schreibtischinseln samt Regalen aus | |
Spanholzplatten eingerichtet. Gelbe Markierungen auf dem Boden erinnern an | |
ein Flugzeugterminal. Bis zu einem Jahr dürfen sich die GründerInnen in spe | |
hier aufhalten und an der Umsetzung ihrer Ideen arbeiten. Wer von den | |
Start-ups ausschließlich Ideen zu E-Mobility, Upcyclingprojekten oder | |
weiteren Onlinemarktplätzen erwartet, liegt fast richtig. | |
Eine unkonventionellere Geschäftsidee verfolgen die Zwillingsbrüder Enzo | |
und Sandro Arnakis samt Schulfreund Tobias Czorny. Unter dem Namen | |
„herbandmango“ möchten sie ein Kartenspiel mit Cannabisthematik | |
herausbringen, um den medizinischen und wirtschaftlichen Nutzen von | |
Cannabis stärker zu popularisieren. Denn sie rechnen damit, dass der | |
Cannabiskonsum in den nächsten zehn Jahren gesetzlich erlaubt sein wird, | |
und wollen sich schon jetzt am Markt positionieren, um später andere | |
Lifestyleprodukte rund um das Kraut zu vertreiben. | |
## Kein Zweifel am eigenen Erfolg | |
Den drei 25-Jährigen ist die Hingabe deutlich anzusehen. „Wir arbeiten von | |
acht bis acht“, erzählt Enzo Arnakis. „Und am Wochenende geht es in unserer | |
gemeinsamen Weißenseer Wohnung mit Brainstorming weiter“, ergänzt Tobias | |
Czorny. Daher ist an Zerstreuung im Berliner Nachtleben aktuell nicht zu | |
denken. Die drei leben minimalistisch, weil die finanziellen Mittel aus | |
Erspartem, Nebenjobs und kleineren Krediten schmal sind – „wir essen oft | |
Haferflocken“, bekennt Sandro Arnakis. Angst, zu scheitern, haben sie | |
nicht: „Wir zweifeln keine Sekunde am Erfolg.“ | |
Direkt gegenüber dem A32, auf der anderen Straßenseite des Rohrdamms, liegt | |
das „Rohreck“, eine kleine verrauchte Kneipe, in der sich | |
Siemens-ArbeiterInnen ihr Feierabendbier gönnen. Einer von ihnen ist seit | |
seiner Elektrikerlehre für Siemens tätig, wie er erzählt. Er habe in seiner | |
langjährigen Laufbahn einige Umstrukturierungen erlebt und zum Thema | |
Siemens „nicht so nette Sachen zu sagen“. Seinen Namen möchte er deshalb | |
nicht verraten. | |
Der Mann arbeitet im Dynamowerk, dessen komplette Schließung durch Proteste | |
im September 2018 verhindert werden konnte. Nun soll der Personalstand bis | |
September von 700 auf 300 MitarbeiterInnen reduziert werden. Insgesamt | |
arbeiten noch rund 11.000 Menschen bei Siemens in Berlin. | |
Der Elektriker sagt, ihn frustrierten die „Ausräucherung von | |
Kernkompetenzen“ und die Aussicht, dass „Berlin bald keine Bauteile mehr | |
herstellen, sondern nur noch die Maschinen zusammenschrauben und | |
anschließend das Schild Siemens draufkleben wird“. Schon jetzt nähmen die | |
Auslagerungsprozesse absurde Ausmaße an: „Wir haben einer italienischen | |
Firma einen Auftrag für eine Motorwelle erteilt. Das schien bei denen nicht | |
geklappt zu haben, also gaben sie es an eine dritte Firma weiter. Diese | |
wusste allerdings nicht, für wen sie diese Welle bauen sollte, und fragte | |
prompt bei uns an!“ | |
## „Industriearbeit ist zu teuer geworden“ | |
Wie es weitergehen soll, weiß er auch nicht. Das Dynamowerk habe in den | |
vergangenen Jahren rund 40 Millionen Euro Minus gemacht, was vor allem an | |
den hohen Löhnen liege. Der Arbeiter, der nach eigener Aussage „noch“ um | |
die 4.000 Euro brutto verdient, bilanziert nüchtern: „Industriearbeit ist | |
in Deutschland einfach zu teuer geworden.“ | |
Auf die Frage, was er unternehmen wird, falls er mit einem | |
Auflösungsvertrag konfrontiert wird, kokettiert er: „Wenn die mir | |
verkünden, dass es meinen Arbeitsplatz bald nicht mehr gibt, werde ich | |
antworten: ‚Sie haben ein Problem. Sie wollen was von mir, Sie müssen ein | |
Angebot machen. Wenn ich das nicht gut finde, gehe ich wieder.‘ “ | |
Diesen Schneid besitzen jedoch nicht alle, sagt er selbst. Viele seiner | |
KollegInnen hätten einen Burn-out, weil sie den seit Jahren aufgebauten | |
psychischen Druck nicht mehr aushielten, der durch nicht entlohnte | |
Überstunden, Mehrarbeit und die ständige Ankündigung von Arbeitsplatzabbau | |
und Auslagerung entstanden ist. | |
Der ergraute Dynamowerkarbeiter kippt den Rest seines Biers runter, blickt | |
durch das Fenster in Richtung A32. und spöttelt: „Die jungen Leute sind auf | |
jeden Fall eine Bereicherung und werden die Stadt quirlig machen. Allemal | |
besser als blöde Fabrikarbeiter.“ | |
Mehr zum Thema: Was Siemens auf seinem Campus plant und was die | |
Siemensstädter dazu meinen, lesen Sie am Wochenende in der taz.Berlin. An | |
ihrem Kiosk oder als E-Paper. | |
26 Apr 2019 | |
## AUTOREN | |
Katharina Schmidt | |
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