# taz.de -- Michael Müllers Neujahrsansprache: Zum Jahreswechsel ein Kniefall | |
> Der Regierende Bürgermeister wendet sich per Videobotschaft an die Stadt | |
> – und verfällt dabei in vorauseilende Demutsgesten. | |
Bild: Kommt das jetzt missverständlich rüber? Hoffentlich nicht! (Michael Mü… | |
Als es winters noch schneite und sommers regnete, als Leserbriefe und | |
Schwarze Bretter die einzigen social media waren, galten | |
TV-Neujahrsansprachen als Event. Der Faux-pas der ARD, die am 31.12.1986 | |
die Aufzeichnungen vertauschte und Helmut Kohls warme Worte vom | |
Silvesterabend 1985 noch einmal sendete, bereicherte den Legendenschatz | |
einer Generation. | |
Heute kräht kein Hahn mehr nach diesen vor Bücherwänden vom Teleprompter | |
abgelesenen Stanzen. Was vielleicht daran liegt, dass kaum noch jemand | |
fernsieht. Die Frage „Hat jemand die [1][Neujahrsansprache von Michael | |
Müller] gesehen?“ erntete in der Redaktionsrunde Schulterzucken und die | |
Nachfrage: „Wie, der hält auch eine?“ | |
Ja, tut er, wie jedes gute Landesoberhaupt. Und weil unser Regierender | |
mittlerweile social-media-tauglich ist und in schneller Schlagzahl Twitter, | |
Facebook, Instagram und Youtube befüllen lässt (Müller trifft Simon Rattle! | |
Müller gratuliert Howard Carpendale! Müller serviert Frank Zanders | |
Gänsekeule!), konnten wir seinen Vierminüter auch am Tag nach Neujahr noch | |
auf uns wirken lassen, als sei er gerade erst versendet. | |
Allen, die ihn auch verpasst haben, sei versichert: Müller sieht gut aus, | |
die Hornbrille sitzt noch wie angegossen. Den Hintergrund hat sein Team | |
sorgfältig gestaltet: abstrakte Kunst bildet ein Gegengewicht zum | |
staatstragenden Dreiklang aus Europa-, Deutschland- und Berliner Flagge, | |
Lokalpatriotismus (Buddy-Bärchen) wird durch eine Prise Privates | |
(Familienfotos) aufgewogen. | |
Allein die Rede ist irritierend defensiv: „Liebe Berlinerinnen und | |
Berliner“, hebt Müller an, „2018 war mal wieder ein ereignisreiches Jahr | |
für uns.“ So weit, so trivial. „Ja, wir leben gerne in Berlin. Millionen | |
Menschen besuchen unsere Stadt. Weil Berlin anders ist.“ Und dann, nach | |
wenigen Sätzen, ein Kniefall: „Aber Sie und ich wissen: Vieles muss noch | |
besser werden. Daran arbeiten wir. Und auch ich hatte gehofft, dass vieles | |
schneller geht.“ | |
## Ja, ja, ich weiß | |
So geht das eine Weile auf und ab. Leider fehlen U-Bahnen, aber sie sind ja | |
schon bestellt. In den Ämtern sind noch viele Stellen unbesetzt, aber der | |
Service ist ja schon besser. Klar, die Baustellen nerven, aber wenn gebaut | |
wird, ist das doch gut. Oder umgekehrt: Es gibt so viel Wachstum und Arbeit | |
wie lange nicht, aber „ich weiß, der Erfolg macht Berlin auch teurer“. | |
Es folgen Verweise auf neue Wohltaten (kostenloses Schülerticket), Chancen | |
und Gefahren der Digitalisierung, die Unverträglichkeit von Hass und | |
Diskriminierung mit der Freiheit und Vielfalt sowie die 600 Millionen, die | |
Siemens investieren will. Die Wünsche am Ende kommen „von Herzen“, und doch | |
bleibt das Bild eines Regierenden hängen, der mit dem Rücken zur Wand steht | |
(obwohl er sitzt) und lieber gleich die andere Wange hinhält. | |
Wie anders [2][Brandenburgs Landesvater in seinem Filmchen]: Dietmar Woidke | |
steht tatsächlich – vor einer Flusslandschaft mit Kirchturm – und sagt, | |
wenn auch unter weitgehendem Verzicht auf rhetorische Modulation: „Unser | |
Land hat sich in den letzten Jahren hervorragend entwickelt.“ Es sei „ein | |
sicherer Heimathafen in den Stürmen unserer Zeit“. Und auch wenn die großen | |
2018er Waldbrände „einiges zerstört“ hätten, „haben sie zugleich das | |
Wichtigste gestärkt, was wir in Brandenburg haben: unseren Zusammenhalt“. | |
Von so viel Selbstvertrauen könnte sich Michael Müller eine Scheibe | |
abschneiden. Und am Ende der gerade beginnenden Sonnenumrundung sagen: „Ist | |
doch toll, wenn unsere U-Bahnen so voll sind, dass Ihre Nase unter der | |
Achsel des Nebenmanns steckt – wir BerlinerInnen konnten uns schließlich | |
schon immer gut riechen!“ | |
2 Jan 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.rbb-online.de/fernsehen/programm/01_01_2019/10713827482.htm/fro… | |
[2] https://www.rbb-online.de/fernsehen/programm/01_01_2019/10713827481.htm/fro… | |
## AUTOREN | |
Claudius Prößer | |
## TAGS | |
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Siemens | |
Katrin Lompscher | |
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